Ungarn: Die Entscheidung des EU-Parlaments ist ein Gütesiegel
In einer Resolution stimmte das EU-Parlament mehrheitlich für eine Erklärung, die Ungarn als „Wahlautokratie“ klassifiziert. Zudem will die EU-Kommission Zahlungen an Ungarn um einige Milliarden kürzen. Die Journalistin Zita Tipold erkennt in diesen Entscheidungen ein „Gütesiegel für Ungarn“.
Ungarn ist Europas Fels in der Brandung, wenn es um die Bewahrung des Eigenen geht. Daher peitschen die Wellen der EU-Politik auch unablässig auf das Land ein. Während Budapest sich in der Regel unbeeindruckt von den Attacken zeigt, legt es Brüssel immer wieder darauf an, eine Eskalation herbeizuführen. Einen weiteren Schritt hin zu einem gänzlich zerrütteten Verhältnis gingen die EU-Abgeordneten am Donnerstag, als sie mehrheitlich eine Entschließung annahmen, die Ungarn den Demokratiestatus absprach. Das Land sei mittlerweile ein „hybrides System der Wahlautokratie“, heißt es in der Resolution.
Die Attacke auf Ungarn beschränkte sich indes nicht auf das klassisch linke Lager – darunter mehrere ungarische Parlamentarier. Auch der Jobbik-Abgeordnete Márton Gyöngyösi entschied sich zum Dolchstoß gegen das eigene Land. Wer die Jobbik noch als rechtsradikale Gruppierung kennt, deren Anhängerschaft sich bis zur altrechten Szene erstreckte, wird dieses Abstimmungsverhalten womöglich überraschen. Die Partei hat schon vor wenigen Jahren einen 180-Grad-Wandel vollzogen. Die glatzköpfigen Sonnenbrillenträger schlossen sich der Abspaltung Mi Hazank (Unsere Heimat) an. Währenddessen erfand sich die Jobbik völlig neu und gibt sich jetzt als geläuterte, liberale Partei.
Die Vorwürfe vonseiten der EU gegen Ungarn sind immer die gleichen: Defizite in Sachen Pressefreiheit, Korruption, mangelnder Minderheitenschutz. Wenn es wirklich darum ginge, gäbe es wohl keinen einzigen Mitgliedsstaat, in dessen Demokratiezeugnis eine bessere Note als „mangelhaft“ vermerkt wäre. Der ständige Fingerzeig auf Budapest ist die verzweifelte Suche nach Gründen, um gegen das vorzugehen, was den EU-Staaten wirklich bitter aufstößt: der ungarische Sonderweg in Sachen Multikulti, „LGBTQ“-Rechten und Co.
So sieht es auch Justizministerin Judit Varga (Fidesz). Die Mission der EU sei eine „Hexenjagd“ gegen ihr Land, das sich dem ideologischen Zwang aus Brüssel nicht beuge, kritisierte sie gegenüber der portugiesischen Tageszeitung Diário de Notícias. Der politische Gegner werde nicht Ruhe geben, bis in Budapest eine „liberale Demokratie“ etabliert sei.
Fidesz hat mehr Rückhalt als jede deutsche Partei
Wenn man den Begriff Demokratie an seiner ursprünglichen Bedeutung misst, also den Komponenten „demos“ und „kratos“, erfüllt Ungarn den Anspruch mitunter besser als etwa Deutschland. Schließlich gewann die Regierungspartei (gemeinsam mit der kleinen christlich-demokratischen KDNP als Anhängsel) erst im April die Parlamentswahlen mit mehr als 52 Prozent der Stimmen, während das orientierungslose Oppositionsbündnis aus sieben Parteien bei 37 Prozent abschmierte. Der Fidesz hat damit deutlich mehr Rückhalt in der Bevölkerung als jede deutsche Partei.
Allerdings wird der Begriff Demokratie insbesondere in den westeuropäischen Mitgliedsstaaten mittlerweile ohnehin nur noch als sinnentleerte Moralhülse verwendet. Wenn von „demokratischen Werten“ gesprochen wird, ist in der Regel die Zustimmung zu explosiven Gesellschaftsexperimenten wie unkontrollierter Masseneinwanderung oder bizarren Gender-Utopien gemeint. Folglich gilt nur eine liberale Demokratie in Brüssel als wahre Demokratie. So gesehen ist die Entscheidung des EU-Parlaments auch ein Gütesiegel für Ungarn.
Orbán wirbt für „illiberale Demokratie“
Orbán hatte sich in der Vergangenheit mehrfach hinter eine „illiberale“ Variante der Herrschaftsform gestellt. „Im liberalen System sind die Gesellschaft und die Nation nichts anderes, als die Summe von miteinander im Wettbewerb stehenden Individuen. Was sie zusammenhält, das sind die Verfassung und die Marktwirtschaft. Es gibt keine Nation, oder wenn es sie doch gibt, dann gibt es nur die politische Nation“, verdeutlichte er 2019. Dagegen gelte die Nation aus dem illiberalen Blickwinkel als historisch und kulturell bestimmte Gemeinschaft, die sich als eigenständiger Organismus in einem Prozess herausgebildet habe. Es gehe darum, diese Gemeinschaft zu schützen, damit sie in der Welt bestehen könne.
Die Entschließung über Ungarns Demokratiestatus, die nicht bindend ist und eher auf einen „Imageschaden“ für das Land abzielt, ist die eine Sache. Nun drohen Budapest jedoch zusätzlich finanzielle Einbußen. Die EU-Kommission regte am Sonntag an, die Zahlungen an Ungarn aus dem gemeinsamen Haushalt um 7,5 Milliarden Euro zu kürzen. Als Grund nannte EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn Korruption sowie angebliche Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit. Ein entsprechendes Verfahren ist seit April bereits in Gange.
Der Vorstoß ist ein Dammbruch. Noch nie zuvor hat die EU-Kommission Gebrauch von dem Sanktionsmechanismus gemacht. Mindestens 15 Mitgliedsstaaten mit 65 Prozent der EU-Bevölkerung müssen dem Vorschlag zustimmen, damit er in Kraft tritt. Einen Gefallen würde sich Brüssel damit nicht tun. Schon jetzt hat Ungarn die Sympathie vieler konservativer und rechter Kräfte auf seiner Seite. Bei aktuellen Parlamentswahlen in den Mitgliedsstaaten zeichnet sich überdies ein Trend ab, der sich nicht nur auf Ungarn beschränkt: Zunehmend stehen sich zwei Blöcke – Linke und Rechte – gegenüber. Immer wieder ist die Entscheidung haarscharf. Zuletzt zeigte sich dies in Schweden. Die EU sollte also abwägen, wie viel Konfrontation sie wagen will.
Zur Person:
Zita Tipold, geboren 1995, ist Redakteurin bei der konservativen Wochenzeitung Junge Freiheit aus Berlin und studierte Geschichte sowie Deutsche Literatur in Konstanz. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über Viktor Orbán als Identifikationsfigur für ein unabhängiges Ungarn. Sie hat ungarische Wurzeln und Familie in dem Land.
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