Düstere Aussichten für Israels Bodenoffensive im Gaza-Streifen
Mit einer Bodenoffensive steht Hamas und Israel ein klassischer Krieg bevor. Israel wird dabei mit erbittertem Widerstand rechnen müssen, denn eine Militäroperation in einem dicht besiedelten Gebiet birgt Risiken. Israel hat kein klares Endspiel in Sicht: Während der globale Süden für Diplomatie plädiert, setzt der Westen wie beim Beispiel der Ukraine auf Eskalation, schreibt Dr. Seyed Alireza Mousavi in seiner Analyse.
Seit dem ausgeklügelten Überfall der Hamas auf Israel bombardiert die israelische Armee den Gaza-Streifen massiv, ohne Rücksicht auf Zivilisten. Zugleich wurden Zehntausende Soldaten um den Küstenstreifen herum für die mögliche Bodenoffensive zusammengezogen. Israels Militär verschob aber vor Kurzem die geplante Invasion in den Gaza-Streifen einem US-Medienbericht zufolge wegen „widriger Wetterbedingungen“ um einige Tage. Viele Beobachter glauben aber nicht, dass das Wetter der Grund für die Verschiebung der Bodenoffensive gewesen sei.
Die politische und militärische Führung Israels hat in der Frage der Kriegsziele in den vergangenen Tagen kraftvolle Worte gefunden, ist aber zugleich stets vage geblieben. Israels Ziel ist es nach eigenen Angaben, die „Militär- und Regierungsfähigkeiten der Hamas“ zu zerschlagen. Wesentlich unklarer als das angestrebte Ziel, die Hamas im Gaza-Streifen zu stürzen, ist aber die Antwort auf die Frage, was danach kommen könnte.
Der US-Präsident Biden warnte Israel bereits davor, selbst wieder Besatzungsmacht im Gaza-Streifen zu werden, wie es zwischen 1967 und 1994 beziehungsweise in Teilen bis 2005 der Fall war. Dabei ist allerdings anzumerken, dass Israel derzeit aus einem Akt der Verzweiflung über seine angegebenen Ziele hinaus geht, indem es zivile Infrastrukturen wie das christliche Al-Ahli-Hospital sowie Kulturgüter wie die griechisch-orthodoxe Kirche des Heiligen Porphyrius oder die historische al-Omari-Moschee in Gaza angriff.
Israelische Führung unsicher
Mit einer Bodenoffensive steht beiden Seiten ein klassischer Krieg bevor. Israel wird dabei mit erbittertem Widerstand rechnen müssen. Eine Militäroperation in einem dicht besiedelten Gebiet birgt Risiken. Das weitläufige Tunnelsystem der Hamas und ihre fast 200 Geiseln verkomplizieren die Bodenoffensive erheblich. Die Hamas hat sich lange genug vorbereitet, indem sie strategische Verteidigungsstellungen angelegt hat. Die meisten der 20.000 bis 25.000 Hamas-Kämpfer werden sich dort nun versteckt halten, zusammen mit vielen Geiseln und Waffen.
Laut einem Bericht der New York Times geht die israelische Militärführung davon aus, dass die Hamas versuchen wird, ein Vorankommen zu behindern, indem sie einige der Tunnel sprengt, während israelische Truppen über sie hinweg vorrücken. Die Hamas werde selbstgebaute Bomben, Panzerfäuste und andere asymmetrische Mittel einsetzen, um Israels überlegene konventionelle militärische Fähigkeiten zu untergraben.
Die Militärkampagne Israels werde in ihrer „Grausamkeit“ unübertroffen sein und sich von allem unterscheiden, was Israel in der Vergangenheit im Gaza-Streifen durchgeführt habe. Das sagten acht nicht namentlich genannte regionale und westliche Beamte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die unmittelbare israelische Strategie bestehe darin, die Infrastruktur des Gaza-Streifens zu zerstören, selbst zu dem Preis hoher ziviler Opfer und der Zwangsumsiedlung der Palästinenser, hieß es weiter in Reuters.
Das Schicksal des Gaza-Streifens
In der gesamten Region besteht auch die Befürchtung, dass sich der Krieg über die Grenzen von Gaza hinaus ausbreiten könnte, wobei die libanesische Hisbollah und weitere Stellvertreter Irans eine neue Front zur Unterstützung der Hamas eröffnen könnten. Ein Zerstörer der US-Marine hat am Donnerstag im Roten Meer drei aus dem Jemen abgefeuerte Raketen abgefangen. Sie waren nach Angaben von US-Regierungsvertretern in Richtung Norden abgefeuert worden. Ob die Raketen Israel treffen sollten, blieb zunächst unklar. Die pro-iranische Huthi-Bewegung im Jemen hat im Nahost-Konflikt bereits Unterstützung für die Palästinenser bekundet und Israel gedroht.
