Ein deutsches Nationalepos: die Nibelungensage

Das Nibelungenlied wurde zum Nationalepos und prägte über Jahrhunderte die deutsche Identität.

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Ein deutsches Nationalepos: die Nibelungensage
Das Nibelungenlied bei einer Ausstellung in der Staatsbibliothek in Berlin.© IMAGO / Funke Foto Services

Wolfhart, ein Krieger aus der Gefolgschaft Dietrichs von Bern, kocht vor Wut. Er steht mit gezogenem Schwert vor dem Tor von Etzels Halle, aus der Rauchschwaden gen Himmel ziehen. Davor halten Hagen von Tronje und Volker von Alzey Wacht. Der eine, einäugig, ist der „trôst der Nibelunge“ (Schutzherr), der andere, der „snelle videlaere“ (tapferer Spielmann), ihr Bannerträger. Als Wolfhart auf Geheiß seines Herren die Herausgabe eines Leichnams, der in der brennenden Halle des Hunnenhofs liegt, einfordert, entgegnet ihm Volker: „Niemand gibt ihn Euch. Nehmt ihn Euch im Saal, dort, wo der Held mit seinen Todeswunden im Blute liegt. Dann ist der Dienst, den Ihr Rüdiger erweist, vollkommen.“ Ein kaum verhohlener Aufruf zum Kampf. Ein Wort gibt nun das andere. Als Wolfhart droht, er werde dem Burgunder die Saiten seiner Fidel zerschlagen, höhnt Volker: „Lât ab den lewen, meister! Er ist sô grimme gemout.“ („Lass doch den Löwen los, Meister! Er ist so schön grimmig!“) Der Gefolgsmann Diedrichs muss jetzt – obwohl Volkers Reizrede kaum noch zu ertragen ist – eingestehen, dass ihm sein Herr ausdrücklich verboten habe, mit den Nibelungen zu kämpfen. Volker treibt seinen Spott nun auf die Spitze: „daz kann ich niht geheizen rehten heldes muot“ („Wahren Heldensinn kann ich das nicht nennen!“) Und schaut darauf zu Hagen, der Volker offenbar mit einer Geste zustimmt. Auch wenn es nicht im Primärtext des Nibelungenliedes steht, man hat ein Bild vor Augen: Volker und Hagen schütteln lachend die Köpfe. Über 1.000 Jahre liegen zwischen uns und dieser Szene! Welle um Welle hunnischer Krieger ist gegen das der Halle, in der sich die Burgunder verschanzt haben, gebrandet. Selbst den germanischen Kriegern um Rüdiger und Hildebrand, die König Etzel schließlich in diesen Schicksalskampf wir“, gelingt es nicht, sie zu überwinden. Nach germanischem Selbstverständnis gilt nur der als besiegt, dessen Selbstbehauptungswillen gebrochen werden kann. Infolgedessen kämpfen Hagen, die Könige Gunther, Gernot, Giselher und Volker bis zum Tod. Darüber hinaus klingt ein Motiv an, das sich in einem Vers der Edda, der germanischen Singspruchdichtung spiegelt: „Vieh stirbt, Sippen sterben. Du selbst stirbst wie sie. Doch eins weiß ich, das ewig lebt: Der Toten Tatenruhm.“ Wie stark das Schicksal der Nibelungen die Kultur und den politischen Diskurs prägte, zeigt insbesondere die vaterländische Lyrik Felix Dahns (1834-1912). Der Jurist, Germanenkundler und Autor drohte am Vorabend des Ersten Weltkriegs Deutschlands Feinden einen zweiten Kampf der Nibelungen an: „Wir stiegen auf in Kampfgewittern, der Heldentod ist unser Recht: Die Erde soll im Kern erzittern, wenn fällt ihr tapferstes Geschlecht: Brach Etzels Haus in Glut zusammen, als er die Nibelungen zwang, So soll Europa stehn‘ in Flammen bei der Germanen Untergang!“ In diesen Versen spiegelte sich das bald nach der Reichsgründung weite Schichten bewegende Gefühl, als junge aufstrebende Nation von Feinden eingekreist zu sein und einem Schicksalskampf nicht mehr ausweichen zu können – und zu wollen.

