Die Ambivalenz des Michail Gorbatschow
Am 30. August verstarb der letzte sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow in Moskau. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Martin Reichardt plädiert in seinem Nachruf für einen differenzierten Blick auf den großen Staatsmann Gorbatschow.
Das deutsche Volk hat, so viel ist klar, Michail Gorbatschow viel zu verdanken. Hätte ein anderer Mann an seiner Stelle gesessen, ein orthodoxer Kommunist etwa, vielleicht einer von der Sorte jener Dogmatiker, die im Jahre 1991 noch gegen ihn putschten – die deutsche Einheit wäre vermutlich so nicht vorstellbar gewesen, jedenfalls nicht in der Form, in der wir sie erlebt haben. Allein jene Ereignisse in den Monaten vor seinem Rücktritt im Dezember desselben Jahres machen noch einmal deutlich, welcher Mut dazugehörte, als Gorbatschow unbeirrbar seinen Kurs von „Perestroika“ und „Glasnost“ gegen äußerste Widerstände in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) durchzog. In seiner eigenen Heimat wurde es ihm nicht gedankt: Bis heute wird ihm vorgeworfen, schuldig zu sein am Zusammenbruch der UdSSR und damit an dem, was Waldimir Putin als die größte geopolitische Katastrophe seines Landes im 20. Jahrhundert ansieht.
So viel steht fest: Gorbatschow war eine durchaus ambivalente historische Figur und ein Mann mit durchaus differenzierten Ansichten, dessen Tod nach einer ebenso differenzierten Würdigung verlangt. So wie er die Angliederung der Krim an Russland im Jahre 2014 als „Moment des Glücks“ feierte und sich in dieser Frage unmissverständlich und öffentlich hinter Präsident Putin stellte, so soll er 2022 in privatem Kreise deutlich gegen den russischen Krieg in der Ukraine Stellung bezogen haben. In jedem Fall haftet Gorbatschows Tod ausgerechnet in eben diesem globalen Schicksalsjahr 2022 ein tragisches Element an: Der Mann, der maßgeblich an der Beendigung des Kalten Krieges beteiligt war, stirbt ausgerechnet in dem Jahr, in dem er faktisch zurückkehrt – und das in so scharfer und gefährlicher Weise wie seit der Kuba-Krise im Jahre 1962 nicht mehr. Man kann sich vorstellen, dass die Ereignisse seit dem 24. Februar dieses Jahres für den Reformer Gorbatschow, dessen Mut ganzen Völkern den Freiheitskampf mit ermöglichte, in seinen ohnehin schweren letzten Monaten ein herber Schlag gewesen sein müssen.
Kritiker des Krieges in der Ukraine
Unangemessen wäre es, angesichts der politischen Person und Rolle Gorbatschows in unkritische Beweihräucherung zu verfallen: Noch 2020 bekannte er sich mit flammenden Worten zum Kommunismus, pries Lenin gar als „unseren Gott“. Keine Frage: Gorbatschow war ein (sehr) Linker, ein eher sozialdemokratisch-reformistisch orientierter Linker zwar, aber doch eindeutig verortet im marxistischen politischen Spektrum, mit recht kritischem Blick auf konservative Akteure und deren Denken. Und doch hatte er als solcher vielen seiner heutigen „Genossen“ im Westen vieles voraus: Ein freiheitliches Bewusstsein, das, auch so viel lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, viele Linke und Linksliberale aus der „Woke“-Ecke am liebsten eher heute als morgen beerdigen würden. Jene in Deutschland, die in den letzten zweieinhalb Jahren bis heute fleißig dabei waren und sind, wenn es darum geht, den Menschen unter fadenscheinigen Vorwänden Grundrechte zu entziehen, haben eben jene Freiheitlichkeit mit Füßen getreten, für die auch ein Michail Gorbatschow als progressiver Linker stand.
Hüten sollte man sich daher, jetzt auf gewisse Narrative hereinzufallen, die Mainstream-Medien und -Politik in den letzten Tagen angesichts des Todes Michail Gorbatschows verbreitet haben. Unterzieht man diese einem genaueren Blick, so ist es doch auffällig, wie immer wieder der Eindruck erweckt wird, die deutsche Wiedervereinigung sei primär das Produkt der Gnade ausländischer Staatsmänner gewesen, zu denen eben allen voran auch Gorbatschow gehört hatte. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Geschichte ohne diesen großen Staatsmann und seinen Mut einen anderen Verlauf hätte nehmen können. Kein Zweifel besteht aber auch daran, dass es primär und allem voran der Freiheitskampf der Deutschen selbst war, der ihnen am Ende ein wiedervereintes und (anfangs noch) freies Deutschland beschert hat. Diese Tatsache sollte, bei aller lobenden und kritischen Würdigung der Person Gorbatschows, niemals vergessen werden.
Zur Person:
Martin Reichardt ist Landesvorsitzender der AfD Sachsen-Anhalt, Mitglied des AfD-Bundesvorstands, Bundestagsabgeordneter und familienpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion und diente von 1996 bis 2001 als Bundeswehr-Offizier.