Trump, QAnon und die Alt-Right: Nils Wegner im Gespräch
Der Historiker und Publizist Nils Wegner geht mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump hart ins Gericht. Seine zentralen Wahlversprechen habe Trump nicht eingehalten, betont Wegner. Außerdem spricht er im ausführlichen Tagesstimme-Interview über Trumps Nachfolger Joe Biden, den „Sturm aufs Kapitol“, politischen Messianismus und das rechte Lager abseits der Republikaner.
Tagesstimme: Die letzten Wochen und Monate in den USA waren ja durchaus ereignisreich. Trump verlor (begleitet von Wahlbetrugsvorwürfen) die Wahl, ein Amtsenthebungsverfahren läuft und der „Sturm“ des Kapitols samt der Folgen wie die Sperrung von Trumps Profilen in sozialen Netzwerken wird vermutlich die gesamte Amtszeit überschatten. Können Sie zum Beginn eine Einordnung der Lage für den deutschen Leser vornehmen?
Nils Wegner: Das Ergebnis der 59. US-Präsidentschaftswahl und alles, was sich seitdem daraus entwickelt hat, lässt sich vielleicht am besten als ein Fanal der leeren Versprechungen und enttäuschten Erwartungen zusammenfassen. Besonders in der heißen Wahlkampfphase zeigte sich, dass Trumps Wahlkampfstrategen und das republikanische Establishment – wo es denn überhaupt einen Sieg wollte, was bei Konservativen ja nicht selbstverständlich ist – über eine demografische Gruppe galant hinweggegangen ist: den Otto Normalverbraucher, in den USA „Average Joe Sixpack“ genannt, der trotz aller Diversity-Augenwischerei noch immer mehrheitlich weiß ist und der Mittelschicht angehört. Aus diesen Menschen speiste sich lange Zeit der große Pool der Nichtwähler ganz wesentlich – diese Bevölkerungsgruppe war es gewohnt, von Demokraten und Republikanern gleichermaßen geschröpft und zugunsten symbolischer Vielfalt-Zwangsmaßnahmen (z. B. durch Affirmative action, die Diskriminierung von Weißen bei der Studienplatz- und Jobvergabe) gedemütigt zu werden.
Millionen enttäuschter Trump-Wähler
Die Politikverdrossenheit dieser Menschen schlug zur vorangegangenen Präsidentschaftswahl 2016 um in Unterstützung für Donald Trump, der ja kaum durch seine tatsächlichen politischen Forderungen, sondern primär als Symbol für den Widerstand gegen „die da oben“ und den verknöcherten amerikanischen Politikbetrieb für Begeisterung sorgte. In der Gruppe um Trump glaubte man offenbar, das Ergebnis ohne eigenes Bemühen einfach wiederholen zu können, weil diese weißen Protestwähler sowieso keine Alternative hätten – nun, wie die Statistiken zeigten, hatten sie die doch und haben sich wieder von Trump abgewandt. Sie, die von Hillary Clinton verächtlich als Deplorables, also als „die Erbärmlichen“ bezeichnet wurden, sind es, die nun nach den vier Jahren der Trump-Präsidentschaft mit nicht viel mehr als zuvor dastehen – abgesehen davon, dass viele von ihnen für ihr Bekenntnis zu Trump und „Make America Great Again“ schwerwiegende persönliche Nachteile zu erleiden hatten, von Diskriminierung über tätliche Angriffe bis hin zu Mord und Totschlag im Rahmen der Aufruhrerscheinungen unter dem Banner von „Black Lives Matter“.
Je verzweifelter Menschen sind, desto anfälliger sind sie auch für (nicht nur politischen) Messianismus, besonders in der immer schon für religiösen Eifer anfälligen US-Gesellschaft, deren subkutane Nachklänge des Puritanismus gerissene Politiker immer schon für sich einzusetzen wussten. Für die besonders engagierten Trump-Anhänger führte der Weg somit oft geradezu zwangsläufig von „MAGA“ hin zu „QAnon“: Dem psychologischen Konzept der „kognitiven Dissonanz“ zufolge strebt der Mensch nach seelischem Gleichgewicht, nach Zufriedenheit. Wenn er aber beispielsweise viel in eine Unternehmung investiert, die dann fehlschlägt, gerät er in große psychische Spannung – und greift, um sich seinen Irrtum und das ins Nichts verpuffte Engagement nicht eingestehen zu müssen, zu teils absurden Erklärungen und Beschönigungen. Der „QAnon“-Mythos trat seinen Siegeszug nicht zuletzt deshalb an, weil er den gleichen diffusen Internetzirkeln entstammte, die Trump schon 2016 nicht unwesentlich mit über die Ziellinie getragen hatten und dadurch für viele einen gewissen Vertrauensvorschuss für sich verbuchen konnten.
