Charkow: Wenn sogar der Krieg in den Hintergrund rückt
Simon Veblen mit einem Stimmungsbild aus dem Osten der Ukraine.
Kleinere und noch viel weniger die großen Feste gehen in Osteuropa nie ohne Glanz und Pomp vonstatten. In Charkow, der zwei Millionen Einwohner-Stadt knappe 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, hielt man dies zu Neujahr und Weihnachten nicht anders. Nach einer verheerenden Corona-Welle feierte man hier ins neue Jahr – welches im orthodoxen Kalender noch vor Weihnachten am 7. Januar kommt.
Die beiden Boulevards Puschkinsskaya und Sumska bilden über mehrere Kilometer Länge das Stadtzentrum mit riesigen Christbäumen aus Kunststoff, Cafés, Clubs und schneebedeckten Parks. Beide sind trotz der eisigen Temperaturen voll mit Leuten.
Am Neujahrsabend tummeln sich hier mehr Studenten aus Bangladesch, Indien und Nigeria als Ukrainer auf ihnen. Neben dem ukrainischen Zentrum der Schwerindustrie ist Charkow nämlich auch noch internationale Studentenstadt. Auch junge Ukrainerinnen wandeln in dicken Pelzmänteln durch die Straßen, wie man sie hierzulande fast nur von älteren Damen kennt, die in die Oper gehen. An jeder Ecke säuselt ein Weihnachtsklassiker aus den Lautsprechern, in den Restaurants und Cafés laufen die Songs in Dauerschleife.
Auf dem Freiheitsplatz, dem größten Truppenparadeplatz der ehemaligen Sowjetunion, drängten sich am 31. Dezember die Menschen zwischen einem kleinen Freizeitpark, Glühweinständen und Shawarma. 2014 hatte es hier noch Krawalle zwischen pro-russischen Demonstranten und ukrainischen Nationalisten gegeben. Doch obwohl die beträchtliche Mehrheit der Bevölkerung Russisch spricht, konnte man sie nicht für die Unabhängigkeit mobilisieren wie in den benachbarten Regionen Lugansk und Donetsk. Stattdessen stürmte ein überschaubarer Trupp ein Charkower Theater im Glauben, dass es sich um ein Regierungsgebäude handelte. Noch heute zeugt eine kleine Galerie und eine ausgestellte Rakete, die während des Konfliktes in der Ostukraine hier eingeschlagen war, vom Konflikt. Ansonsten blieb es in der Stadt in den vergangenen Jahren immer von Unruhen verschont.
Kontraste prägen das Stadtbild
Die poppige bunte Weihnachtsdekoration, die in allen Farben leuchtet, bildet einen krassen Gegensatz zu den oft tristen Straßen, oftmals klaffen hinter den Fassaden alte und baufällige Hinterhöfe aus den Eingangstoren hervor.
Lediglich die modernen Filialen diverser Restaurant- und Café-Ketten leuchten auch zu Zeiten außerhalb der Festtage heraus zwischen den klobigen Bauten der Zeiten des Kommunismus. Die Temperaturen sind nachts unter dem Gefrierpunkt, im Wechselspiel mit dem Tauwetter während der Mittagszeit verwandeln sie die Straßen und Gehwege oft in knöcheltiefe Teiche voller Eiswasser und spiegelglatte Eispisten. Mancherorts kümmern sich die Mitarbeiter von Geschäften mit einem Eispickel um die Beseitigung des Eises, doch hilft dies bei weitem nicht flächendeckend.
Auch hier rollte von November bis Dezember eine COVID-Welle durch das Land mit bis zu 700 Toten täglich. Doch reagierte die Regierung nicht mit einem Lockdown, und während in Österreich die Bevölkerung zu Neujahr um 22:00 Uhr ins Bett geschickt wurde, blieben hier sogar die Kaufhäuser über die Feiertage bis spät in die Nacht offen. COVID-Maßnahmen, sofern sie existieren, werden als Handlungsempfehlung wahrgenommen. Lediglich McDonalds kontrolliert konsequent Impfzertifikate. Weder das Zugpersonal in den Intercitys oder Sicherheitsleute in den Kaufhäusern kümmern sich um die Einhaltung einer Maskenpflicht oder der Kontrolle von Regeln.
