Exklusiv vor Ort: Dem Krieg so fern und doch so nah
Die TAGESSTIMME berichtet direkt aus der Ukraine. Derzeit befindet sich unser Reporter-Team weiterhin im westukrainischen Lemberg. Die Lage hier ist weiterhin ruhig. Mittlerweile sind auch internationale Freiwillige angekommen. Ukrainische Flüchtlinge, Afrikaner und Zigeuner warten am Bahnhof auf die Weiterreise.
Seitdem wir in Lemberg sind, hat sich das Stadtbild merklich verändert. Mittlerweile befinden sich zahlreiche Journalisten aus dem gesamten mitteleuropäischen Ausland in der Stadt. Das vorgestern eingerichtete Zentrum für ausländische Journalisten ist vielfrequentiert. Dadurch und durch die derzeit insgesamt geringere Intensität des Kriegs zeigen sich die Einwohner nicht mehr so misstrauisch wie noch gestern.
Kriegsvorbereitung in Lemberg
Nichtsdestotrotz laufen auch hier die Vorbereitungen für einen möglichen Angriff weiter. In einer zentral gelegenen Bibliothek flechten vor allem Frauen und Kinder aus Stoffresten Tarnnetze, die zur Abdeckung von Kontrollpunkten oder militärischen Stellungen dienen sollen. In einem Zentrum der Partei Nationales Korps sammeln und verteilen jugendliche Aktivisten, Mädchen und Jungen, Hilfsgüter, die Bürger dort abgeben. Gesammelt werden auch leere Flaschen, Heizöl und Benzin – die Baustoffe der ukrainischen Intifada. Es gibt in der Stadt mehrere Blutspendenstationen und Sammlungen für die Armee.
„Live forever or die trying“
Mittlerweile sind auch die ersten Freiwilligen aus dem Ausland eingetroffen, die sich der internationalen Legion anschließen wollen. Wir sprechen mit einem jungen Finnen, der am Dienstag in Lemberg angekommen ist. Sein Name ist Ralf. Er ist 30 Jahre alt, diente in der finnischen Armee und lebt mittlerweile in Amsterdam. Er sei nicht besonders politisch und auch zur Ukraine habe er keine persönliche Verbindung – davon abgesehen, dass er einmal eine Ukrainerin gedatet habe, erzählt er augenzwinkernd. Er sei bereit zu kämpfen. „Das Böse besiegt man nur, indem man Gutes tut“, sagt er. Dass er sterben könnte, ist ihm bewusst. „Das ist okay.“ Ein Testament hat er nicht gemacht. Dafür müsse eine WhatsApp-Nachricht an die Familie ausreichen. „Vielleicht treffen wir uns einmal wieder auf ein Bier“, sagt er zum Abschied, dann verschwindet er. Sein Status bei WhatsApp: „Live forever or die trying.“ Dass er nicht allein ist, ist unübersehbar. Einige Männer mit militärischer Kleidung und Ausrüstung sind auf den Straßen unterwegs.
Nigerianer: „Wollen nach Ungarn“
Wir machen uns indessen auf zum Bahnhof. Deutsche Journalisten berichteten dort von chaotischen Zuständen und weinenden Kindern – ein Eindruck, den wir nicht bestätigen können. Sowohl gestern als auch heute zeigt sich uns dasselbe Bild: Viele Familien, die meisten ohne Männer, warten in den Hallen auf die Weiterreise. Dazwischen wuseln Freiwillige in neonfarbenen Warnwesten. Auch die Zahl der Afrikaner und Zigeuner, die sich um die Ausreise nach Westen bemühen, ist weiterhin extrem hoch. Einige Nigerianer berichten, dass sie vorhaben, nach Ungarn zu reisen. Allerdings wüssten sie nicht, ob ihnen der Grenzübertritt gestattet werde, da sie ihre Papiere in Kiew verloren hätten.
An den Gleisen stellen Polizisten sicher, dass Frauen und Kinder zuerst in die Züge gelangen. Hier herrscht dichtes Gedränge. In den ersten Reihen dominieren Migranten. Immer wieder müssen sie von den Sicherheitskräften zurückgedrängt werden.
Nie gekanntes Info-Wirrwarr
Währenddessen wartet hier alles auf die weitere Entwicklung der Kämpfe. In den umkämpften Gebieten halten die ukrainischen Kräfte zwar weiterhin stand. Fraglich ist, wie sich die massiven Truppenverschiebungen Russlands auswirken werden. Die Informationslage ist auch hier ungewiss. In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Meldungen mit teils widersprüchlichen Inhalten. Auch im Medienzentrum kann man uns nur ungefähr Auskunft über die Lage östlich von Lemberg geben. Wir bleiben dran.
Alle Bilder (c) FREILICH/TAGESSTIMME
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