Auf der einen Seite stehen also die vielen Millionen enttäuschter Trump-Wähler von 2016 (von denen der Löwenanteil Trump ja sogar nochmals die Stimme gewährt hat – es hat nur eben diesmal nicht mehr gereicht, weil die Gegenseite nicht mehr so grenzenlos arrogant und siegessicher war wie seinerzeit die Kabale um Hillary Clinton), auf der anderen Seite Trump selbst mitsamt seiner Entourage, die seit 2016 manches bewirkt haben – nur gerade nicht das, was viele erwartet oder doch zumindest erhofft hatten.
Vier Jahre Trump – ein Fazit
Tagesstimme: Bevor wir zu den jüngsten Ereignissen kommen, was kann ihrer Meinung nach nach vier Jahren der Präsidentschaft Trumps als Fazit gezogen werden?
Wegner: Es gab einige Gerüchte, wonach Trumps Kandidatur ursprünglich einfach nur ein PR-Gag hätte sein sollen und gar nicht geplant war, bis zum Ende mitzumachen oder gar wirklich Präsident zu werden. Dafür gibt es nach meiner Ansicht viele – auch US-parteiengeschichtliche – Anhaltspunkte; man darf auch nicht vergessen, dass Trumps Karriere schon lange vor der Kandidatur vorwiegend die einer (Klatsch-)Medienpersönlichkeit gewesen war, nachdem er das Immobilienimperium seines Vaters mit stark schwankendem Erfolg geführt hatte und zuletzt hoch verschuldet gewesen war. Ich möchte aber diesem sowie einigen damit eng verbundenen, wenig bekannten Aspekten hier nicht vorgreifen: Nachdem mich ein österreichischer Verlag dazu eingeladen hat, eine grundsätzliche Analyse der Trump-Präsidentschaft und des Drumherums zu Papier zu bringen, wird man darüber bald deutlich mehr lesen können.
Wenn man jedenfalls davon ausgehen möchte, dass „das Phänomen Trump“ nicht ohnehin von vornherein eine Schmierenkomödie der amerikanischen Polit-Eliten gewesen sei, um das Wahlvolk zum Narren zu halten, bleiben angesichts der großen Enttäuschung, die ich bereits erwähnte, im Grunde nur zwei Schlussfolgerungen: Entweder muss es sich um ein persönliches Versagen Trumps gehandelt haben – oder aber um ein systemisches Versagen des gesamten etablierten Politikbetriebes in den USA.
Ersteres würde bedeuten, dass alle politischen Ansätze gestimmt hätten und der Präsident in dem Bestreben, das (aus wessen Sicht?) „Richtige“ zu tun, an seiner eigenen Unschlüssigkeit, zweifelnden Beratern oder gar familiären Interventionen gescheitert sei – denken wir an die befremdlichen Geschichten, wonach die mit Jared Kushner verheiratete Ivanka Trump ihren Vater aus emotionaler Aufgewühltheit heraus dazu genötigt habe, im April 2017 Ziele in Syrien bombardieren zu lassen oder im Vorgehen gegen illegal eingewanderte Migrantenfamilien Nachsicht walten zu lassen. Wer an ein solches persönliches Versagen glaubt, der verhält sich nicht anders als Oppositionelle in Deutschland oder Österreich, die ihren berechtigten politischen Zorn lediglich über das jeweilige Staatsoberhaupt ableiten. Wer heute gegen „Mehrkill“ oder „Sebastian, den Babyelefanten“ agitiert, der wird dem hinter diesen Einzelpersonen stehenden Apparat gegebenenfalls wieder eine Chance geben, wenn der Sündenbock erst einmal aus dem Dorf getrieben wurde.
