Kann sich Geschichte wiederholen?
Kann sich die Geschichte wiederholen? Ist es möglich und vielleicht sogar notwendig, unsere Wahrnehmung von Zeit zu verändern? FREILICH-Redakteur Mike Gutsing gibt einen Einblick in die Welt der Geschichtsphilosophie.
Zeitstrahl, Zeitlinie, Zeitfluss – der Versuch der Menschen, dem Fluss des Lebens eine Form zu geben, ist so alt wie der Versuch, Erinnerungen und Erfahrungen für die Nachkommen zu bewahren. Was mit Höhlenmalereien und Liedern begann, entwickelte sich zu Religionen und komplexen philosophischen Systemen. Mit dem Anwachsen der chronistischen Möglichkeiten, also der Schrift, der Verwissenschaftlichung, des Gedächtnisses durch Geschichtswissenschaft und Archäologie, ist auch das Bedürfnis nach größeren Modellen zur Erklärung großer historischer Prozesse gewachsen. Bis heute dominieren Modelle, die von einem Fortschreiten der Zeit ausgehen.
Unabhängig davon, ob sie religiös aufgeladen oder nach naturwissenschaftlichen Maßstäben konstruiert sind, verläuft die Geschichte – wie die Zeit selbst – auf einer geraden Linie von einem uns vielleicht für immer unbekannten Ursprung in eine Zukunft, über die wir uns ebenso unsicher sein müssen. Vor allem seit dem späten 17. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, hat sich der Glaube durchgesetzt, dass, wenn sich die Menschen tugendhaft verhielten, es früher oder später zu einer einmütigen und friedlichen Weltgemeinschaft kommen müsse. Immanuel Kants „Weltrepublik“ etwa gilt bis heute als (un-)ausgesprochenes Ziel progressiver Philosophen, Politiker und Intellektueller.
Das Erbe der Dialektik
Was aber, wenn die Zeit, die Geschichte und damit die Entwicklung der Menschheit insgesamt eben nicht stetig voranschreitet, wenn die friedliche Kumbaya-Weltgemeinschaft nicht die logische Endkonsequenz und auch nicht der alternativlose Weg zum Weltfrieden ist? Das Gegenteil einer linearen Geschichtsschreibung ist die Idee der Zyklik. Dahinter steht die Vorstellung, dass sich Elemente von Epochen oder geschichtlichen Entwicklungen wiederholen. Die Idee eines zyklischen Geschichtsbildes taucht bereits im historischen Materialismus von Karl Marx auf. Dieser beschrieb die fortschreitende „Entfremdung“ des Menschen von seiner Arbeit und die zyklisch wiederkehrenden Klassenkämpfe, die immer wieder Gruppen mit unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen gegeneinander ausspielen.
Dieser Gegensatz wird heute maßgeblich auf den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurückgeführt und mit dem Begriff der Dialektik auf den Punkt gebracht. Übertragen auf die Geschichte bedeutet dies die Wiederholung von Rahmenbedingungen, die bestimmte Motive, zum Beispiel politische Systeme oder kulturelle Produkte, trotz großer räumlicher oder zeitlicher Distanz immer wieder hervorbringen. Diese Wiederholung ist keine bewusste Entscheidung oder vorausschauende Planung, sondern eine natürliche Ordnung der Dinge, ähnlich den Jahreszeiten oder Ebbe und Flut.
Untergang und Vollendung
Jenseits der ökonomisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung von Karl Marx gab und gibt es eine eigene Disziplin, die sich mit den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Zeit und des menschlichen Handelns in ihr beschäftigt: Die Geschichtsphilosophie. Der bis heute am meisten rezipierte Geschichtsphilosoph ist der deutsche Kulturhistoriker Oswald Spengler. In seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes analysiert er die verschiedenen Entwicklungsstufen historischer und moderner Kulturen. Dabei stellt er ähnliche „Phasen“ in der Geschichte des antiken Roms und des christlich-abendländischen Europas fest.
Das Besondere an Spenglers Analyse ist jedoch das Verständnis, dass Kulturen, Völker und Staaten ähnlich wie Pflanzen einer organischen Entwicklung unterliegen. So vollzogen sich die Blütephasen des chinesischen Reiches der Mitte ebenso wie etwa der Aufstieg der islamisch-arabischen Reiche. Dabei überlagern sich nach Spengler immer wieder jüngere, aufstrebende Kulturen mit älteren, die der Vollendung oder dem Untergang geweiht sind, bis von letzteren nur noch vereinzelte Spuren zu finden sind.