Ein Teil der deutschen Identität

Die Nibelungen kannte einmal jeder. Kein Werk des deutschen Mittelalters hat eine größere und vor allem Jahrhunderte überspannende Rezeption ausgelöst, als das im Hochmittelalter verfasste Nibelungenlied. Es spiegelt sich in der Oper, dem Drama, der politischen Rede und Schri“, der Heimatdichtung, der Jugendliteratur sowie in Film und Architektur wider. Die Erzählung diente damit schon immer auch der Selbstvergewisserung, der Sicht der Deutschen auf sich und ihre Zeit. Von daher handelt es sich tatsächlich um ein Nationalepos, das eine Brücke zwischen der vorchristlich- germanischen Zeit – die sich in der Heldensage spiegelt – und der höfischen Kultur des Mittelalters schlägt. Das Werk, zwischen 1150 und 1200 in Süddeutschland entstanden und in über dreißig Handschriften und Fragmenten überliefert, verbindet zwei deutlich ältere und wohl über Jahrhunderte mündlich überlieferte Sagen, die Siegfriedsage und die Sage vom Untergang einer germanischen Gefolgschaft im Land der Hunnen, die von König Etzel (Attila, nordisch Atli) regiert werden, miteinander. Der erste Sagenkreis erzählt die Taten des Siegfried (nord. Sigurd), der bei einem Zwergenschmied aufwächst, als meisterlicher Geselle sein eigenes Schwert schmiedet, einen Drachen tötet, in seinem Blut badet und dessen Herz aufisst. Durch diese mythische Vereinigung mit dem Lindwurm (Lint, althochdeutsch für Schlange) ist er bis auf eine Stelle des Rückens auf die ein Lindenblatt fällt unverwundbar und versteht die Sprache der Vögel. Sie sprechen bald darüber, dass der Zwerg Siegfried umbringen will, um den Hort des Drachen, zu dem auch eine Tarnkappe gehört, an sich zu reißen. Der Drachentöter erschlägt darauf seinen Ziehvater. Eine andere Sage erzählt von der Liebe zwischen Siegfried und der Walküre Brünhild, die von Göttervater Wotan/Odin verstoßen und gegen ihren Willen in einen Zauberschlaf versetzt wurde. Ein Kreis lodernder Flammen soll sie von Menschen und Göttern trennen. Doch Siegfried, der aus einer Verbindung zwischen dem Göttervater und einer Sterblichen hervorgegangen ist, durchschreitet die Lohe und befreit die Walküre. Diese Sagen sind vor allem in der Edda überliefert. Auch wenn sie erst im Hochmittelalter gesammelt und aufgezeichnet worden sind, dürften sie bereits seit der Völkerwanderung, im 5. und 6. Jahrhundert, tradiert worden sein. Die Siegfriedsage muss für die Germanen von so großer Bedeutung gewesen sein, dass sie Völker bzw. Stämme, Zeit und Raum überspannte. So finden sich in Stein verewigte Szenen der Sage nicht nur auf dem Runenstein im nordschwedischen Ramsund (um 1030), der auf mehreren Metern zeigt, wie Siegfried mit seinem Schwert einen großen Lindwurm durchbohrt und sich beim Braten von dessen Herz die Finger verbrennt, die er danach in den Mund steckt; zu sehen sind darüber hinaus die Vögel, die Siegfried warnen und der enthauptete Zwerg, der tot inmitten seiner Schmiedewerkzeuge liegt. 2.800 Kilometer südlich verewigten die offenkundig von den Westgoten beeinflussten Erbauer einer Kirche in Sangüesa (Navarra) im 12. Jahrhundert die Schlüsselszenen am Südportal einer Kirche. Sie zeigt den Zwergenschmied und Sigurd, der den Drachen erschlägt. Die Sage vom Untergang einer germanischen Gefolgschaft – dem zweiten wesentlichen Einfluss auf das