Ähnliches zeichnet sich schon jetzt in den USA ab, wenn rechtspopulistisch geneigte Intellektuelle und Medienpersönlichkeiten für die nächsten Wahlen 2024 beispielsweise über eine Präsidentschaftskandidatur des Fernsehmoderators Tucker Carlson spekulieren: Carlson ist zwar grundsätzlich sehr sympathisch sowie seit vielen Jahren als prononciert konservative und durchaus systemkritische Stimme bekannt – viele Betrachter verdrängen dabei jedoch erfolgreich, dass Carlson ebenso wie z. B. die in diesen politischen Kreisen ähnlich beliebte Kolumnistin Ann Coulter Fleisch vom Fleische des so eifrig kritisierten Establishments ist, gerade hinsichtlich der Verbindungen zu gewissen liberalkonservativen bis libertären Stiftungen und Alumni-Organisationen. Eine solche Sichtweise auf die Trump-Präsidentschaft affirmiert letztlich den bestehenden amerikanischen Politapparat, und wer sie pflegt, wird zu gegebener Zeit für einen neuen Hoffnungsträger aktivierbar sein. Mit welchem Ergebnis auch immer.
Wer hingegen das System als solches als Problem ansieht, der stößt damit nicht nur meines Erachtens sprichwörtlich auf „des Pudels Kern“: Dass der amerikanische Koloss auf reichlich tönernen Füßen steht, ist schon seit Jahrzehnten eine Binsenweisheit. Dazu muss man nicht einmal zum Klassiker von Tocqueville zurückgreifen, „Über die Demokratie in Amerika“ von 1835; entsprechende Analysen gibt es auch aus deutlich jüngerer Vergangenheit, allerdings meist von (ehemals) linken Autoren, wodurch sie in der deutschsprachigen Rechten wenig Bekanntheit erlangt haben.
James Burnham und „Das Regime der Manager“
Aufgrund seiner besonderen Bedeutung nenne ich hier zumindest „The Managerial Revolution“ (dt. Titel „Das Regime der Manager“) von James Burnham, einem ehemaligen Trotzkisten, der wie viele seiner Genossen angesichts der rücksichtslosen Politik Stalins einen Rechtsschwenk vollzog, aber – anders als die späteren Neokonservativen, zu denen er auch in ethnoreligiöser Hinsicht nicht passte – gleichzeitig den Liberalismus als Schwächung der westlichen Verteidigungsfähigkeit ablehnte. Burnham diagnostizierte, stark verkürzt, dass sich in den Systemen der Zwischenkriegszeit eine neue Herrschaftsform jenseits der üblichen Politik erhoben habe, in der die tatsächliche Macht von wirtschaftlichen Führungskräften im Schulterschluss mit Bürokraten und Beamten ausgeübt werde, und das ideologische Grenzen übergreifend.
In den USA unter Trump haben wir besonders prominent zwei Hürden für politische Initiativen und selbst unmittelbare Anweisungen des amtierenden Präsidenten gesehen: offizielle Funktionäre, die die Ausführung schlicht verweigerten (oder, etwa hinsichtlich geplanter Truppenabzüge, absichtlich falsche Zahlen weitergegeben haben sollen), sowie Gerichte, die ergangene Verordnungen kassierten. Hüben wie drüben scheint es unmöglich, aus dem von Max Weber so bezeichneten „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ heraus gegen ebendieses Gehäuse arbeiten oder, wie Trump es nannte, „den Sumpf trockenlegen“ zu wollen.
Es bleibt festzuhalten, dass keines der hochtrabenden Versprechen Trumps an seine Kernwählerschaft eingelöst wurde. Amerikanische Truppen stehen weiterhin in Afghanistan und im Irak, die „endlosen Kriege“ ziehen also fort. Auch die versprochene und ausgerechnet von Israel inspirierte Grenzmauer zu Mexiko sucht man weiterhin vergebens. Zusammen mit den fraglichen Plänen für diese angeblichen Vorhaben werden vom neuen Präsidenten Biden nun selbst die wenigen, vorwiegend oberflächlichen und vor allem zu Wahlkampfzwecken durchgesetzten „Errungenschaften“ der Trump-Ära, wie die nominell schärferen Grenzkontrollen oder die Ablehnung von Zwangslektionen in „Critical Race Theory“ für Staatsdiener“, wieder zurückgenommen. Es bleibt also wenig bis gar nichts von der Präsidentschaft Trumps übrig, abgesehen von einer extrem polarisierten Gesellschaft und zahllosen massiv geschädigten Unterstützern des nunmehr ehemaligen Präsidenten.
