Bergkarabach: Die historischen Hintergründe des aktuellen Konflikts

Die Geschichte der autonomen Region Bergkarabach ist wohl endgültig Geschichte. Der Zankapfel zwischen Armenien und Aserbaidschan hat stets das fragile Gleichgewicht im Kaukasus gefährdet. Russland wird Armenien wohl nicht ganz fallen lassen. Wohltemperierte Unzufriedenheit wird Scharmützel und möglicherweise einen weiteren Waffengang in die Länge ziehen.

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Bergkarabach: Die historischen Hintergründe des aktuellen Konflikts

Ein Armenier mit der Fahne seines Heimatlandes.

© IMAGO / ZUMA Wire

Berg „Schwarzer Garten“ oder in der Sprache der Turkvölker: Bergkarabach. Eine Region, in welcher Ares und seine Söhne Deimos und Phobos blutreiche Ernte im Schwarzen Garten eingefahren haben. Wenig überraschend angesichts der ethnischen Vielfalt in dem Gebirge zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer, welches wir den Kaukasus nennen. Armenier, Skythen, Makedonier, Perser, Römer, Parther, Byzantiner, Sassaniden, Osmanen, Russen und viele weitere wechselten einander im Kampf um Einflusssphären und Lebensraum ab und hinterließen ein Sammelsurium an Sprachen, Religionen und Traditionen. Naturgemäß verkompliziert wurde die Lage durch üppige Öl- und Gasfunde.

Im Triangel der Vielvölkerreiche des Zaren, des Sultans und des Schahs geriet das Gebiet Bergkarabach im Zuge des dritten Russisch-Persischen Kriegs 1805 unter russische Herrschaft. Dies hinderte die Untertanen des Zaren jedoch nicht daran, sich in einer Abfolge von Pogromen und Gegenpogromen gegenseitig zu bekriegen. Wie das in einer Weltgegend fernab der Zentren, geprägt von Sippenhaftung und Blutrache, vorkommen kann.

Nach dem Einzug des roten Zaren in den Kreml wurden die im Chaos des russischen Bürgerkrieges kurze Zeit unabhängigen Staaten als armenische Sozialistische Sowjetrepublik und als aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik wieder im Orbit Moskaus verankert. Bergkarabach verblieb als autonomes Gebiet der aserbaidschanischen SSR mit einer armenischen Mehrheit von 75 Prozent. Gegenseitige Ansprüche versiegten ebenso wenig wie gegenseitige Übergriffe.

Mit dem Zerfall der Sowjetunion wurden die vormals 15 Sowjetrepubliken in die Wirren von Freiheit und Unabhängigkeit entlassen, mitsamt ethnischen, religiösen und kulturellen Gegensätzen, einer Büchse der Pandora gleich. Bereits ab 1988 drohte ob der Frage Bergkarabach ein akuter innersowjetischer Konflikt, der durch ein Sonderkomitee des Zentralkomitees der KPdSU gelöst werden sollte. Innenministerium und Rote Armee übernahmen die direkte Kontrolle – ähnlich wie die British Army im Streit zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland. So zumindest die Absicht.

Denn bereits vor der offiziellen Unabhängigkeit von Armenien und Aserbaidschan mussten in Teilen Kriegsrecht und Ausnahmezustand verhängt werden. Der Ausbruch eines offenen Krieges um Bergkarabach schien lediglich eine Frage der Zeit. Die Soldaten der Roten Armee, Wehrpflichtige aus anderen, fernen Sowjetrepubliken, wollten nur rasch und heil nach Hause kommen. Wer wusste schon, welches Chaos dort womöglich herrscht? Zudem bot sich die Gelegenheit, den ausstehenden Sold durch den Verkauf von Ausrüstungsgegenständen zu kompensieren. Nicht immer gegen Bargeld, oft auch gegen Naturalien wie Wodka.

