Freilich #36: Ausgebremst!

Geschichte und wer sie erzählt – ein Trauerspiel

Geschichte wird nicht mehr gedeutet, sondern diszipliniert. Wer Herkunft und Vergangenheit als Quelle von Identität begreift, gilt nicht als gefestigte Persönlichkeit, sondern macht sich verdächtig. FREILICH-Redakteur Mike Gutsing kritisiert den Umgang mit unserer Vergangenheit.

Kommentar von
31.10.2025
/
3 Minuten Lesezeit
Geschichte und wer sie erzählt – ein Trauerspiel

Der Blick zurück: Erkennen wir uns selbst? (Symbolbild)

© IMAGO / rheinmainfoto

Der Reformationstag, für manche mehr Trauer- als Feiertag, hat sich in der Breite der Gesellschaft längst seiner ursprünglichen Bedeutung entledigt. Völlig unbeeindruckt von den Konfessionsgrenzen hat „Halloween“ alle ursprünglichen oder hinzugedichteten Bräuche in der Breite verdrängt und sitzt als Pfropf der Massenkultur auf dem Datum wie ein festgebackener Hefekloß. Im Orange des Herbstlaubs und der omnipräsenten Kürbiskult-Devotionalien finden traditionell überall in Deutschland auch wieder vermehrt Bauern-, Herbst- oder auch die beliebten Mittelaltermärkte statt. Zwischen Rauch, Troubadourklängen und dem Duft von gebratenem Fleisch scheint die Zeit dort stillzustehen.

Der Mittelaltermarkt lockt Besucher in eine Welt, die nie wirklich so war und doch vertraut wirkt. Händler in Leinen und Leder preisen ihre Ware an, Ritter polieren blanke Helme, Kinder staunen über das Feuer in der Schmiede. Es ist ein Mittelalter der Sehnsucht: sauber, bunt und friedlich. Keine Pest, kein Hunger, sondern Handwerk, Gemeinschaft und Einfachheit. Die Besucher suchen hier weniger Geschichte als ein Gegenbild zur Gegenwart – Entschleunigung, Überschaubarkeit, Sinnlichkeit. Es ist das Mittelalterbild der Romantik, heruntergekocht auf die Essenz des Zusammenlebens in einer verständlichen und vor allem überschaubaren Ordnung der Dinge „von der Krone bis zur Schürze“.

Wenn Romantik zum Verbrechen wird

Gerade für Linke ist diese historische Behaglichkeit doch vor allem eins: verdächtig. Wer sich in vorbundesrepublikanischen Ordnungen und deren Ideen wohlfühlt, der ist schon auf der Hälfte der Strecke zum Staatsfeind. So reicht schon ein „Barbarossa-Humpen“ auf dem Tisch aus, um eine Verbindung von Mittelalter und staatsgefährdenden Ideen zu belegen, zumindest wenn man dem Hamburger Professor Christoph Dartmann Glauben schenkt. Natürlich nicht ohne den obligatorischen BERND-Witz über den Thüringer AfD-Fraktionschef Björn Höcke dichtet er den Akteuren nicht nur einen missbräuchlichen Umgang mit dem europäischen Mittelalter, sondern auch eine Gefahr für den liberal-demokratischen Rechtsstaat an.

Bereits die Erkenntnis, dass die eigene kulturelle Vergangenheit, zu der das europäische Mittelalter zweifellos gehört, eine identitätsstiftende, gesellschaftlich stabilisierende Wirkung haben könnte, ist verdächtig. So konstatiert die Historikerin Sabine Schmolinsky, die bis 2024 Professorin für mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt war: „Die nationalsozialistische Formulierung ist erkennbar, aber nicht erkennbar. Und die Vorstellung ist eindeutig“, und bezieht sich auf Zitate aus Höckes Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“ (Manuscriptum 2018). Der positive Rückbezug auf das Mittelalter wird nicht nur abwertend beurteilt, sondern durch die Nähe zum NS in ein fast schon pseudokriminelles Licht gerückt.

Vergangenheit? – Nur als Zerrbild

Wirrer werden die Analogien in einem Artikel vom Spiegel aus dem Mai dieses Jahres: Vom Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant über den Ku-Klux-Klan und den Nationalsozialismus wird eine Brücke zur AfD und Donald Trump gespannt. Und obwohl die These des „Mittelalters im Dauerkriegszustand“ als überholt erklärt wird (wer hat diese denn vertreten?), wiederholt man den Mythos vom „rückständigen“ Mittelalter. Abgerundet wird das Schauerbild mit einem Rückgriff auf Anders Breivik und militante Teile der US-amerikanischen Alt-Right-Bewegung, um die Gefährlichkeit dieses Denkens zu untermauern. „Alternativ könnte man wohl auch Monty Pythons Filmklassiker 'Die Ritter der Kokosnuss' von 1975 auf den Lehrplan setzen. Dort sind die Krieger aus dem Mittelalter vor allem eins: Witzfiguren.“

Die Aufgabe der Geschichte

Wer Geschichte nur als Warnung für die Gegenwart erzählt, verhindert, dass sie verstanden wird. Historiker deuten heute, was war, nicht mehr, um zu erklären, sondern um moralisch zu markieren. Journalisten übersetzen diese Haltung in Schlagzeilen, Lehrer schließlich in pädagogische Routine. Gemeinsam verteidigen sie, so heißt es, die Demokratie, doch tatsächlich schützen sie ihre eigene Deutungshoheit. Wer 1000 Jahre Geschichte hinter sich weiß, fürchtet nicht den nächsten Tag. Wer keine Angst vor der Zukunft hat, nicht aus Unwissenheit, sondern weil er aus auf einen jahrhundertelangen Geistesschatz unabhängig von Denkschranken zurückgreifen kann, lässt sich nicht aufhetzen.

Verdächtig ist es, wer sich so aktiv für die Trennung von Geschichte, Herkunft und Gegenwart einsetzt. Die vermeintliche liberale Demokratie zu verteidigen, ist längst zum Platzhalter für jede Form historischer Selbstvergewisserung geworden. So wird Geschichte nicht mehr erinnert, sondern gezähmt, und Bildung verliert ihren Sinn: Menschen zu befähigen, aus der Vergangenheit heraus sich selbst zu verstehen.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Mike Gutsing

Mike Gutsing, Jahrgang 1999, hat Geschichte studiert und lebt in Mitteldeutschland. Das besondere Interesse des Korporierten gilt der deutschen Geschichte und Kultur.

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