Eine nicht unwesentliche Hinterlassenschaft allerdings gibt es, die Trump gleichwohl nicht wirklich aktiv vorangebracht hat: Der völlig irrationale Furor, mit dem beinahe alle US-Medien (und in deren Kielwasser die Weltpresse) über den Kandidaten und erst recht über den Präsidenten Trump hergefallen sind, hat den Status des Journalistenberufs und die Glaubwürdigkeit der Nachrichtenkanäle ins Bodenlose fallen lassen. Sie haben sicher die Bilder der demolierten Kameras vor dem Washingtoner Kapitol am 6. Januar gesehen? Das ist eine Hinterlassenschaft der Jahre 2016–2020, die sich nicht von der Hand weisen lässt – der politisch-mediale Komplex hat einige herbe Schläge kassiert, von denen er sich nicht so schnell erholen wird.
Erst Ende vergangener Woche hat das Kurznachrichten-Portal „Axios“ eine Auswertung des jährlichen „Vertrauensbarometers“ der PR-Agentur Edelman von 2012 bis 2021 präsentiert, wonach das ohnehin bereits zuvor stetig sinkende Vertrauen der US-Bürger in Medien und staatliche Institutionen heute einen historischen Tiefststand erreicht habe: Demnach seien 56 % der Amerikaner der Meinung: „Journalisten versuchen absichtlich, Menschen in die Irre zu führen, indem sie Behauptungen aufstellen, von denen sie wissen, dass sie falsch oder krass übertrieben sind.“
Man darf nun natürlich nicht darauf hoffen (wie es zweifellos dennoch etliche Wortführer auch hierzulande tun), dass „die schweigende Mehrheit“ der „Schlafschafe“ sich nun bald erheben wird. Es wird sich aber zeigen, ob der frühe „alternative Medienschaffende“ Matt Drudge mit seiner bereits 2016 geäußerten Einschätzung recht behalten wird, wonach Trump durch sein Dasein als Hassobjekt viele bereits strauchelnde Publikationen wie etwa die Jeff Bezos gehörende „Washington Post“ gerettet habe, die sich als Leuchtfeuer des „Widerstandes“ neu erfinden konnten. Diese Unternehmen müssen sich nun wieder einen neuen Daseinszweck suchen – und wenn sie nun bald endlich in die Knie gehen, kann uns das nur recht sein.
Scheitern des politischen Messianismus
Tagesstimme: Bis zuletzt glaubten viele – sei es aus Naivität, sei aus Verzweiflung – an einen „Plan“ Trumps zur Rettung der Lage. Die ganze „QAnon“-Bewegung beruhte zuletzt, teils auch angefeuert durch Aussagen Trumps, an einen solchen Plan, von dessen Nichtexistenz man aber wohl ausgehen darf. Was denken Sie, wie wird es nun weitergehen?
Wegner: Ich sehe im spektakulären Scheitern dieser grotesken Ausformung des bereits angesprochenen politischen Messianismus tatsächlich einiges Gutes. Spätestens jetzt sollten viele Zaungäste erkennen, dass in unserem politischen Feld viele von Grund auf unehrliche Akteure unterwegs sind – und damit sind bei Weitem nicht nur die ohnehin immer präsenten staatlichen Mitmischer gemeint. Vielmehr ist auf der Nachkriegsrechten, ob nun in Europa oder in den USA, immer schon eine gewisse Grundverzweiflung vorhanden, die die Menschen leicht in die Fänge von Geschäftemachern laufen lässt – jeder hat irgendein Buch, einen Masterplan fürs Überleben oder selbst Nahrungsergänzungsmittel zu verkaufen.
