Sklaverei und der Westen: Basiert der Wohlstand des Westens auf Afrika?
Beruht der Wohlstand des Westens auf der Ausbeutung Afrikas, wie es der Mainstream oft postuliert? Nein, meint der ehemalige Diplomat Volker Seitz und zeigt in seinem Text die schwierige Geschichte Afrikas und die wahren Probleme auf.
Der US-Journalist Howard W. French vertritt in seinem Buch Afrika und die Entstehung der modernen Welt die These, dass die westliche Welt ihre Industrialisierung und ihren Wohlstand den Sklaven aus Afrika verdanke. Das sei der Grund, weshalb Europa andere Erdteile wirtschaftlich hinter sich zurückgelassen hat. Der Tenor, der bei French und in der Dritte-Welt-Szene dominiert, ist: Wir sind die Bösen, die die afrikanische Entwicklung verhindert haben. Auch afrikanische Politiker, oft von europäischen Gesinnungsethikern unterstützt, führen für die Misere in Afrika ausschließlich auf den Sklavenhandel und die Kolonialzeit zurück, um sich als Opfer von ihrem eigenen Versagen abzulenken. In kirchlichen Kreisen und ihren Hilfswerken sind solche Töne normal.
Es kann nicht darum gehen, die grundsätzliche Verantwortung der Europäer für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit infrage zu stellen oder zu bagatellisieren, sondern sich der Vergangenheit zu stellen und ein dunkles Kapitel der Beziehungen zwischen Europa und Afrika ehrlich aufzuarbeiten. Darum scheint es French aber nicht zu gehen. Verbrecher, das waren immer Weiße und Afrikaner, die Opfer. Sklaverei war in vielen afrikanischen Kulturen selbstverständlich – ganze Reiche im Inneren Afrikas profitierten wirtschaftlich stark von der Jagd auf Menschen und vom Handel mit ihnen. In Afrika gab es lange vor der Entdeckung Amerikas schon die Sklaverei. Kriege gehörten zum Alltag, und wer in die Gefangenschaft geriet, wurde versklavt. In Afrika bedeutete Eigentum im traditionellen Verständnis nicht in erster Linie Kontrolle des Landes, sondern Kontrolle von Menschen.
Ehrliche Aufarbeitung ist schwierig
Erst dem Geist der europäischen Aufklärung entsprang die Abschaffung der Sklaverei. Durch das Zeitalter der Aufklärung veränderte sich die Stimmung in Europa, und erste Proteste gegen die Sklaverei wurden laut. Die Selbstbefreiung der Sklaven wie etwa der berühmte Sklavenaufstand auf Saint-Domingue (das heutige Haiti) 1791 bis 1803, religiös motivierte Gruppen wie die Quäker, die den Sklavenhandel ablehnten, sowie die Bewegung der Abolitionisten (englisch abolition = Abschaffung, Aufhebung), leiteten die Abschaffung der Sklaverei ein.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Sklavenhandel schließlich auf dem afrikanischen Kontinent formell verboten. Oft wird vergessen, dass es noch traditionelle Formen der Sklaverei bis heute in Sudan, Mauretanien, Mali und Niger (siehe unten) gibt; daneben bestehen moderne Formen wie der Kinderhandel, von dem in Westafrika laut UNICEF 200.000 Kinder betroffen sind.
In einem wegweisenden Urteil hat der Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft noch im Oktober 2008 den Staat Niger der Duldung von Menschenhandel und Sklaverei schuldig gesprochen. Die Klägerin Adidjatou Mani Koraou war im Alter von zwölf Jahren für ungefähr 370 Euro an einen Mann verkauft worden, der sie zu seiner fünften Ehefrau machte. Zwei Kinder bekam sie von ihm. Nach zehn Jahren erfuhr sie, dass Sklaverei im Niger illegal ist. Mithilfe der Organisationen Timidria und Anti Slavery International verklagte sie den Staat Niger, weil er sie nicht gegen Sklaverei geschützt haben soll. Das Gericht wies den nigrischen Staat an, der damals 24-jährigen Klägerin umgerechnet 15.000 Euro Schadenersatz zu zahlen.