Wettlauf um die Erbmasse der Roten Armee – Nuklearwaffen inklusive

In diesem Wettlauf um die Erbmasse der Roten Armee hatte Aserbaidschan die besseren Karten. Immerhin waren dort fünf Divisionen stationiert, fünf Flugplätze vorhanden und 10.000 Eisenbahnwaggons mit Munition. In Armenien, wo angesichts eines möglichen Einmarsches der NATO von der Türkei aus, weniger Truppen konzentriert waren, musste man sich mit lediglich drei Divisionen, 500 Waggons Munition und keinem Flugplatz begnügen.

Der internationale Schwarzmarkt bot die Möglichkeit, Versorgungslücken zu schließen, vor allem im Hinblick auf modernes, westliches Gerät. Hinzu kam die Rekrutierung von Experten und Söldnern aus der sich auflösenden Roten Armee. Viele suchten ihr Soldatenglück auch bei der Fremdenlegion oder privaten Militärfirmen in Afrika. General Anatoli Sinewitsch zog es vor, Ordnung in das Chaos der neuen armenischen Armee zu bringen und leitete bis 1997 den Planungsstab.

Schließlich galt es, eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus Regulären der Armee, Mitgliedern der „Armee“ der De-facto-Republik Bergkarabach, jesidischen und assyrischen Freiwilligen sowie den nicht nur martialisch klingenden Kämpfern der Kuban-Kosaken und der Osseten zu einem funktionierenden Ganzen zu formen. Ähnlich herausfordernd müssen die Bemühungen auf aserbaidschanischer Seite gewesen sein. Dort traten Graue Wölfe, tschetschenische Freiwillige, Hazara-Freiwillige und Mudschaheddin an die Seite der neu aufgestellten regulären Armee. Vor diesem Hintergrund scheiterte der vorangegangene Versuch Bakus, sich der gelagerten taktischen Nuklearwaffen der Roten Armee zu bemächtigen.

Beide Seiten konnten in etwa 40.000 Mann mobilisieren. Aufgrund des Vorsprungs der Aserbaidschaner bei Waffen und Gerät sowie der durch die Öleinnahmen gesicherten Logistik gerieten die Armenier im Jahr 1992 zusehends in die Defensive. Zur Aufrechterhaltung des fragilen Gleichgewichts im kaukasischen Vorhof – die Tschetschenienkriege zeichneten sich bereits ab – belieferte Russland die Armenier mit Waffen im Wert von einer Milliarde Dollar. Der russische General Lew Rohlin beschrieb die Stimmung unter den Verbündeten folgendermaßen: „Geld, persönliche Kontakte und jede Menge Wodkas.“

Umgekehrt führten die Rückschläge im Jahr 1993 zu einer innenpolitischen Destabilisierung in Aserbaidschan. Ein zum Oberst degradierter Brigadier setzte seine Hüseynov-Brigade zum „Marsch auf Baku“ in Gang. Es erfolgte eine außerplanmäßige Beförderung zum Premierminister. Die neue Regierung konnte diplomatische Erfolge erzielen – Aserbaidschan wurde Mitglied der GUS und die UNO weigerte sich, die Republik Bergkarabach anzuerkennen –, doch die Armenier schufen militärische Fakten und eroberten weitere Gebiete.

So erfolgte am 12. Mai 1994 die Unterzeichnung eines Waffenstillstandes. Es kam zu keiner de jure Anerkennung des Status quo, jedoch zu einer de facto Akzeptanz der Republik Bergkarabach. Die Bilanz: 6.000 Gefallene, 20.000 Verwundete, 4.000 getötete Zivilisten und 300.000 Vertriebene auf armenischer Seite. Der aserbaidschanische Blutzoll belief sich auf 11.600 Gefallene, 20.000 Verwundete, 4.200 Vermisste, 16.000 getötete Zivilisten und 725.000 Vertriebene.

Ouvertüre des Drohnenkriegs in der Ukraine

Nach einem Vierteljahrhundert an Scharmützeln und Nachrüstung nutzte Aserbaidschan die Gelegenheit zur Revanche im Jahre 2020, zur zwischenstaatlichen Blutrache sozusagen. Im Zuge des Nachrüstungsverfahrens belieferte Russland beide Seiten – Armenien zum Vorzugspreis. Dmitri Medwedew nahm diesbezüglich einen pragmatischen Standpunkt ein: Wenn wir nicht liefern, liefern andere.