In den USA hat sich recht deutlich gezeigt, dass die eher intellektuellen Vertreter der (ehemaligen?) „Alt-Right“ mit der Zeit zunehmend auf Abstand zum Trump-Phänomen gegangen sind und insbesondere von der „QAnon“-Bewegung einen deutlichen Hygieneabstand gehalten haben. Zahlreiche Protagonisten der sich von den „harten“ Rechten schon lange abgrenzenden „Alt-Lite“ hingegen – man kennt Namen wie Theodore „Vox Day“ Beale, Mike Cernovich oder den Einflussagenten des US-Marinegeheimdienstes Jack Posobiec – sprangen schnell auf diesen neuen und rasanten Zug auf, und in ihrem Kielwasser auch einige deutschsprachige „alternative Medienmacher“ wie etwa der populäre Aussiedler Oliver Janich oder das „COMPACT“-Magazin. All diese Wendehälse sind seit dem 6. Januar sehr emsig um Schadensbegrenzung bemüht; zumindest, was die USA und das dort ganz vehemente Vorgehen der Bundesbehörden angeht (das natürlich vorwiegend unbescholtene Bürger trifft), darf man aber darauf hoffen, dass an dieser ganzen – man verzeihe mir das Wortspiel – SchmierenQmödie das sehr profitable Spiel dieser ganzen Aufschneider und Blender zerbrechen wird, einschließlich einer Ausforschung der fragwürdigen Finanziers, sodass am Ende nur noch der durch und durch korrumpierte republikanische Parteiapparat und einige wenige, wirklich oppositionelle Denker und Aktivisten, etwa die Gruppe „Patriot Front“ um den blutjungen Thomas Rousseau, übrig bleiben.
Man muss aus den zum Gutteil tragischen Ereignissen des „Sturms“ auf das US-Kapitol das Beste machen, und wenn es der außerparlamentarischen Rechten in den Vereinigten Staaten vor diesem Hintergrund gelingt, all ihre Parasiten abzuschütteln und damit vielleicht auch noch auf Europa abzufärben, dann wäre wirklich etwas gewonnen, sogar letztlich mehr als durch die gesamte Trump-Präsidentschaft!
Der Sturm aufs Kapitol
Tagesstimme: Wie schätzen Sie den „Sturm“ des Kapitols und seine durchaus skurril anmutende Teilnehmerschaft ein? Lag hier wirklich ein versuchter „faschistischer Staatsstreich“ vor, wie Linke in Deutschland behaupten, oder handelt es sich nicht viel mehr um eine Verzweiflungstat von politisch Naiven?
Wegner: Wir haben dank der „tollen“ Leistung all der Livestreamer und Selfies-Fotografen ziemlich genau gesehen, was dort passiert ist: Teilweise haben Sonderpolizisten die Demonstranten aktiv ins Gebäude hineingelassen, aber vor allem haben die „Qtards“ – ungeachtet ihres Eindringweges – sich im Kapitol deutlich gesitteter benommen, als die deutschsprachige Berichterstattung vom „gewaltbereiten rechten Mob“ usw. erwarten lassen würde. Zumal unter Berücksichtigung der teilweise tödlichen BLM-Ausschreitungen fast das halbe Jahr 2020 über, die man nie mit derart negativen Attributen beschrieben hat.
So oder so: Ich gestehe den Demonstranten zu, dass sie aus Verzweiflung, Unglauben und Zorn angesichts des Wahlergebnisses und der gerichtlichen Zurückweisung der vorgebrachten Klagen auf Wahlbetrug gehandelt haben. Gleichwohl muss man klar sehen und benennen, wer die dem „Sturm“ vorausgegangene Demonstration organisiert und finanziert hat: Das waren vor allem der hauptberufliche Verschwörungstheoretiker Alex Jones sowie der bereits lange bekannte Betrüger Ali
„Alexander“ Akbar nebst ihrer vielen Mitarbeiter – sie alle haben aus der zunehmenden Verzweiflung der weißen republikanischen Basis ein Geschäftsmodell gemacht und werden sich nun dafür verantworten müssen.
Die wirklich akut Leidtragenden, insbesondere die im Kapitol grundlos erschossene Frau, wird hingegen niemand beklagen – sie werden allenfalls als Bauernopfer für die Machtsicherung des weiter bestehenden Systems in die Geschichte eingehen. Das ist tragisch, aber man darf hier nicht allein durch mitleidige Augen blicken. Der besagte politische Messianismus, die grund- und grenzenlose Hoffnung auf eine einzige Lichtgestalt, die durch geschwätzige Livestreams, sinnlose Predigten oder scheinbar geistreiche Aktionen die große Wende bringen soll, ist auch hierzulande ein großes (wenn auch für Einzelne ertragreiches) Problem und muss dringend abgestellt werden.
