Wagenknecht, Linkspopulismus und die AfD – Interview mit Benedikt Kaiser (I)

Mit ihrer neuen Sammlungsbewegung „Aufstehen“ will Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht für neue linke Mehrheiten in der deutschen Innenpolitik sorgen. Im Gespräch mit der Tagesstimme erklärt der deutsche Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser, wie er die Chancen dieser linken Sammlungsbewegung einschätzt, was sie von anderen europäischen Linksbewegungen unterscheidet und ob sie der Alternative für Deutschland (AfD) gefährlich werden könnte.
Interview von
9.8.2018
/
5 Minuten Lesezeit
Wagenknecht, Linkspopulismus und die AfD – Interview mit Benedikt Kaiser (I)

Bild: Benedikt Kaiser

Mit ihrer neuen Sammlungsbewegung „Aufstehen“ will Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht für neue linke Mehrheiten in der deutschen Innenpolitik sorgen. Im Gespräch mit der Tagesstimme erklärt der deutsche Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser, wie er die Chancen dieser linken Sammlungsbewegung einschätzt, was sie von anderen europäischen Linksbewegungen unterscheidet und ob sie der Alternative für Deutschland (AfD) gefährlich werden könnte.

Die Tagesstimme: Herr Kaiser, ab September startet die von Sahra Wagenknecht initiierte linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Wie lautet Ihre Einschätzung: Scheiterndes Online-Phänomen oder erfolgreiche Bewegung?

Kaiser: Eine abschließende Antwort wäre unseriös. Aber eine Tendenz zeichnet sich ab, und meines Erachtens wird das Projekt, das unter dem Titel #aufstehen firmiert, ein Reinfall werden. Dafür spricht einiges, v. a. aber das Argument, dass diese „Bewegung“ letztlich keine Bewegung ist. Denn eine Bewegung, die von wenigen Köpfen erdacht und entwickelt wird, ist keine. Eine Bewegung, die am Reißbrett geplant wird, ohne lebendige Prozesse der Basis aufzuweisen, ist keine. Eine Bewegung, die eine solche Basis erst gar nicht aufweisen kann, sondern sie zunächst über Newsletter generieren möchte, ist keine, auch wenn 35.000 Menschen sich eintragen. Eine Bewegung schließlich, die mit allgemeinen Wohlfühlfloskeln operiert, ohne von vornherein grundsätzliche Ansätze wenigstens erkennen zu lassen, ist keine Bewegung.

„Ein letztes Aufbäumen linkssozialdemokratischer Restvernunft“

Man mag einwenden, dass Wagenknechts Team auf kluge Politiker zurückgreifen kann, und ja, es gibt eine Handvoll. Mit Bernd Stegemann hat man zudem einen Wissenschaftler und Publizisten an der Seite, der aktuelle Lageanalyse und populistische Theorie vermitteln kann. Doch: So entsteht keine Dynamik, und die relevanten Akteure von SPD, Grünen und Linkspartei gehen bereits jetzt auf Abstand. Das liegt natürlich an der entstehenden Konkurrenzsituation, an Wagenknecht, am Doyen der Linken Lafontaine usw. Es liegt aber auch daran, dass die bundesdeutsche Linke die Notsituation, in der sie sich befindet, nicht begreifen will; sie ist erkenntnisblind, ideologisch auf Irrwegen und inhaltlich wie strategisch erfreulich beratungsresistent.

#aufstehen wird daher, so lautet meine kurz- und mittelfristige erste Prognose, kein Rettungsanker für die Linke bedeuten, sondern stellt ein letztes Aufbäumen linkssozialdemokratischer Restvernunft dar, gepaart mit nationalstaatlicher Pragmatik – die dem sonstigen linken Lager freilich bereits zu weit geht!

Die Tagesstimme: Was unterscheidet „Aufstehen“ von anderen europäischen Linksbewegungen wie beispielsweise „La France insoumise“ von Jean-Luc Mélenchon?

Kaiser: Das „Unbeugsame Frankreich“ von Mélenchon ist ein Paradebeispiel für einen starken linken Populismus mit ordentlicher Verankerung im Volk. Er ist, wie die Wagenknecht-Formation, eine Kopfgeburt, aber Mélenchon hatte von vornherein eine Massenbasis. Das Projekt von oben war die Folge eines relevanten Drucks von unten und umgekehrt. Das fehlt eben in Deutschland. Es gibt keine „linkspopulare“ Masse auf der Straße. Mélenchon gewann ja als Spitzenkandidat des Wahlbündnisses La France insoumise, deren Kern durch seine Partei Linksfront gestellt wurde, respektable 19,58 Prozent. Somit ließ er nicht nur die Sozialdemokraten weit hinter sich.

„Wagenknecht muss dauerhaft mit Handbremse fahren“

Ähnlich wie beim Front National liegt beim Front de Gauche eine Weltanschauung zugrunde, für deren Verbreitung man einerseits volksnah auftritt und andererseits einen populistischen Stil der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern wählt. Mélenchon ist offensiver, mutiger, aggressiver als das Team Sahra. Das liegt natürlich auch an der virulenten Selbstlähmung der deutschen Linken, wenn es um positive Bezüge auf das Volk oder die Nation geht. Das ist Franzosen weitgehend fremd. Mélenchon redet andauernd vom Volk, der Nation, lässt französische Fahnen schwenken: Das ist stilprägend und zugleich undenkbar für eine linkspopulistische Bewegung in Deutschland. Wagenknecht muss dauerhaft mit Handbremse fahren. Das macht jedes Auto kaputt, auch wenn es noch so hoch gepriesen wird vom Gros der Marktschreier.