Der erste Versuch, die Richtung der Zeit umzukehren
Ausgehend von Spengler und den Erkenntnissen zahlreicher anderer Geschichtsphilosophen entwickelte der thüringische Privatgelehrte Thomas Wangenheim die Ideen eines zyklischen Geschichtsbildes weiter. In seinem Buch Kultur und Ingenium verarbeitete er die Ideen der historischen „Phasen“ und entwickelte ein eigenes Modell eines „echtzyklischen“ Zeitverlaufs. Der grundlegende Unterschied zu Spengler besteht darin, dass Wangenheim nicht von zwangsläufig ablaufenden Entwicklungsphasen der Kulturen ausgeht, sondern von zwei übergeordneten Kategorien, in denen sich Kulturen je nach ihrer Ausprägung bewegen und von ihnen geprägt werden. Diese bezeichnet er in Anlehnung an den Titel seines Hauptwerkes als Kultur beziehungsweise Ingenium. Was auf den ersten Blick wie eine unnötige Verkomplizierung aussieht, ist eine mittelgroße Revolution der Geschichtsphilosophie und der Geschichtswissenschaft insgesamt.
Mit seiner Methode gelingt es Wangenheim, die gesamte Menschheitsgeschichte zu systematisieren und jede kulturelle Erscheinung allein nach ihren Merkmalen zu klassifizieren. Dass dieses Unterfangen kein „Kaffeesatzlesen“ ist, sondern auf einer handfesten wissenschaftlichen Grundlage beruht, wird bereits im Untertitel des Buches deutlich: Eine fraktale Geometrie der Weltgeschichte. Die „fraktale Geometrie" ist ein Teilgebiet der Mathematik, das die Selbstähnlichkeit von Formen untersucht. Das bekannteste Beispiel einer fraktalen geometrischen Figur ist das so genannte Sierpinski-Dreieck. Dieses Dreieck setzt sich wiederum aus vielen kleineren Dreiecken zusammen, die sich bis zur Unkenntlichkeit weiter zerlegen lassen.
Die Universalgleichung der Geschichte
Übertragen auf Zeit und Geschichte bedeutet dies Folgendes: Ausgehend von einem einzelnen Quellenobjekt als Fraktal einer Kultur können nicht nur Rückschlüsse auf eine bestimmte Epoche, sondern auf alle gleichartigen Epochen aller menschlichen Kulturkreise gezogen werden. Die Oszillationen zwischen kultischen und ingenen Epochen, die Wiederholung, Auflösung und Überlagerung von Merkmalen, von Wangenheim auch Daseinsformen genannt, beschreiben ein wiederkehrendes Muster, das die Wiederholung der Geschichte nicht nur nahelegt, sondern lückenlos belegt.
So lässt Wangenheim in seiner Schilderung der frühneuzeitlichen Konfessionskonflikte zugleich die Endphase der römischen Republik in seinem Werk lebendig werden. Die starre Spaltung, die Zweiteilung der weltanschaulichen Grundhaltungen und der religiösen Bekenntnisse nähert sich immer mehr an. Er geht noch einen Schritt weiter: Die wechselnde Besetzung städtischer Ämter mit katholischen und protestantischen Konfessionen in der frühen Neuzeit ist die Wiederkehr des Losverfahrens der attischen Poleis; fast 2000 Jahre europäischer Geschichte in einer einzigen Sequenz zusammengefasst und auf das Wesentliche reduziert.
Der Glaube an ein lineares Fortschreiten der Zeit löst sich angesichts des dialektischen Wandels, der Spiegelung ganzer Kulturgeschichten in Nichts auf. Es bleibt die Erkenntnis, dass nicht die einmütige Weltgemeinschaft am Weg des Lebens steht, auch nicht der beschlossene Untergang aller Kulturen. Uns bleibt die unendliche Serpentine, begrenzt durch die ewigen Pole menschlicher Daseinsformen.
Die Rückkehr in die natürliche Ordnung
Was macht man mit einer solchen Erkenntnis? Der Mensch mit seinen vielfältigen Facetten und Ausdrucksformen wird angesichts der von ihm unabhängigen Ordnungskategorien zum gleichberechtigten Teil der Schöpfung, findet seinen Platz als Erster unter Gleichen und doch nicht als oberster Herrscher des Kosmos. Wenn Geschichte mehr ist als die Summe zufälliger Entscheidungen und doch in eine innere Ordnung eingebettet, relativiert sich die eigene Wahrnehmung der Gegenwart und öffnet sich der Blick auf die Vergangenheit.
Wenn sich die Zeit in gewisser Weise wiederholt, standen vergangene Kulturen vor ähnlichen Herausforderungen wie wir heute, können wir von ihren Fehlern und Lösungen lernen. Gleichzeitig wird man aber auch mit den Grenzen des eigenen Handelns konfrontiert, trotz aller Bemühungen kann die eigene Kultur vergehen, das eigene Volk untergehen. Wenn sich auch die Zeit selbst nicht wiederholt, so wiederholen sich doch die Erfahrungen der Menschen, aber nur wenigen ist es vergönnt, diese Bewegungen zu spüren, zu erahnen und bewusst oder instinktiv danach zu handeln. Ohne in eine naive Vorstellung einer heilbringenden Menschheitsgeschichte zu verfallen, richtet die zyklische Geschichtsphilosophie die Perspektiven aus, ohne die eigenen Erfahrungen und Sichtweisen zu entwerten.