Das Erbe von David Lynch: Ein Blick auf das Ende einer Ära
Mitte Januar starb David Lynch. In seinem Kommentar für FREILICH erinnert der russische Autor Ilia Ryvkin an den großen Regisseur und seine tiefe, beunruhigende Verbindung zur modernen Wirklichkeit.
Graue Äste strecken sich in die Nacht, das winterliche Blattwerk leuchtet unnatürlich hell, überblendet im Licht der vorbeiziehenden Autoscheinwerfer. Eine verlassene Straße windet sich durch die Dunkelheit, stetig den Berg hinauf. Wir folgen ihr eine dreiviertel Stunde lang. Netz, das die Nacht zerteilt. NATO-Draht. Auf unserer Seite die vertraute, jenseitige Nacht, und auf der anderen die wahre, pechschwarze, durchzogen von Sternen und den Linien der vorbeifliegenden Flugzeuge. Dahinter ragt ein verbeulter Telefonmast in den Himmel. Die Kabel hängen schlaff und leblos, doch irgendwo knackt es – ein leises, kaum fassbares Geräusch, als würde etwas Unsichtbares durch die Drähte flüstern. Ein Wächter kommt, wir sehen, wie sich das gelbe Licht seiner Taschenlampe hinter den Eisengittern nähert. Wir erwarten nichts Gutes von ihm und gehen weiter entlang des Komplexes der Bauten einer Flugüberwachungs- und Abhörstation der US-amerikanischen Streitkräfte. „Der ehemaligen Abhörstation“, wie es heißen soll.
Abhörstation und Absurdität
Wir erreichen eine Lichtung mit Blick auf die Stadt. Die Lichter der Stadt flackern zwischen den nassen, schwarzen Ästen. Ich nehme den Granatapfelwein heraus und gieße zunächst einen Schluck auf den Boden. Den Rest verteile ich in Pappbechern – eine chinesische Wirtin hat sie uns geschenkt. Einer von uns verteilt blaue Rosen an die wenigen Versammelten.
Etwas Metallisches zirpte über den Köpfen, auf Höhe einer der Radom-Antennenkuppeln. Eine der Kuppeln antwortete mit einem Flackern von grünen und roten Lampen. „Owls are not what they seem.“ Dieser Gedanke ist auf dem alten Kontinent spätestens seit Adam Weishaupt bekannt, der den Nachtvogel zum Totem des Illuminatenordens erhob.
Lynch und die Falle der Welt
Wir standen am Hang des Teufelsbergs, um David Lynch zu gedenken, der uns alle vor kurzem verlassen hatte. Er war kein Fremder, sondern ein Künstler von einem Ausmaß, dessen Werk unsere Realität prägte, besonders die Traumrealitäten. „Schlafen ist wichtig“, sagte er, als sei es das Einzige, was noch von Bedeutung war. Eine Wahrnehmung der Welt wie seine – mutig, ironisch, zärtlich – ist längst zur Rarität geworden. Sie ist eine Falle, unsere Welt, in dem Sinne, wie eine nahezu verlassene Abhörstation eine Falle für Schwingungen darstellt. Und es braucht einen liebevollen Blick, um diesen seltsamen Ort, der unsere Welt ist, so präzise zu erfassen.
Im verregneten November 2007 wanderte der Regisseur hierher mit der Absicht, die Anlage zu kaufen und darauf ein Lernzentrum für transzendentale Meditation zu eröffnen. Sein Vorschlag, wie er allgemein bekannt wurde, stieß jedoch auf eine negative öffentliche Reaktion und wurde nicht verwirklicht. „Transzendentale Meditation“ klingt für mich vielleicht nicht mehr als ‚Konservative Revolution‘, aber solche Oxymora, abseits der ausgetretenen Pfade, signalisieren und deuten auf eine Art beunruhigende Präsenz hin.
Ich weiß nicht, wie es Onkel Sam da drüben geht, aber an seiner Stelle würde ich den Draht auf diesem Hügel nicht entfernen. Warum sollte die Kontrollstruktur das Instrument der Kontrolle aufgeben? Und bitte, lassen Sie Judy aus dem Spiel. Versuchen wir, die Dinge so zu betrachten, als hätte nicht immer Judy damit zu tun, ganz im Sinne von ewig jungen Agent Phillip Jeffries, gespielt von David Bowie. Dann ertönten von irgendwo unten am Hang Schmerzensschreie, als ob jemand geschlagen würde. Die Stimme war eindeutig männlich.
