Parteitag in China: Vom Prinzling zum Kaiser
Bald tagt der Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas und stellt im Reich der Mitte personelle Weichen. Eines scheint sicher: Xi Jinping wird China auch die nächsten fünf Jahre führen.
Am 16. Oktober 2022 tritt der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) für eine Woche zusammen. Knapp 2.300 Delegierte vertreten in der Großen Halle des Volkes 96 Millionen Parteimitglieder und wählen ein neues Zentralkomitee. Das Zentralkomitee wählt im Anschluss an den Parteitag den Ständigen Ausschuss des Politbüros und den Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Diese innerparteiliche Demokratie wurde nach dem Tode Mao Zedongs unter Deng Xiaoping etabliert, um eine Ein-Mann-Diktatur zu verhindern.
„20 Groß“ (Ershi da): Wer stimmt wie ab?
Auf dem 20. Parteitag der KPCh (chinesische Kurzform: Ershi da) werden Bauern und Arbeiter – unter Mao Zedong noch das Herzstück der Partei – lediglich ein Drittel der 2.300 Delegierten stellen. Auch die holde Weiblichkeit ist mit 27 Prozent Delegiertenanteil unterrepräsentiert. Immerhin verzeichnen die weiblichen Delegierten seit dem letzten Parteitag einen Zuwachs von 2,8 Prozent. Besser sieht es für die 55 ethnischen Minderheiten aus. Obwohl diese nur neun Prozent der Staatsbürger ausmachen, stellen sie 11,5 Prozent der Delegierten. Anders als in Deutschland ist der chinesische Staat bestens über seiner Völkerschaften informiert. Auf chinesischen Personalausweisen ist die Ethnie (minzu) gleich rechts neben dem biologischen Geschlecht angegeben. Den westlichen Beobachter mag ebenfalls überraschen, dass der interessierte Staatsbürger sich in China öffentlich über Geschlecht und Ethnie eines jeden Parteidelegierten informieren kann.
Diese Informationen befinden sich in Klammern hinter dem Namen der Delegierten, sofern es sich nicht um einen hanchinesischen Mann handelt. Dies erlaubt interessante Einsichten: In der Autonomen Region Xinjiang, wo Uiguren fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, entfallen auf insgesamt 43 Delegierte lediglich 10 Uiguren. Auch im zweiten Problemgebiet Chinas sieht es für die Mehrheitsethnie nicht gut aus. In der Autonomen Region Tibet stellen Tibeter 86 Prozent der Bevölkerung, kommen aber nur auf 15 von insgesamt 30 Delegierten. Ob dies mit der Bildung zusammenhängt? Über 95 Prozent der Delegierten verfügen nämlich über einen Universitätsabschluss. Dies lässt die Vermutung zu, dass es bildungsferne Schichten im Lande des Konfuzius auch bei der KPCh nicht eben leicht haben. Eine Chinesin in Xinjiang drückte sich einem deutschen Journalisten gegenüber wie folgt aus: „Die Uiguren kriegen vier, fünf Kinder und kümmern sich nicht um die Bildung. Das ist das Problem.“
Mag auch die Ursache des Delegiertenanteils von Frauen, Uiguren und Tibetern auf dem 20. Parteitag hier nicht abschließend zu klären sein, so steht doch zumindest eines fest: Alte hanchinesische Männer werden auch nach diesem Parteitag den Ständigen Ausschuss des Politbüros kontrollieren. Derzeit befindet sich keine Frau und kein Minderheitenvertreter in diesem Gremium, das als Machtzentrum Chinas gilt. Auch die möglichen Aufrückkandidaten für den Ständigen Ausschuss – Hu Chunhua und Chen Min’er – sind als Hanchinesen ungeeignet, die gelbe Suprematie von Xi bunter zu machen.