Abhängigkeit von der Sklavenwirtschaft
Ohne die Kollaboration und die kriegerischen Raubzüge der einheimischen Herrscher, die Waren gegen Menschen eintauschten, wäre der transatlantische Sklavenhandel schwerlich möglich gewesen. Die Sklaverei wurde in jener Zeit von Zeitgenossen in Europa und Afrika als normales gesellschaftliches Phänomen betrachtet. Einige Regionen des Kontinents waren von der Sklavenwirtschaft abhängig. Einige Wissenschaftler argumentieren, dass die afrikanische „Wirtschaft“ nur noch nach den ökonomischen Prinzipien der Fremden funktionierte und damals den Grundstein für ökonomische Abhängigkeit legte, die im Kolonialismus dann gefestigt wurde. Egon Flaig schreibt in seinem Standardwerk Weltgeschichte der Sklaverei, dass die Welt der „Abschaffung der Sklaverei der europäischen Kultur“ verdanke. Nicht nur in den USA, sondern auch „in Afrika musste die Absolution den Eliten gewaltsam aufgezwungen werden. Nicht bloß, weil die einheimischen Eliten vom Versklaven und vom Sklavenhandel und -haltung profitierten, sondern weil die staatlichen Gebilde auf dem permanenten Versklaven beruhten“ .
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French ist es auch keine Zeile wert, dass sich die auch in den USA viel gelesene nigerianische Journalistin und Bestsellerautorin (Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy) Adaobi Tricia Nwaubanizu dazu bekennt, dass ihr Vorfahre ein Sklavenhändler war. „My Nigerian great-grandfather sold slaves“. Sie deutet damit an, dass die Geschichte der Sklaverei ein vielschichtiges Thema ist, komplex, und dass nicht mit simplen Schwarz-Weiß-Bewertungen gearbeitet werden kann. Adaobi Tricia Nwaubani schreibt, dass einer ihrer Vorfahren Sklaven verkaufte, argumentiert aber, dass er nicht nach den heutigen Normen oder Werten beurteilt werden sollte: „Mein Urgroßvater, Nwaubani Ogogo Oriaku, war das, was ich lieber als Geschäftsmann bezeichne, aus der Volksgruppe der Igbo im Südosten Nigerias. Er handelte mit einer Reihe von Waren, darunter Tabak und Palmenprodukte. Er verkaufte auch Menschen: 'Er hatte Agenten, die Sklaven von verschiedenen Orten gefangen nahmen und sie zu ihm brachten', erzählte mir mein Vater. Die Sklaven von Nwaubani Ogogo wurden über die Häfen von Calabar und Bonny im Süden des heutigen Nigeria verkauft. Menschen aus ethnischen Gruppen entlang der Küste, wie die Efik und Ijaw, fungierten gewöhnlich als Stauer für die weißen Händler und als Mittelsmänner für Igbo-Händler wie meinen Urgroßvater. Sie be- und entluden Schiffe und versorgten die Ausländer mit Lebensmitteln und anderen Vorräten. Sie handelten Preise für Sklaven aus dem Hinterland aus und kassierten dann sowohl von den Verkäufern als auch von den Käufern Lizenzgebühren. Nwaubani Ogogo lebte in einer Zeit, in der die Stärksten überlebten und die Tapfersten überragten. Das Konzept ,alle Menschen sind gleich geschaffen‘ war der traditionellen Religion und dem traditionellen Recht in seiner Gesellschaft völlig fremd.“
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Sklavenhandel in der Literatur
Flora Nwapa (1931–1993) gilt als „Mutter der modernen afrikanischen Literatur“. Sie schrieb in einfacher englischer Sprache. In ihrem Buch Efuru erwähnt sie den Sklavenhandel: „Nwosu und der Fischer erinnerten sich wieder an die Geschichte von den Kanonen, die ihnen ihre Väter erzählt hatten. Die weißen Sklavenhändler hatten den Leuten die Kanonen als Gegengabe für die Sklaven gegeben (...). Die Kanonen gehörten den bedeutenderen Familien, die sich selbst aktiv am Sklavenhandel beteiligt hatten. Sie waren deshalb bedeutender, weil sie das Vorrecht hatten, mit den Sklavenhändlern zu verhandeln (...). Das Abfeuern der Kanone jetzt verkündete nicht nur den Tod eines bedeutenden Mannes, sondern zeigte auch, dass die Vorfahren dieses bedeutenden Mannes mit den Sklavenhändlern Geschäfte gemacht hatten.“
