Wiener Lehrerin schlägt Alarm: „Schüler können sich nicht richtig anziehen, keinen Stift halten“
Viele Wiener Schulanfänger scheitern nicht nur an mangelnden Sprachkenntnissen, sondern auch an grundlegenden Dingen wie dem Führen eines Stiftes oder dem Essen mit Besteck, wie eine Wiener Pädagogin beschreibt.
Wien. – In den letzten Wochen und Monaten häufen sich die Berichte über Schüler in Wien, denen es an Sprachkompetenz mangelt. Doch das ist offenbar nicht das einzige Problem, mit dem Pädagogen in der Hauptstadt zu kämpfen haben. Wie der Standard jetzt berichtete, zieht eine erfahrene Wiener Pädagogin eine bittere Bilanz: Viele Erstklässler brächten nicht die grundlegenden Fähigkeiten für die erste Klasse mit. Sie könnten sich nicht richtig anziehen, keinen Stift halten, nicht mit einer Schere schneiden oder mit Messer und Gabel essen. Auch das Einhalten einfacher Regeln sei oft ein Problem. Die Kinder scheiterten an „banalen Kulturtechniken“, erklärt die Pädagogin.
Fast 100 Prozent Migrantenanteil
Ihre Schule, die in der Nähe einer großen Plattenbausiedlung liege, zeichne sich durch einen Migrantenanteil von fast 100 Prozent aus. „Im Bezirk sind wir als die Muslimenschule bekannt.“ Viele Kinder wüchsen in „sozial deklassierten“ Familien auf, in denen es an grundlegender Förderung fehle. Besonders gravierend sei die mangelnde Sprachkompetenz. Viele Kinder könnten dem Unterricht nicht folgen, weil sie zu wenig Deutsch verstehen. Einfache Aufforderungen wie „Räumt die Schultasche ein!“ oder „Gehen wir in den Turnsaal!“ würden nicht verstanden. Der Anteil dieser Kinder liege an ihrer Schule über dem städtischen Durchschnitt von 28 Prozent.
Doch nicht nur sprachliche Defizite belasten den Schulalltag. Auch Naturerfahrungen hätten die Kinder kaum gemacht. Gehe sie mit ihnen in den Wald, gebe es ein großes Wow-Erlebnis: „So etwas haben wir noch nie gesehen“. Zu Hause würden sie viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen. „Niemand liest ihnen vor, es wird wenig mit ihnen gesprochen.“ Oft sei es auch so, dass manche Eltern nicht einmal in ihrer Muttersprache vorlesen könnten.
Ressourcenproblem und überforderte Lehrkräfte
Die Lehrerin kritisiert, dass die Schule mit den vielfältigen Herausforderungen allein gelassen werde. „Wir haben ein riesiges Ressourcenproblem. Die pädagogische Qualität besteht vielfach nur mehr auf dem Papier.“ Deutschförderkräfte und Teamlehrer stünden nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung. Oft müssten sie für kranke Kollegen einspringen, sodass eine gezielte Förderung der Kinder nur selten möglich sei. „Früher waren wir bis zu zehn Stunden pro Woche zu zweit in der Klasse. Heute vielleicht zwei Stunden“. Auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhielten nicht die notwendige Unterstützung. Der tatsächliche Bedarf sei deutlich höher als das, was finanziert werde.
Kritik an Quereinsteigern
Quereinsteiger, die aufgrund des Personalmangels rekrutiert werden, seien oft unzureichend ausgebildet. Es fehle an didaktischem Rüstzeug. Diese Defizite machten sich bereits bei den grundlegenden Lehrmethoden bemerkbar. Scharfe Kritik übt die Pädagogin auch an der Bildungsdirektion, die ihrer Meinung nach die Probleme verschweigt. „Es ist wie in einem Potemkin’schen Dorf.“ Auch die Stadtregierung müsse mehr tun, um Schulen in sozialen Brennpunkten besser auszustatten. Brennpunktschulen bräuchten Vorrang bei der Ausstattung mit Ressourcen.
Ohne eine deutliche Aufstockung der finanziellen Mittel drohe der Kollaps des Schulsystems. Noch mehr Kinder würden die Volksschulen mit dürftigem Deutsch verlassen, noch mehr Lehrer drohte aufzugeben. Schon jetzt seien junge Kollegen frustriert und planten, ins Umland abzuwandern. Die Pädagogin resümiert enttäuscht: Dass die Schulen im Wahlkampf kein Thema gewesen seien, habe sie rasend gemacht.