Ist es möglich, dass die 2.300 Parteidelegierten ein Zentralkomitee wählen, welches Xi Jinping eine dritte Amtszeit als Generalsekretär verwehren wird? Dieses Szenario ist aufgrund der parteiinternen Demokratie der KPCh durchaus möglich. Ein guter Seismograf für parteiinternen Widerstand gegen Xi wären Äußerungen in der chinesischen Parteipresse, die von der Leitlinie der sogenannten „Xi-Jinping-Gedanken“ (Xi Jinping sixiang) abweichen. Allerdings sind dem Autor in den vergangenen Wochen nicht einmal versteckte Angriffe auf Chinas „Überragenden Führer“ (zuigao lingdaoren) aufgefallen. Zur Verdeutlichung des Gleichschritts der chinesischen Parteipresse soll ein Bericht der Renmin Ribao (archiviert) vom 2. Oktober 2022 dienen: Hier versichert die Parteiführung der Provinz Shanxi, dass die „wichtigen Instruktionen von Generalsekretär Xi Jinping tiefgreifend umgesetzt“ worden seien. Es seien bereits über 140.000 Internet-Parteimannschaften zur videogestützten Überwachung des öffentlichen Raums eingerichtet worden. Hierdurch könne die Parteiführung von Shanxi unter anderem Wanderarbeiterbewegungen besser kontrollieren und so zu einer „triumphalen Einberufung des 20. Parteitages“ in der Hauptstadt beitragen. Wie konnte Xi diese Hegemonie über seine Partei erringen? Hierzu muss man sich mit den Antikorruptionskampagnen und dem Personenkult um Xi auseinandersetzen.
Antikorrupt: Xi Jinpings Langer Marsch zur Macht
Die Reform und Öffnung unter Deng Xiaoping katapultierte das unterentwickelte China der maoistischen Volkskommunen in den Dschungel des Raubtierkapitalismus. Xi Jinping muss gespürt haben, dass die wachsende Ungleichheit sowohl Gefahren als auch Chancen bot. Als Parteikader in der Provinz Zhejiang (2003–2007) prangerte Xi unter Pseudonym in insgesamt 232 Artikeln Korruption an und forderte von seinen Untergebenen eine stärkere Orientierung am Volkswohl. Im März 2007 wurde Xi überraschend aus Zhejiang abberufen und zum Parteichef von Shanghai ernannt. Der soeben als Shanghaier Parteichef entmachtete Chen Liangyu soll dem damaligen Generalsekretär Hu Jintao ein Dorn im Auge gewesen sein. Während Xis Stationierung in Shanghai ergaben Ermittlungen gegen Chen Liangyu, dass dieser sich am städtischen Rentenfonds bedient hatte und sich nicht weniger als elf Mätressen hielt. In der gleichen Zeit erschien Xis Buch „Neue Worte aus Zhejiang“ (Zhijiang xinyu). Das Buchcover trägt Xi Jinpings Klarnamen und enthält sämtliche 232 Antikorruptionsartikel aus seiner Zeit in Zhejiang. Xis Ruf als Kämpfer gegen Korruption und seine Hilfe beim Kampf gegen Hu Jintaos Parteifeind wurden kurz darauf belohnt: Xi stieg in den Ständigen Ausschuss des Politbüros auf und wurde Vizepräsident.
Im Anschluss an den vorletzten Parteikongress wählte das Zentralkomitee Xi Jinping am 15. November 2012 zum Generalsekretär der KPCh. Am Tag seiner Wahl verkündete der frischgebackene „Überragende Führer“ den Beginn einer Antikorruptionskampagne gegen „Tiger und Fliegen“. Bereits vor Xis Wahl zum Generalsekretär wurde ein kapitaler „Tiger“ erlegt: Bo Xilai – Parteichef der Riesenmetropole Chongqing und Konkurrent Xis in der Wahl zum Generalsekretär – wurde nach der spektakulären Flucht seines Polizeichefs in ein US-Konsulat festgenommen. Im März 2012 wurde Bo Xilai aller seiner Ämter enthoben und angeklagt. Das Gericht verurteilte seine Frau wegen Mordes und Bo Xilai wegen Korruptionsdelikten zu lebenslanger Haft. In den ersten Jahren Xis Herrschaft wurden weitere „Tiger“ erlegt: Zwei Dutzend Generälen und mehreren ehemaligen Mitgliedern des Politbüros – darunter einflussreiche Verbündete der Vorgänger Jiang Zemins und Hu Jintaos – wurde der Prozess gemacht.