Die Tagesstimme: Frau Wagenknecht ist innerhalb der Linkspartei unter anderem wegen ihren Äußerungen zur verfehlten Asyl- und Einwanderungspolitik der Bundesregierung nicht unumstritten. Könnte Sie mit ihren einwanderungskritischen Tönen gefährlich werden für die AfD? Wie sollte die AfD darauf reagieren?

Kaiser: Sie könnte nur gefährlich werden, wenn die Linke sie frei agieren ließe und sie keinen Maulkorb tragen würde. Aber sie wird durch antifaschistische Akteure permanent in den Fokus genommen und eingehegt. Das ist die große Chance für die AfD, denn dass an sich eine Wagenknecht-Bewegung rund 25 Prozent der Deutschen erreichen könnte, weiß nicht nur die BILD. Es ist klar: Neben der Migration beschäftigen sich die Deutschen vor allem mit sozialen Fragen wie Rentenpolitik, Pflege oder allgemeiner: der Zukunft des Sozialstaates. Hier kann Wagenknechts Mannschaft nicht frei agieren, weil sie sonst, Sie deuten es ja an, innerhalb der eigenen Kreise angefeindet wird.

„Große Chance für eine soziale AfD“

Das ist die große Chance für eine soziale AfD, die es ernst meint mit der sozialen Neuausrichtung. Dass die Stunde des Populismus gekommen ist, da bin ich mir sicher. Und zwar eines solchen, der „identitär“ rückgebunden ist an Paradigmen wie Sozialstaatlichkeit, Gemeinschaft und Solidarität. Weder die Krise des Finanzmarktkapitalismus ist überwunden, noch diejenige des Euro als Gemeinschaftswährung, noch die der Migration. Die Chance jeder volksnahen Politik, unterstützt durch konservative Publizistik und Denkfabriken, wächst im selben Moment, in dem die wichtigsten Akteure des medialen, politischen und wirtschaftlichen Establishments des Landes, kulminierend im öffentlich-rechtlichen Milieu, zur permanenten Krisenleugnung übergehen und die Diffamierung all jener fortsetzen, die zu intervenieren wagen.

Wenn die Populismus-Forscherin Karin Priester recht hat, dass sich die grassierende „populistische Revolte“ (und dass sie grassiert, bestätigt explizit das Aufkommen der Wagenknechtbewegung links der Mitte) vor allem gegen einen Nomenklatura-Komplex des Staates richtet, „der sich hinter einem Wall verschanzt hat“, dann werden es rechte bzw. konservative Akteure sein müssen, die diesen Wall niederreißen. Die Linke ist gelähmt, zerstritten, volksfern.

Die Tagesstimme: Sie selbst haben in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass die Rechte bzw. auch die AfD sich der sozialen Frage vermehrt annehmen müsse. Welche Grundsätze müsste eine solche „soziale Rechte“ vertreten?

Kaiser: Das lässt sich schneller beantworten.

Erstens: Eine sozialorientierte Rechte betreibt keine sozialpolitische Camouflage, sondern meint es so, wie sie es sagt.
Zweitens: Eine sozialpolitische Rechte formiert sich entlang der Anker Sicherheit, Identität und Solidarität, fordert und formuliert eine Politik für die große Mehrheit der Bevölkerung, ist kapitalismuskritisch auf der Höhe der Zeit, beschäftigt sich mit den Problemfeldern Digitalisierung und Hyperglobalisierung, lehnt libertäre Floskeln aus innerer Überzeugung ab und geht Ideologen nicht auf den Leim, die aufgrund derzeit falscher Umverteilungspolitik und ebenso derzeit falscher Besteuerung per se den Sozialstaat in Frage stellen.

Drittens verspricht eine authentische soziale Rechte keine Neujustierungen im Rahmen einer „Sozialen Heimatpartei“ und dreht sich dann, nach erfolgreicher Wahl, um – in Richtung eines Privatisierungsruns gegen kommunales Eigentum, in Richtung einer unsozialen Arbeitsmarktpolitik, die nicht den abhängig Beschäftigten, sondern lediglich den Konzernen und Unternehmern im Rahmen des neoliberalen Mantra der „Flexibilisierung“ dient.


Das war Teil I des Interviews mit Benedikt Kaiser. Lesen Sie am Freitag den zweiten Teil. Darin geht es um das Konzept der „Querfront“ und ob Karl Marx  im 21. Jahrhundert wieder aktuell wird. Teil zwei lesen.

Zur Person:

Benedikt Kaiser ist Jahrgang 1987 und studierte in Chemnitz Politikwissenschaft mit europaspezifischer Ausrichtung (M. A.). Sein Forschungsschwerpunkt gilt den Faschismus- und Totalitarismus-Studien, der geopolitischen Lage in der Levante sowie dem Themenkomplex der »sozialen Frage«.

Seit 2013 schreibt Kaiser für Sezession im Netz. Außerdem publiziert er regelmäßig in der österreichischen Quartalsschrift Neue Ordnung, unregelmäßig außerdem für Compact, éléments (Paris) und Tekos (Mechelen/Belgien). Er arbeitet als Verlagslektor.

Bisher Buchveröffentlichungen:

  • Marx von rechts (= Jungeuropa Theorie, Bd. 2), Dresden 2018 (zusammen mit Alain de Benoist und Diego Fusaro)
  • Querfront (= reihe kaplaken, Bd. 49), Schnellroda 2017
  • Phänomen Inselfaschismus. Blackshirts, Blueshirts und weitere autoritäre Bewegungen in Großbritannien und Irland 1918-1945, Kiel 2013 (zusammen mit Eric Fröhlich)
  • Eurofaschismus und bürgerliche Dekadenz. Europakonzeption und Gesellschaftskritik bei Pierre Drieu la Rochelle, Kiel 2011

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