„Alt-Right“ und „Alt-Lite“
Tagesstimme: In den USA hat sich ein, aus deutschen Augen, recht diffuses und heterogenes Spektrum gebildet, dass man wohl im weitesten Sinne als Unterstützer Trumps werten kann und das zum Teil auch an der „Stürmung“ des Kapitols beteiligt war. Von (teils völlig unpolitischen) Milizen über die bereits erwähnte „QAnon“-Bewegung und Straßenaktivistengruppen wie den Proud Boys und der Patriot Front hin zur Alt-Right und abschließend mit radikalen Randgruppen wie etwa dem scheinbar nie aussterbenden Ku-Klux-Klan gibt es ein ganze Bandbreite an Akteuren und Positionen. Dabei ist es gerade um die Alt-Right als die die letzten Jahre die Schlagzeilen dominierende Strömung scheinbar ruhig geworden. Wie stellt sich die politische Lage abseits Trumps und der „grand old party“ dar?
Wegner: Die seinerzeitige „Alt-Right“, ein ungemein facettenreiches Konglomerat irgendwie konservativer bis rechter Akteure außerhalb des republikanischen Parteiapparates, ist vom Ausgang der Präsidentschaftswahl 2020 wenig berührt worden. Für sie und ihr Verhältnis zu Trump, den sie noch 2016 halb ironisch „ins Amt gememt“ haben wollte, waren vielmehr zwei Ereignisse bereits 2017:
Erstens einmal der bereits erwähnte US-Raketenangriff auf einen syrischen Militärflugplatz Anfang April 2017. Wiewohl dieser Schlag weitgehend symbolische Funktion haben sollte – syrische Todesopfer gab es dennoch, und Entsetzen seitens zahlreicher ehemaliger Trump-Fürsprecher aus den Reihen der alternativen US-Rechten, die dem Präsidenten den Bruch seines Versprechens vorwarfen, die amerikanischen „endlosen Kriege“ im Nahen Osten zu beenden. Wenige Tage nach dem Raketenangriff
organisierte „Alt-Right“-Galionsfigur Richard Spencer zusammen mit einigen Akteuren aus dem Umfeld des Mediennetzwerks „The Right Stuff“ sogar eine kleine Antikriegsdemonstration in Washington, was zu der grotesken Situation führte, dass ihnen eine Horde Antifa-Aktivisten entgegenstand, um also für den Krieg einzutreten.
Das zweite, ungleich schwerer wiegende Ereignis war die abgebrochene Kundgebung für den Erhalt des Robert-E.-Lee-Standbildes in Charlottesville (Virginia) am 12. August 2017, in deren Nachgang es zu bürgerkriegsartigen Szenen kam und letztlich eine Gegendemonstrantin gegen die von der Polizei zerstreuten rechten Aktivisten ums Leben kam, als ein von bewaffneten Antifa-Aktivisten angegriffener „Alt-Right“-Anhänger in Panik seinen Pkw in eine Menschenmenge steuerte. Darüber ist bereits viel geschrieben worden, auch von mir selbst, und ich möchte hier fast vier Jahre später nicht noch einmal ins Detail gehen.
Spätestens nach diesem Debakel aber und der völligen Tatenlosigkeit Trumps, der seine (ehemaligen) hoch aktiven Unterstützer der Verfolgung durch korrupte Behörden und gewaltbereite Autonome auslieferte, war die Kluft zwischen dem Präsidenten und den intelligenten Vertretern der „Alt-Right“ nicht mehr zu überbrücken. Seither wurde seine Politik in „alternativrechten“ Kreisen vorwiegend kritisiert und dekonstruiert, insbesondere seine fortwährende Untätigkeit hinsichtlich der drangsalierten weißen Mittelschicht, deren Heiland er doch hatte sein sollen. Dementsprechend sind gerade die klügsten Köpfe der „Alt-Right“ noch da, auch wenn der Begriff nicht mehr oft gebraucht wird und sich allerlei kleine Lager gebildet haben, und viele ihrer kritischen Prognosen hinsichtlich der Trump-Ära sind letztlich bestätigt worden.
