Exklusiv vor Ort: Alltag zwischen Panzersperren und Fliegeralarm
Wie ist das Leben in einem Land, das sich im Krieg befindet? In Lemberg geht das Leben weiter. Aber anders als vorher. Die TAGESSTIMME berichtet direkt über die Eindrücke vor Ort.
Seit Sonntag berichtet die TAGESSTIMME live aus der Ukraine. Nach den gestrigen Erlebnissen von der Grenze in Uschgorod befinden sich unsere Reporter derzeit in Lemberg, der größten Stadt und dem kulturellen Zentrum der Westukraine. Von hier sind es 560 Kilometer bis in die umkämpfte Hauptstadt Kiew.
Lemberg und der Eindruck von Normalität
Lemberg beweist, dass der Krieg viele Gesichter hat. Anders als man erwartet, geht hier das meiste seinen Gang. Ukrainer gehen zur Arbeit, sie treffen sich in Cafés, scherzen auf der Straße. Fast ließe sich der Eindruck erwecken, es herrsche Normalität. Doch die Barrikaden, Panzersperren und Schanzen, die an den Zufahrtsstraßen und vor Verwaltungsgebäuden aus Sandsäcken, Autoreifen und Betonblöcken errichtet wurden, sprechen eine andere, deutliche Sprache – ebenso die ständige Präsenz von Polizisten und Soldaten, die durch die Straßen patrouillieren und zentrale Einrichtungen bewachen. Und auch wenn meist in den späten Abendstunden die Sirenen des Luftalarms ertönen und Lautsprecher dazu aufrufen, die Luftschutzkeller aufzusuchen, weil russische Flugzeuge gesichtet wurden – die Bürger geraten hier nicht in Panik. Kaum jemand sucht Zuflucht in den Kellern. Erst mit Beginn der Ausgangssperre, die von 22 Uhr bis 6 Uhr dauert, kehrt in die Stadt Ruhe ein und die Lichter gehen aus.
Gleichzeitig haben aber die Nachrichten von russischen Saboteuren, die hinter den ukrainischen Linien operieren, das Misstrauen der Bürger, aber auch der Sicherheitskräfte gegenüber ausländischen Journalisten genährt. Wer vermeintlich als wichtig anzusehende Objekte (dazu zählen auch einfache Straßenschilder, wie wir erfahren durften) fotografiert, wird sofort von Passanten zur Rede gestellt. Nervöse Blicke fallen immer wieder auf die Kameras. Viele Einheimische weigern sich, mit Journalisten zu sprechen. Auch andere Journalisten aus Italien, Dänemark und der Ukraine erzählen uns, dass sie bei ihrer Arbeit immer wieder auf diese Probleme stoßen. Um dem entgegenzuwirken, hat die Stadt Lemberg mittlerweile eine zentrale Anlaufstelle für ausländische Journalisten eingerichtet.
Kampfgeist und Behördenversagen
Während wir uns um die Akkreditierung durch das ukrainische Verteidigungsministerium bemühen, um unserer Arbeit nachgehen zu können, erhalten wir Einblick in die örtliche Verwaltung. Vor den Referaten haben sich Schlangen gebildet. Viele wollen sich freiwillig melden. Doch die Behörden sind überlastet. Freiwillige werden teilweise von einer Behörde zur nächsten geschickt, keine sieht sich zuständig. Es kommt zu heftigen Diskussionen zwischen Polizisten und Bürgern. Am Ende ziehen die Freiwilligen unverrichteter Dinge von dannen. Obwohl dem Straßenbild nach zu urteilen noch ein Großteil der wehrfähigen Bevölkerung nicht mobilisiert wurde, gewinnt man den Eindruck, dass zwar der kriegerische Geist im Volk unbändig ist – aber noch nicht in der lokalen Verwaltung angekommen.
„Alle Ukrainer kämpfen bis zum Tod!“
Doch zeigt uns Lemberg auch eine andere Seite. Am Bahnhof landen täglich zigtausend Flüchtlinge aus den östlichen Gebieten des Landes. Hier: kein Chaos, die Leute bewahren Ruhe. In den Wartesälen haben Väter ihre Kinder auf dem Arm. Sie nehmen sie noch einmal in den Arm, denn ihre Reise ist nur von kurzer Dauer: Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen.
Doch nicht nur die Männer kehren zurück. Wir sprechen mit zwei älteren Frauen. Sie berichten, dass sie soeben ihre Enkelkinder zu Verwandten nach Tschechien gebracht haben. Jetzt kehren sie zurück. In ihre Heimat. Wir fragen, was sie machen, wenn die Russen bis in die Zentralukraine vorrücken sollten. Mit Entschlossenheit antworten sie: „Wir sind Ukrainer. Das hier ist unser Land. Wir haben Enkelkinder. Wir gehen hier nicht weg und wir wollen hier keine Fremden. Wir werden kämpfen. Alle Ukrainer werden kämpfen bis zum Tod!“ Und: „Nein, wir fürchten uns nicht. Die Russen sind es, die Angst haben sollten!“ Die Art und Weise, wie diese beiden Frauen ihrem Patriotismus Ausdruck verleihen, lässt keinen Platz für Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte. Es ist auch diese Geschichte, die dieser Krieg schreibt und die in ganz Europa gehört und verstanden werden soll.
Wir wechseln den Schauplatz. In einem zweiten Wartesaal warten Hunderte auf eine Weiterreise. Die Mehrheit bilden hier keine ukrainischen Familien, sondern Araber und Afrikaner. Ihr Weg führt nach Westen.
Alle Bilder (c) FREILICH/TAGESSTIMME.
So ist die Lage an der Grenze zur Slowakei (1)
Alltag zwischen Panzersperren und Fliegeralarm (2)