Das alte Europa und das mysteriöse Amerika
„Mythen sind öffentliche Träume, Träume sind private Mythen“, bemerkte der amerikanische Wissenschaftler Joseph Campbell, und der erste aller Mythen ist der des Goldenen Zeitalters. In den Filmen von Lynch offenbart sich die goldene Jugend der Welt als das Amerika der fünfziger Jahre. Alles ist neu, der Geruch von frischer Farbe und Lack erfüllt die Luft, und die alten Menschen finden sich in einer merkwürdigen Atmosphäre wieder, in der sie sich gegenseitig auf einem Rasenmäher besuchen. Er selbst wurde am 20. Januar 1946 in Missoula, Montana, als Sohn eines Forschungswissenschaftlers des Landwirtschaftsministeriums geboren. Während seiner Kindheit zog er mit seinen Geschwistern durch verschiedene Bundesstaaten, wanderte von einem Ort zum anderen. Und in dieser Bewegung, diesem ziellosen Streifen durch die endlosen Weiten, formte sich das Bild eines naiven, unerschlossenen Amerikas. Aber denken Sie an das hübsche Gesicht einer amerikanischen Parkhausangestellten, wenn sie während der Arbeit einen Anruf erhält: Ihre Kinder haben schwarze Plüschhasen aufgeschlitzt. Sie weiß genau, was sie in ihren Eingeweiden vorfinden könnten.
Lynch, der letzte, vielleicht hellste Zeuge des langsamen Verschwindens eines traditionellen Bewusstseins, gleicht einer Taschenlampe mit schwächelnder Batterie. Sein Licht zuckt über die Oberfläche der Gegenwart, verweilt auf Dingen, die sich dem Verstand entziehen und gleichzeitig unmöglich zu übersehen sind. Es gibt keine Erklärungen, keine Lösungen – nur dieses unstete Licht, das kurz die Konturen einer Realität aufzeigt, die längst begonnen hat, sich selbst aufzulösen.
Der Albtraum und die Banalität
Twin Peaks, Blue Velvet, Mulholland Drive, Inland Empire – diese Filme sind keine bloßen Erzählungen, sondern kollabierende Maschinen unserer Zeit. Jedes Bild ist wie ein Schnitt in die Realität, ein verzweifelter Versuch, sie zu begreifen, der uns zwangsläufig in die Leere stürzt – unheimlich und zugleich verführerisch. Lynch, der uns in diesem Augenblick den Rücken zuwendet, hinterlässt nicht nur ein Werk, sondern eine perfide Entlarvung. Sein Verschwinden ist längst kein Tod mehr, sondern ein Überbleibsel, das unaufhörlich durch die Adern dieser Welt pulsiert. Es ist eine Verschwörung, und wir alle sind bereits Teil davon.
David Lynch gibt uns keine Antworten. Er hinterlässt uns einen Zustand – eine unheimliche Schwebe, in der sich Wahrnehmung und Empfindung auflösen. Der Albtraum vermischt sich mit etwas noch Verstörenderem: der Banalität des Alltäglichen.
Das erste, was zutage tritt, wenn ein Amerikaner beginnt, das Verborgene zu durchwühlen, sind vielleicht seine osteuropäischen Wurzeln. Eine europäische Abstammung als amerikanischer Albtraum. Und für viele in Amerika, wie wir vor allem in letzter Zeit beobachten konnten, bedeutet Europa in erster Linie Polen. Im Horoskop des Verstorbenen finden sich Venus im Steinbock und der Mond in der Jungfrau. Seine weiblichen Figuren verkörpern die Merkmale dieser Konstellation: eine äußere Reserve, hinter der ein inneres Feuer glimmt.
Feuer und das Ende einer Ära
Das Feuer hat ihn wohl getötet. Offiziell gibt es keine Erklärung, die den Tod des Regisseurs mit den Bränden in Los Angeles in Verbindung bringt, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch, sodass „Fire Walk With Me“ beinahe wörtlich zu verstehen ist. Die widersprüchlichen Einzelheiten der Tragödie lassen es bereits zu, ihre Umrisse zu skizzieren: die Lieferung von Brandbekämpfungsgeräten in die Ukraine, das zu späte Reagieren auf Berichte über Brandstiftung, ungewöhnlich hohe Versicherungsprämien, die einige Immobilienbesitzer noch am Vortag abgeschlossen hatten. Nun kann der Städtebau nach dem Smart-City-Konzept ohne weiteres durchgeboxt werden.
Während wir dem verstorbenen Genie eine erfolgreiche Karriere in jenseitigen Filmstudios wünschen, setzen sich unsere Träume bereits nach seinen Entwürfen zusammen, wobei die Farbdynamik besonders auffällt: Das grüne Licht befindet sich auf dem absteigenden Ast. Lynchs letzter Film „Inland Empire“ ist wohl der dunkelste, allein schon aufgrund seiner Farbpalette – zweieinhalb Stunden lang bewegt sich der Zuschauer im Dunkeln, und erst gegen Ende des Films beginnt ein bläuliches Leuchten aus der Tiefe zu sickern. David Lynch selbst, der sich auf diese jüngste Reise durch nur teilweise erforschte Orte begeben hat, orientiert sich wahrscheinlich nun an diesem blauen Licht.