Ein „Tiger“ scheint Großwildjäger Xi Jinping bislang allerdings durch die Lappen gegangen zu sein. Es handelt sich um einen der führenden Köpfe von Jiang Zemins Shanghai-Bande, Zeng Qinghong. Zeng kehrte der Shanghai-Bande allerdings rechtzeitig den Rücken und unterstütze Xis Wahl zum Generalsekretär. 2008 geriet Zeng Qinghong in die Schlagzeilen, weil sein Sohn in Sydney eine Immobilie für den beachtlichen Wert von umgerechnet 22,4 Mio. Euro erworben hatte. Beobachter wiesen darauf hin, dass sich diese Transaktionen nicht mit dem Familienvermögen und Zengs Beamtengehalt stemmen ließe. Eine Untersuchung gegen diesen mutmaßlichen „Tiger“ wurde allerdings unter Xi Ägide bislang noch nicht angestrengt. Scheinbar gilt auch unter Parteifreunden das chinesische Sprichwort: „Einen Gefallen in Form eines Tropfen Wassers soll man mit einer rauschenden Quelle vergelten“.
Laut Transparency International konnte sich China seit dem Amtsantritt Xi Jinpings von 39 Punkten (2012) auf aktuell 45 Punkte (2021) hocharbeiten. China befindet sich nun in Sachen Korruptionsbekämpfung auf Platz 66 von 180. Um allerdings in die Spitzenplätze aufzurücken – und das ist ein Bestandteil des von Xi verkündeten „chinesischen Traumes“ (Zhongguo meng) – wird man noch einigen „Tigern“ das Fell über die Ohren ziehen müssen.
Mao Light: der Personenkult um Xi Jinping
Dass Xi Jinpings Präsidentschaft aus einem anderen Holz geschnitzt ist, als die seiner Vorgänger, kündigte sich bei der Revision der Parteistatuten im Jahr 2017 an: Die Aufnahme der „Xi-Jinping-Gedanken“ stellte Xi semantisch auf eine Stufe mit den „Mao-Zedong-Gedanken“ des Großen Vorsitzenden. Wurde Deng Xiaoping noch mit den „Deng Xiaoping-Theorien“ ins Parteistatut aufgenommen, mussten sich dessen Nachfolger mit weniger peppigen Formulierungen begnügen. Jiang Zemin erhielt das „Dreifache Vertreten“ (san ge daibiao); Hu Jintao das noch sprödere „wissenschaftliche Entwicklungskonzept“ (kexue fazhan guan). 2018 nahm der Volkskongress die „Xi-Jinping-Gedanken“ in die Verfassung auf. Hiermit ist Xi neben Mao Zedong und Deng Xiaoping das einzige in der Verfassung erwähnte KPCh-Mitglied.
Zur Propagierung der Xi-Jinping-Gedanken kam 2019 die Smartphone-App „Lernen und das Land stärken“ (Xuexi qiangguo) auf den Markt. Aufgrund der Doppeldeutigkeit des Schriftzeichens „Xi“ kann die App allerdings auch „Von Xi lernen und das Land stärken“ bedeuten. Bereits wenige Monate nach dem Start errang die App den ersten Platz im App Store von Apple. Zum Erfolg der App trug mitunter bei, dass Bildungseinrichtungen und Staatsunternehmen ein tägliches Studienpensum an Xi-Jinping-Gedanken vorgaben. Auf der Internetseite Chinas auflagenstärkster Tageszeitung blickt dem Besucher inzwischen Chinas „Überragender Führer“ auf einem Dauerbanner entgegen (siehe Foto). Ein Klick auf das Banner führt zu einer tagesaktuellen Datenbank mit mehreren Tausend Reden und öffentlichen Auftritten Xis.
Dass Kritik an Xi Jinping in diesem Klima von den Behörden als Majestätsbeleidigung aufgefasst werden musste, bekam bald darauf der Immobilienunternehmer Ren Zhiqiang zu spüren. Dieser war unter dem Namen „Große Kanone Ren“ als Blogger mit kantigen Kommentaren zu einiger Berühmtheit gelangt. Anfang März bezeichnete Ren Zhiqiang Xi als einen „Clown“, der „fest entschlossen ist, jeden zu zerstören, der ihn daran hindert, Kaiser zu werden“. Mit diesem Paukenschlag beendete die „Große Kanone Ren“ ihre Karriere als Influencer und sitzt seitdem eine 18-jährige Haftstrafe ab.
Zur Person:
Jonas Greindberg ist Dozent an der Gegenuni, wo er einen Kurs zum Aufstieg Chinas zur Weltmacht unterrichtet. Er ist studierter Sinologe und Historiker.