Auf der anderen Seite stehen die Vertreter der betont antirassistischen und systemkonformen, von außen sarkastisch als „Alt-Lite“ bezeichneten „patriotischen“ Organisationen und Interessengruppen – derzeit dürfte Nicholas J. Fuentes mit seiner Marke „America First“ einer der bekanntesten Protagonisten dieser sich als „noch respektabel“ präsentierenden Richtung sein. Andere Namen habe ich oben schon genannt; frühe prominente Wortführer haben sich in der Zwischenzeit völlig desavouiert, allen voran der überall in Ungnade gefallene homosexuelle Berufsprovokateur Milo Yiannopoulos, der mittlerweile verzweifelt versucht, zur Schuldendeckung seine privaten Szene-Interna an das FBI zu verkaufen, oder Kyle „Based Stick Man“ Chapman, der sich ebenfalls als charakterlicher Abschaum erwiesen hat.
Diese Gestalten sind selbstverständlich rundheraus zu verdammen – sie sind aber auch ein Stück weit Produkte der extremen Polarisierung und unablässigen Eskalation innerhalb einer ethnisch, politisch und kulturell zerrissenen Gesellschaft, die gleichzeitig vom Denken und Fühlen entlang medialer Spektakel durchtränkt ist und deshalb zu Exzessen aller Art und theatralischen Selbstdarstellungen tendiert. Es bleibt dabei: Diese „Bewegung“ der politischen Kaffeesatzleser, Geschäftemacher und Asphaltintellektuellen wird die Nachbeben des Aufruhrs vor dem und im Washingtoner Kapitol nicht überleben, und niemand, der bei klarem Verstand ist, wird sie vermissen.
Tagesstimme: Unabhängig der Sympathieverteilung heißt der neuer Präsident der USA Joe Biden. Was hat die USA, die Welt und insbesondere Europa von einer Regentschaft Bidens zu erwarten? Und wie sähe es, angesichts Bidens Alter und seiner schon jetzt berüchtigten geistigen Ausfälle, bei einer Amtsübernahme seiner Vizepräsidentin Kamala Harris aus?
Wegner: Schon jetzt ist Bidens Parole „America is back“ zu einem geflügelten Wort geworden. Ihm ging es dabei eigentlich vor allem um das Ende des Trump-Mantras von „America first“ und der zeitweiligen Abkehr von verschiedenen internationalen Abkommen. Es steht jedoch längst – vor allem für Skeptiker – weitaus umfassender für die Rückkehr zur tragischen Normalität der US-Politik. Das Polit-Establishment, das die Parteiengrenzen von Demokraten und Republikanern transzendiert, sitzt nun wieder umso fester im Sattel. Da spielt es dann auch nicht mehr wirklich eine Rolle, ob Biden noch die volle Amtsperiode durchhält oder irgendwann wegen Ablebens oder Amtsunfähigkeit durch die Vizepräsidentin Harris abgelöst werden muss:
Die Strippenzieher innerhalb der Demokraten haben ihre Partei fest unter Kontrolle, lassen (Links-)Abweichler vom Standardkurs – denken wir an die zeitweiligen Präsidentschaftskandidaten Andrew Yang oder Bernie Sanders sowie Verbalradikale wie Alexandria Ocasio-Cortez – am ausgestreckten Arm verhungern und sorgen zusammen mit den allgegenwärtigen Spendern und Lobbyisten dafür, dass nach den unverhofften Trump-Jahren wieder „Stabilität“ einkehrt und auch hält. Bereits in der Endphase des Wahlkampfes war absehbar, dass ein nicht geringer Anteil der Funktionäre in zweiter und dritter Reihe den administrativen Kadern Barack Obamas entstammen würde – wir dürfen also davon ausgehen, dass sich mittelfristig einige politische Traditionslinien zu Obama mit seiner intensiven Drohnenkampfführung und anderen weltweiten Widerwärtigkeiten zeigen werden.