In Nikolski, einem vierstöckigen Shoppingtempel mit internationalem Kino, tummeln sich selbst am orthodoxen Weihnachtsabend am 6. und 7. Jänner die Menschen. In langen Trauben zwischen Nike- und Adidas Shops. Das Eingangsfoyer wird dominiert von einem glänzenden DS7 Crossback des französischen Luxusautomobilherstellers DS. Neben dem I-Phone als Statussymbol hat längst auch der chinesische Smartphone-Hersteller mit seinen Hightech Geräten den ukrainischen Markt für sich entdeckt und schaltet großflächige Werbekampagnen – mit dem halben Preis sind diese für viele Menschen hier erschwinglicher als die Konkurrenzprodukte aus dem Westen. Überhaupt wird hier außer Mode und Technik nicht viel angeboten.
Die Gastroszene wird dominiert von Ketten, die Lviv Croissant, einer Bäckereikette; Suschija, das Sushi anbietet oder Mafia, die sich eher auf Italienisch spezialisiert hat. Mit Frau Müller schaffte es sogar ein Lokal mit zünftiger bayrischer Küche, wie frittierten Schweinsohren, in die Gastroszene. Der Stadtteil Neu-Bayern wurde auch von deutschen Auswanderern gegründet und beherbergt bis heute eine Brauerei nach deutschem Reinheitsgebot.
Ein Leben ohne Corona und Geopolitik
Trotz Annäherung der Ukraine an den Westen und die Europäische Union kam hier draußen noch nicht sehr viel von deren Segnungen an. Dennoch sind viele Einheimische stolz darauf, ausländischen Besuchern Starbucks nachempfundene Coffeeshops etwa Aroma Kava oder zahlreiche Hamburger- und Sushi-Lokale präsentieren zu können. Zwar fehlen die Einwanderer, die den Speisen anderswo das Gütesiegel der Authentizität verleihen, stattdessen springen junge Ukrainerinnen und Ukrainer (oft nach ihrem Studium) ein und versuchen eine passende Atmosphäre nachzuempfinden – allzu oft merkt man, dass man erst am Beginn der Professionalisierung im Dienstleistungssektor steht. Wieder andere ahmen lieber alternative und subversive Lebensstile nach und versuchen gar nicht erst, alles richtig zu machen. Wie Alex, der als Barmann in einer subversiven Rockbar in seinem Element aufgeht. Die Bar hat es zum Anlaufpunkt für die wenigen westlichen Ausländer in der Stadt geschafft, die sich hier mit Ukrainern mischen, die von den Entwicklungen außerhalb des Landes erfahren wollen. Am Weihnachtsabend konnte er eine ukrainische Band gewinnen, die in der schummrigen Kneipe mit seinem versteckten Rauchersalon aufspielte.
Weder hier noch sonst wo in den Straßen drückt jemand seine Sorgen über die 100.000 russischen Soldaten aus, die nur 40 Kilometer an der Grenze entfernt stehen und die internationale Presse zum Rotieren bringen. Nicht einmal COVID, das hier auf ein besonders schwach aufgestelltes Gesundheitssystem trifft, in dem Ärzte gerade einmal 300 US-Dollar im Monat verdienen, scheint für die Ukrainer ein besonderes Ereignis zu sein. Eher wie das eisige Wetter, dem man auch nur trotzen, aber nicht beeinflussen kann. Kaum jemand mag sich darüber unterhalten, stattdessen gibt man sich mit stoischer Ruhe dem Konsum und den anstehenden Festen hin, wenngleich man unter der Oberfläche das Gefühl der Unsicherheit an den Menschen nagen fühlt, nicht für die Zukunft planen zu können.
Weitere Fotos:
Nach Bürgerkrieg und COVID – droht der Ukraine mit Thomas Anders die nächste Katastrophe? (c) privat