Tel Aviv schwört zwar, die Hamas in einem unerbittlichen Angriff auf den Gaza-Streifen auszulöschen, hat aber kein klares Endspiel in Sicht. Einige der Berater von US-Präsident Joe Biden sind besorgt, dass Israel zwar einen Plan ausgearbeitet hat, um der Hamas dauerhaften Schaden zuzufügen, aber noch keine Ausstiegsstrategie formuliert hat. In israelischen Medien wird schon über verschiedenste Szenarien nach einer möglichen Bodenoffensive spekuliert: Eine Möglichkeit wäre, dass die urbanen Gebiete des Gaza-Streifens autonom verwaltet werden, während die ländlicheren Teile unter israelische Kontrolle kommen. Dies ist dann nichts anderes als eine weitere Besatzung der palästinensischen Gebiete, vergleichbar mit der Aufteilung des Westjordanlands in A-, B- und C-Gebiete. Für die palästinensischen Bestrebungen, einen eigenen Staat zu haben, wäre das ein weiterer Rückschlag.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geführte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Regierung des Gebiets übernehmen sollte. Der Oppositionsführer Yair Lapid hielt es kürzlich für die beste Option für die Nachkriegszeit im Gaza-Streifen, dass die belagerte Enklave unter die Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) käme. Angesichts der Unbeliebtheit der korrupten PA unter den Palästinensern erscheint ein solches Szenario derzeit aber weit hergeholt. Abbas' Herrschaft im Westjordanland entbehrt jeglicher Legitimationsbasis. Er hat seit zwei Jahren mehrfach die Wahlen in den Palästinensergebieten verschoben. Denn es ist ziemlich klar, dass Hamas-freundliche Kräfte die Wahlen gewinnen könnten.
Drohende Vertreibung und Zerstörung
Die Wut der Bevölkerung in der gesamten Region wird sich verschärfen, wenn die Zahl der Toten in Gaza weiter steigt. Alle arabischen Staaten haben sich an die Seite der palästinensischen Kräfte gestellt. Sie befürchten vor allem, dass eine israelische Invasion eine neue und dauerhafte Vertreibungswelle auslösen würde und der Palästinakrieg von 1948 und der Sechstagekrieg von 1967 sich wiederholen könnten. Millionen Palästinenser mussten damals fliehen und wurden von Ländern aufgenommen, in denen sie bis heute als Flüchtlinge leben.
Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi erklärte bereits, dass er die Zwangsumsiedlung von Palästinensern aus ihrem Land auf die an den Gaza-Streifen angrenzende Sinai-Halbinsel ablehnt. Israel will alle Bewohner des Gaza-Streifens mit US-Unterstützung auf die Sinai-Halbinsel vertreiben. Die Länder in der Region aber weigern sich, den Vorgaben aus dem Westen zu folgen. Denn die Nachbarländer haben kein Interesse daran, fast eine Million Flüchtlinge angesichts der Sicherheitsbedenken und Versorgungsfrage aufzunehmen. Sie wollen auch nicht der Vertreibung der Palästinenser aus ihrem Land Tür und Tor öffnen und damit Israels Vernichtungsplan unterstützen. Nachdem ein Resolutionsentwurf Russlands und Chinas in den vergangenen Tagen, der einen Waffenstillstand und eine humanitäre Pause forderte, im UN-Sicherheitsrat an den Gegenstimmen der USA scheiterte, wurde im gleichen Gremium auch anschließend der brasilianische Resolutionsentwurf durch westliche Staaten abgelehnt. Während der globale Süden für Diplomatie plädiert, setzt der Westen wie beim Beispiel der Ukraine auf Eskalation.
Die westlichen Staatschefs besuchen Israel nicht, um zu einem Waffenstillstand aufzurufen, sondern um zu zeigen, dass sie auf der Seite Israels stehen, und um ihre uneingeschränkte Unterstützung zu verkünden, selbst wenn der laufende Waffengang zu massiven Verlusten vonseiten Israels und den Palästinensern führen würde. Nun steht eine verlustreiche Bodenoffensive bevor. In seiner jüngsten Fernsehansprache hat aber Biden weiter an der Eskalationsspirale geschraubt und erklärt, die USA müssten Israel und der Ukraine gegenüber der Hamas und Russland zur Seite stehen.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.