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Alain Mabanckou (Republik Kongo) schreibt in Petit Piment: „'Seht ihr', murmelte er, ‚manchmal wurden wir von den eigenen Leuten verkauft, und wenn ihr eines Tages einem amerikanischen Schwarzen begegnet, denkt daran, es könnte jemand aus eurer Familie sein!' Zudem nahmen die Vili Leute aus meinem Volk zu Sklaven und verkauften sie in benachbarte Königreiche! Man komme mir also nicht damit, sie seien wegen der Weißen zu gewieften Sklavenhändlern geworden! Zu jener Zeit waren die Weißen noch gar nicht bei uns angekommen, und damit basta!“
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Der ivorische Schriftsteller Ahmadou Kourouma (1927–2003) schrieb in seinem Bestseller (das Buch war monatelang an der Spitze der französischen Bestsellerlisten) Die Nächte des großen Jägers: „Um die Neger zu zivilisieren, wagen die Kolonialmächte in dem Gebiet, das man Golf nennt, ein bis dato einzigartiges Experiment: Sie kaufen in Amerika Sklaven auf, schenken ihnen die Freiheit und siedeln sie in jener Gegend an. Vergebliche Mühe, ein kompletter Reinfall. Die Freigekauften kennen nur ein einziges gewinnbringendes Gewerbe: den Handel mit schwarzen Sklaven. Sie fangen wieder an mit der Jagd nach menschlicher Beute und dem Verkauf von Negern, einem veralteten, seit der Berliner Konferenz durch internationale Konventionen verbotenen Erwerbszweig. Die Kolonialmächte sehen sich gezwungen, bei ihrem zivilisatorischen Werk auf die Unterstützung der Freigekauften zu verzichten.
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Der Senegalese Sembène Ousmane beschreibt in seiner Erzählung Der Voltaer eine Unterhaltung zwischen Momutu, dem afrikanischen Sklavenhändler, und Amoo, der gerade seine Tochter bei einem Überfall auf ein Sklavenschiff gerettet hat. „,Und Du hast doch mehr als einmal dein Leben aufs Spiel gesetzt, um deine Tochter zu retten?‘ ‚Das ist meine Tochter! Ich musste mit ansehen, wie einer nach dem anderen in meiner Familie verkauft und weggeschleppt worden ist, wer weiß wohin. Ich bin mit der Angst aufgewachsen, ständig mit meiner Sippe auf der Flucht vor den Sklavenjägern; in meiner Sippe hält man keine Sklaven (...) wir sind alle gleich (...)‘ ‚Bleib bei mir. Du bist prima, und du weißt, was du willst‘, fuhr Momutu fort und reichte ihm das Schnapsfässchen. Höflich lehnte er ab. ‚Das ist die richtige Arbeit für uns. Wir ziehen durch die Savannen, machen Gefangene und verkaufen sie an die Weißen. Einige Kapitäne kennen mich bereits. Andere locke ich hierher, und dann hecke ich mit meinen Leuten einen Plan aus, wie wir sie zum Verlassen des Schiffs bringen können. Das Schiff wird geplündert und die Gefangenen zurückgeholt (...) Die Weißen werden kaltgemacht. Das ist keine schwere Arbeit. Und man verdient immer daran. Ich hab dir deine Tochter zurückgegeben. Das ist ein schönes Exemplar. Sie ist viele Eisenbarren wert.‘“
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Auch Teju Cole geht in seinem Bestseller Jeder Tag gehört dem Dieb auf das leidvolle Geschäft mit Sklaven ein: „Die Bruderkriege der Yoruba im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert kurbelten den transatlantischen Menschenhandel enorm an. Es gab ständig Auseinandersetzungen zwischen den Ijebu, den Egba, den Oyo, den Ibadan und vielen anderen Yoruba-Gruppen. Manchen der kleineren Populationen wurden wahrscheinlich ausgelöscht, als die größeren Volksgruppen ihr Territorium erweiterten und ihre Macht konsolidierten. Die