Tagesstimme: Ob nun unter Donald Trump oder Joe Biden, die USA sehen sich mit massiven Problemen konfrontiert und mehr als ein politischer Betrachter prognostiziert bereits einen Zusammenbruch des „Imperiums“. Was ist Ihre Erwartung für die nächsten Jahre?
Wegner: Lassen wir weltweit präsente Krisenerscheinungen, also COVID-19, die Klimafrage und die Weltwirtschaft, einmal außen vor. Wir sehen bereits jetzt, dass die ausschließlich durch ihre Anti-Trump-Position zusammengehaltene Koalition aus Demokraten-Establishment, beckmesserischen Republikaner-Funktionären, identitätspolitischen Aktivisten, radikalen Linken und globalistischen Plutokraten schneller wieder auseinanderfällt, als Biden seine ersten präsidialen Verordnungen unterschreiben kann. Bereits vor der Wahl machten verschiedene BLM-Vandalen deutlich, dass es ihnen nicht um die Absetzung Trumps, sondern ausschließlich um die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen geht; bereits unmittelbar nach der Wahl griffen Antifa-Aktivisten Liegenschaften der Demokratischen Partei an. Die Knüppelgarde des politischen Apparates begnügt sich nicht mit Brotkrumen vom Tisch der Eliten oder der bloßen Zufriedenheit damit, den ach so faschistischen „orangefarbenen Mann“ aus dem Weißen Haus gejagt zu haben.
Umgekehrt ist Biden und Harris ohne Weiteres zuzutrauen, weitaus härter gegen die Unruhestifter von Antifa und „Black Lives Matter“ vorzugehen, als dies unter dem angeblichen „Faschisten“ Trump je geschehen ist. Nicht allein deswegen, weil kaum zu erwarten ist, dass sie Chaos auf den Straßen zu ihrem eigenen politischen Fortkommen nutzen werden: Biden hat sich in seiner enorm langen Karriere als Abgeordneter einen Namen als Paragrafenreiter gemacht, und Harris hat als Juristin vor allem in Bezug auf Strafmaßregelungen sehr harte Positionen vertreten. Der sprichwörtliche „lange Arm des Gesetzes“ allein wird aber nicht ausreichen, um den „furchtbaren Spalt“ (so Joe Biden 2004) inmitten der US-Gesellschaft zu schließen.
Der Soziologe Robert Putnam hat in seinem berühmten Werk „Bowling Alone“ im Jahr 2000 nachgewiesen: Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten befindet sich bereits seit Jahrzehnten in einer stetigen Drift, die sich in den vier Trump-Jahren erheblich beschleunigt hat und die auch ein Präsident Biden oder eine mögliche Präsidenten Harris nicht stoppen wird. Was letztlich am Ende dieses Niedergangs stehen und wie lange er dauern wird, das vermag ich nicht zu beurteilen. Man kann sich aber sicher sein, dass auch in diesem Fall der sterbende Titan in seiner Agonie noch einmal wild um sich schlagen wird: (Nicht nur) US-Präsidenten nutzen nur allzu gern militärische Abenteuer, um von innenpolitischen Problemen abzulenken – Biden hat bereits wieder Truppen provokativ in Syrien einfallen lassen. Und auch wenn schon seit langer Zeit, schon lange vor Trump, wieder viel von Sezessionsbestrebungen einzelner US-Bundesstaaten oder -Regionen die Rede ist: So lange es noch eine US-Regierung gibt, wird diese so etwas nicht zulassen und notfalls mit Waffengewalt verhindern. Wenn die USA einmal auseinanderbrechen, und wann auch immer das passieren wird, so wird es dabei keine Gewinner geben, allenfalls lachende Dritte und Millionen von Verlierern, und zwar weltweit. Es verbietet sich daher jede voreilige Schadenfreude.
Über den Interviewpartner:
Nils Wegner, Jahrgang 1987, studierte Geschichts- und Kulturwissenschaften. Er arbeitet seit 2014 über die und mit der außerparlamentarischen „Alt-Right“ in den Vereinigten Staaten. Wegner arbeitete von 2015 bis 2017 als Lektor im Verlag Antaios und ist heute vor allem als Übersetzer tätig. Seine persönliche Website findet sich unter altwritewegner.com. Die US-Präsidentschaftswahl 2020 hat er u. a. im Podcast „Lagebesprechung“ analysiert.