Nibelungenlied – erzählt von der Gier des Hunnenkönigs

Atli, der mit Gudrun, der Schwester der Nibelungen Gunnar und Hogni verheiratet ist, nach dem Golde des germanischen Geschlechts. Er sendet Boten aus, die die Brüder an seinen Hof locken. Die Warnung ihrer Schwester schlagen sie in den Wind. Dort werden sie heimtückisch ermordet. Gudrun rächt ihre Brüder eigenhändig, indem sie Atli, der betrunken neben ihr auf dem Ehelager liegt, umbringt. Der anonym gebliebene Dichter des Nibelungenliedes hat diese zwei Sagenkreise kunstvoll miteinander verbunden. Der erste Teil der Neuschöpfung auf älteren Grundlagen erzählt die Verwerfungen am Hof zu Worms, die zum Tod Siegfrieds führen, der zweite Teil den Untergang der Burgunder im Hunnenland. Historischer Bezugspunkt dürfte die Niederlage des Burgunderkönigs Gundahar im Jahr 435/36 gewesen sein, der von den Römern und ihren hunnischen Auxiliaren vernichtend geschlagen wurde. Während die römische Welt im goldenen Zeitalter der Heldensage bereits am Verblassen war, tauchten mit dem asiatischen Reitervolk der Hunnen eine Supermacht auf, die mit den Germanen in enge Beziehungen trat – davon kündet die selbstverständlich erscheinende Heirat Kriemhilds mit dem „Besten aller Lebenden“, wie Friedrich Hebbel im Drama Die Nibelungen (1861) deren Lieblingsbruder Giselher ausrufen lässt. Tatsächlich war es Sitte, Verträge mit dem Hunnenhof durch die Auslieferung von germanischen Geiselkindern zu beglaubigen, die dort ihren Rang entsprechend aufgezogen wurden. Aus anderen Sagen wusste das Publikum, dass insbesondere Kriemhild und Hagen Geiselkinder am Hunnenhof gewesen waren. Ihr inniges Verhältnis seit Kindesbeinen schlägt Jahre später in glühenden Hass um, weil ihr Hagen, der ihr schwört, ihren Mann beschützen zu wollen, entlockt, an welcher Stelle des Rückens Siegfried verwundbar ist. Im Nibelungenlied bilden Kampf und Untergang das große Finale, in dem sich Kriemhild an Hagen und ihren Brüdern Gunther, Gernot und Giselher rächt. Alle drei willigten schließlich in den Plan ein, Siegfried – den leuchtenden Stern des Wormser Hofes – zu töten, um die schwer beschädigte Ehre des Burgunderkönigs wiederherzustellen. Denn in einem Streit zwischen den Königinnen, die sich im Nibelungenlied um den Vortritt zur Messe im Dom zu Worms streiten, enthüllt Kriemhild, dass es ihr Gatte Siegfried war, der die Walküre Brünhild in der Brautnacht entjungfert hat – und nicht ihr Mann, König Gunther. Werkzeug des Betrugs ist die mythische Tarnkappe, die Siegfried im Halbdunkel der Kammer des Königs aufsetzte. Die Zurschaustellung dieser Schande lässt die Welt Brünhilds zusammenbrechen. Nun ist klar: Bereits auf Island ist Brünhild durch Siegfried, der sich o!enbar nicht an seine Jugendliebe erinnern kann, betrogen worden. Die Herrscherin Islands, die ihr Reich und ihre übermenschlichen Kräfte aufgab, um an der Seite eines menschlichen Königs ihr Dasein zu fristen, muss sich nunmehr gefallen lassen, als Zweitfrau, als Kebese, beleidigt zu werden.

Die Bedeutung des Epos

Streit, Verrat, Rache, Untergang – sollte sich die Rechte heute noch mit dem Epos beschäftigen? Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz rät dringend ab. Auf meine Große Anfrage Das Nibelungenlied und seine Bedeutung für Rheinland-Pfalz (Drucksache 17/13523) antwortete sie folgendermaßen: Das Nibelungenlied „dürfe keinen überhöhten Stellenwert haben, weil jedes Heldenepos auf der Grundlage des Kampfes, d. h. des unaufhebbaren Gegeneinanders beruht“, es eigne sich damit nicht als „besonderer landespolitischer Orientierungspunkt“. Zudem werde das Epos „nicht mehr als Dokument der Rekonstruktion der Anfänge der Nationalgeschichte gelesen, was sich als haltlos, ahistorisch und verfehlt erwiesen“ habe. Es wundert nicht, dass diese Dekonstruktion offizielle Regierungspolitik ist. Dabei liegen selbst in den nordischen Bearbeitungen der Nibelungensagen die Schauplätze am Rhein, in Worms und sogar die roten Felsen des Pfälzerwaldes erwähnt der jahrhundertalte Stoff. Und natürlich zeigt die ununterbrochene Rezeption an, welche Bedeutung er für die Entwicklung der nationalen Idee hatte. Übrigens auch sprachlich, denn das Nibelungenlied ist ein herausragendes Dokument der Entwicklung der deutschen Sprache des Mittelalters. Im letzten Jahr rückte Udo Di Fabio, von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht, in einem Podcast mit Gabor Steingart unser Nationalepos gleichermaßen ins Zwielicht. Das Epos und seine überschwängliche Rezeption von Mord und Totschlag unter dem Zeichen eines beinharten und unbedingten Heroismus – der Nibelungentreue – prägten bis heute die deutsche Seele – leider. Die Bewunderung des Nibelungenliedes sei somit ein geistiger Überrest jener Zeit als die deutsche Kultur noch „nicht westlich und transatlantisch“ gewesen sei. Als besonders fragwürdig galt Di Fabio dabei die Rolle „unserer“ Intellektuellen, die diesen Geist auf tragische Weise auch noch beflügelt und befördert hätten. Steingart sekundierte prompt: „Ja, die waren immer vorneweg dabei“.