Besiegten wurden aus dem Binnenland an die Küste gebracht und entweder an Zwischenhändler in Lagos oder in den Gemeinden entlang der Lagunen, die sich westwärts bis Ouidah erstrecken, verkauft. Diese wiederum veranstalteten die Auktionen, bei denen Engländer, Portugiesen und Spanier ihren Bedarf deckten und ihre Barracoons und Sklavenschiffe füllten. Einige dieser Stammeskriege wurden mit dem ausdrücklichen Ziel geführt, die Händler mit Sklaven zu versorgen. Fünfunddreißig britische Pfund für jeden gesunden Mann, das war ein lukratives Geschäft (...). Doch die Geschichte des Sklavenhandels an dieser Küste ist in Lagos unsichtbar. Kein Monument gedenkt dieser Wunde. Es gibt keinen Gedenktag, kein Erinnerungsmuseum.“
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Vom Sklaven zum Sklavenhändler
Die Prinzen von Calabar heißt das Buch des Historikers Randy J. Sparks aus New Orleans. In ihm beschreibt er seinen zufälligen Fund eines Briefwechsels von zwei versehentlich verschleppten afrikanischen Sklavenhändlern. Die Geschichte ihrer Verschleppung und Befreiung haben die beiden Mitglieder einer Sklavenhändlerfamilie selbst niedergeschrieben. Die Geschichte ist ein bemerkenswerter Erfahrungsbericht aus erster Hand. Sparks hat diesen Briefwechsel historisch aufgearbeitet. Sie wurden als Gefangene nach Virginia verschleppt und dort als Sklaven verkauft. Damit konnten sie die Grausamkeit der Überfahrt und die Behandlung der Sklaven an Bord am eigenen Leib erfahren. Allerdings fühlten sie sich diesen Menschen keineswegs ebenbürtig. Das Buch beleuchtet die beginnende Anti-Sklaverei-Bewegung in Bristol. Dort beginnt der Briefwechsel zwischen den beiden Prinzen und den Brüdern Charles und John Wesley. Die Wesley-Brüder gehörten der Methodistenkirche in Bristol an, die zusammen mit der Quäkerbewegung die Sklaverei als verbrecherische Sünde ablehnten und sich für die Befreiung der beiden Prinzen einsetzten. Sie erreichten die Befreiung der beiden afrikanischen Sklavenhändler Ephraim und Ancona Robin Robin-John. Nach der Rückkehr setzten sie trotz aller Erfahrungen in Amerika und in Europa ihren Sklavenhandel fort.
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Eine kritische Interpretation der Geschichte findet aber hauptsächlich im Westen statt, selten jedoch bei afrikanischen Intellektuellen vor Ort. Afrikanische Regime verhindern aus machtpolitischen Erwägungen eine Diskussion in einer breiten Öffentlichkeit. In dem allseits hochgelobten Buch wird aber nur der atlantische Sklavenhandel beschrieben. Der ältere und umfangreiche transsaharische und ostafrikanische Sklavenhandel wird nur in Nebensätzen erwähnt. Im Gegensatz zu den Arabern in Ostafrika haben Europäer vom heutigen Senegal bis Angola nicht selbst Razzien auf Menschen veranstaltet. Den Europäern war das Landesinnere weitgehend unbekannt. Das illustrieren auch zeitgenössische Landkarten. French beschäftigt sich nur am Rande damit, dass siebzehn Millionen Afrikaner vom 7. bis ins 21. Jahrhundert von Arabern versklavt wurden. Der europäische Sklavenhandel dauerte rund 400 Jahre bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Der arabisch-muslimische Sklavenhandel währte hingegen mehr als dreimal so lang, bis 1920 in Marokko und in der Türkei 1924 die letzten Sklavenmärkte offiziell geschlossen wurden. In Mauretanien wurde die Sklaverei sogar erst 2007 abgeschafft.
Zur Person:
Volker Seitz, Botschafter a.D. und Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv 11. Auflage 2021, war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das Auswärtige Amt tätig. Er schreibt für verschiedene Medien wie Achgut und Pragmaticus.
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