Was dann dennoch der Fall gewesen ist. Vor allem Israel und die Türkei bauten mit Aserbaidschan eine Rüstungskooperation für den Export von Loitering-Munition bzw. -Weapons (sogenannte Kamikaze- oder Einwegdrohnen) und TB2-Drohnen auf. Zusätzlich entsandte die Türkei syrische Söldner der Hamza-Brigade und der Sultan Murad Division. Diese hatten mit 540 Toten bei 2.580 Kämpfern einen vergleichsweise hohen Blutzoll zu entrichten. Die reguläre aserbaidschanische Armee hatte 2.900 Gefallene zu beklagen, auf armenischer Seite waren es 3.800. Die Verluste unter der Zivilbevölkerung waren mit 90 bzw. 46 Toten und 40.000 bzw. 90.000 Vertriebenen um ein Vielfaches geringer als im ersten Krieg um Bergkarabach. Dies dürfte zum einen auf die Kürze der Auseinandersetzung vom 27. September bis zum 10. November des gleichen Jahres zurückzuführen sein, während der erste Krieg von 1992 bis 1994 dauerte. Zum anderen trugen moderne Präzisionswaffen und Aufklärungsmittel zur Vermeidung von Kollateralschäden bei.

Jedenfalls konnten internationale Beobachter im Südkaukasus das Vorspiel zum Drohnenkrieg in der Ukraine beobachten. Beide Seiten verfügten über vergleichbare „Hardware“, die „Software“ der Aserbaidschaner war jedoch um ein oder zwei „Upgrades“ moderner. Mithilfe der TB2-Drohnen wurden mindestens 567 Bodenziele erfolgreich bekämpft, bei den Loitering Weapons waren es 74. So verloren die Armenier 255 Panzer vom Typ T-72 und die Aserbaidschaner 52 T-72 und 10 T-90, ein Verhältnis von vier zu eins. Beide Seiten büßten jeweils eine SU-25 Frogfoot und einen Mi-8 Kampfhubschrauber ein. Gleichzeitig wurden 39 SAMs (Boden-Luft-Abwehr-Raketensysteme) der Armenier und nur eine SAM der Aserbaidschaner zerstört. Dies geschah vor allem mithilfe veralteter Antonow An-2, die zu Drohnen umgebaut wurden und als Täuschkörper zum Aufspüren der SAMs dienten. Wenn jedoch beide Seiten über genügend „Software“ verfügen, kommt es zu einem verlustreichen Patt bei der „Hardware“, wie es in der Ukraine zu beobachten ist.

Erst als Russland in den letzten Kriegstagen Orlan-10-Drohnen und Krasukha-4-Störsysteme einsetzte, konnten die Aserbaidschaner keine ausreichende Aufklärung mehr betreiben, da ihre Systeme durch die russische EloKa (elektronische Kampfführung) gestört wurde. Der Abschuss eines Mi-24 Kampfhubschraubers der russischen Streitkräfte ließ eine weitere Eskalation befürchten und ebnete schnell den Weg zum Waffenstillstand.

Russland ist bemüht, das zerbrechliche Gleichgewicht in seiner Einflusssphäre auszubalancieren und hält den Kaukasus in wohltemperierter Unzufriedenheit, wie einst Kaiser Franz Joseph seine Völker und Parteien. So dürfte die kommende Revanche eher wieder den Armeniern zufallen. Obwohl die Armenier eines der ältesten christlichen Völker sind, musste unter den orthodoxen Kirchenkuppeln des Kreml auch auf die Interessen des schiitischen Turkvolkes der Aserbaidschaner Rücksicht genommen werden; dies mit Blick auf die weiteren Dutzend Millionen Muslime in Russland selbst wie in den Einflusszonen Zentralasiens – und nicht zuletzt auch mit Blick auf die Gas- und Ölvorkommen, an denen es Armenien mangelt.

Über den Autor

Gert Bachmann

Stellenausschreibugn - AfD Sachsen

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