Die Nibelungentreue

Beide dürften die Denker und Publizisten der Konservativen Revolution im Sinn gehabt haben, wahrscheinlich insbesondere Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) und Oswald Spenglers Preußentum und Sozialismus (1919). Mann wie Spengler stellten zwischen dem deutschen Wesen, das den Sonderweg unserer Nation bedinge und der westlichangelsächsischen Welt tiefgreifende Unterschiede fest. Der in der Tiefe verankerten deutschen Kultur stünde eine flache westliche Zivilisation, der Freiheit des Einzelnen das große Ganze, dem opportunistischen Händlergeist ein sittlich höherwertiges und seinen Werten treues Heldentum gegenüber, das historisch durch den deutschen Orden verkörpert werde. Es wundert also nicht, dass die affirmative Beschäftigung und Neuerzählung des Nibelungenliedes am Vorabend des Ersten Weltkriegs, im Krieg und in den Zwanzigerjahren – der Zeit des Ringens der deutschen Nation mit sich und der Welt – besonders stark war. Die Politik griff insbesondere das Wort der Nibelungentreue auf. Am 29. März 1909 gelobte Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow vor dem Reichstag sie „vor aller Öffentlichkeit Österreich-Ungarn gegenüber wahren [zu wollen]“. Der preußische Abgeordnete Franz von Liszt (1851-1919) verglich den militärischen Pakt zwischen Preußen und Österreich gar mit dem vorbildlichen Treueverhältnis, das Hagen und Volker, den eisernen Schutzherrn und den leidenschaftlichen Spielmann miteinander verbindet und stellte fest: Dem Freunde Freund sein bis zum äußersten und dem Feinde Feind zu sein bis zum äußersten, das ist deutsche Art, das ist Nibelungentreue.

Die „Triuwe“, insbesondere verstanden als Gefolgschaftstreue, ist die Tugend, an der Nibelungen unbeirrt bis in den Untergang festhalten. Eine Treue, die in diesem besonderen Fall Hagen, einem Verschwörer und Mörder gilt. Dessen Tat aber der Verteidigung der Ehre des Königs und des burgundischen Hofes diente und damit nachvollziehbar gerechtfertigt ist. Vergessen darf man dabei nicht, dass Siegfried, eine unbändige Urkra“ aus der Welt des germanischen Mythos gar nicht anders aus der Menschenwelt zu scha!en ist, als durch den gezielten Speerwurf in den Rücken. Wenn Friedrich Hebbel Hagen zu Kriemhild sagen lässt: „Dein Siegfried war vom Drachen nicht zu trennen. Und Drachen schlägt man tot“, klingt die Überzeugung an, dass es ohnehin langfristig unmöglich war, Siegfried in den Hof und die Welt der Politik zu integrieren. Der tragische Kon%ikt, der dem Nibelungenlied zu Grunde liegt, vergrößert sich dadurch, dass auch Kriemhilds Rache vorbildlich gerechtfertigt ist. Sie beruht auf der Wahrung ihrer „triuwe“ dem Manne gegenüber, die förmlich der Zeit trotzt. Deshalb wird sie im Nibelungenlied auch als „Getriuwe“ bezeichnet. Hagen und Kriemhild werden also schuldlos schuldig, mit ihnen prallen zwei gesellschaftlich gerechtfertigte Entwürfe – ohne „Humanitätskorrektiv“, wie die heutige Forschung feststellt – aufeinander, denn ihre absolute und nicht verhandel- oder wägbare Treue birgt eben auch den notwendigen Verrat in sich. Diese Grundaufstellung entfaltet im Lauf der Geschichte eine tief bewegende tragische Dramatik. Sie erfährt eine ergreifende Zuspitzung als Gernot und Giselher Kriemhilds Angebot, sich im Tausch für freies Geleit von Hagen loszusagen, mit folgenden Worten brüsk ablehnen: „Jeder muss einmal sterben, niemand aber raubt uns die Kriegerehre.“ Genau vor hundert Jahren schrieb von Harbou (1888-1954) zusammen mit Fritz Lang das Drehbuch des Films Die Nibelungen. Der Mythos, „unser Mythos“, so die Künstlerin und Schauspielerin, „spricht die ihm zu Grunde legende Wahrheit in Bildern aus. Siegfried, Hagen, Volker und Kriemhild verkörpern verschiedene Seiten unserer Volksseele. Er gehört als Juwel, als ferner Spiegel aber auch als schwärende Wunde zu unserem Eigentume“.

Der Beitrag erschien ursprünglich in der FREILICH-Ausgabe Nr. 24 „Europa geht in Rente“.