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Macht, Mythos, Muftiat – Das Erbe der Goldenen Horde in Russland

Ausgerechnet im Büro eines islamischen Geistlichen in Moskau hängt ein grausames Siegesgemälde, das die russische Niederlage feiert. Ilia Ryvkin zeichnet nach, wie sich das religiöse Machtzentrum von der Tradition löst und ein eigenes Wertesystem etabliert.

Kommentar von
27.4.2025
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5 Minuten Lesezeit
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Ein Reiter im roten Umhang erhebt stolz seinen Falken. Unter den Hufen seines Pferdes liegen russische Krieger, bedeckt von zerborstenen Schilden und durchstochenen Bannern – ein Teppich aus Niederlage und Blut. Um ihn herum feiern mongolische Heerführer ein makabres Bankett: sie sitzen an niedrigen Tischen, heben Trinkhörner, lachen, essen – mitten auf den Körpern der Gefallenen und Sterbenden. Ein russischer Fürst, halb begraben unter seiner Rüstung, windet sich, das Gesicht verzerrt vor Schmerz, doch er dient nun nur noch als Stütze für den Siegestisch der Feinde. Im Hintergrund rauchen Jurten, Männer tanzen, Fahnen wehen: das Lager der Goldenen Horde ist errichtet. Auch ein Banner mit Christi Gesicht ist zu sehen, das die Mongolen als Fußmatte verwendeten – ein Krieger tritt es sogar mit den Füßen nieder.

Ein Triumphbild als Signal

Die Szene fängt mongolische Krieger ein, die ihren Sieg über die russisch- polowetzische Allianz an der Kalka, einem bescheidenen Zufluss zwischen heutigen Donezk und Mariupol, ausgiebig feiern. Der Krieg kehrt in dieser Steppe immer wieder zurück, wie eine unaufhaltsame Naturgewalt. Jenes Historiengemälde hängt in einem der prächtigsten Büros der Moskauer Islam-Administration. Es ziert das Amtszimmer des stellvertretenden Vorsitzenden der Geistlichen Verwaltung der Muslime, eines der größten Muftiate Russlands, dem etwa 400 islamische Organisationen aus 37 Regionen des Landes angehören.

Die Verwaltung entstand durch eine Abspaltung vom traditionellen Muftiat, das ursprünglich von Zarin Katharina II. gegründet und vor Kurzem durch wahabitische Strömungen aus Saudi-Arabien zerschlagen wurde. Heute ist hier der Einfluss der Wüste, aber auch der der Muslimbruderschaft und DITIB präsent.

Polygamie als Glaubensfrage – und als Machtspiel

Dass gerade dieses Lager nun ein martialisches Gemälde präsentiert – als Symbol des Siegs der Goldenen Horde über die orthodoxe Rus – ist nur eine der umstrittenen Gesten der Führung des Geistlichen Rates, die sich immer wieder durch provokante Selbstinszenierungen hervortut. Ein Hauch aus Tausendundeiner Nacht weht durch das neue Russland: Der ehrwürdige Muftiat ruft zur Rückkehr der Polygamie. Bis zu vier Ehefrauen darf der fromme Mann künftig halten – vorausgesetzt, sein Herz liebt gerecht, und sein Konto zahlt es aus. Ein gerechter Harem also,in Wohnungen verteilt und mit akkuratem Zeitplan versehen. Die Verfassung? Eine Fußnote. Das Familienrecht? Dehnbar. Entscheidend ist nicht, was im Gesetz steht, sondern was im Glauben erlaubt scheint.

Zwischen Scharia und Staat

Während in der Staatsduma empörte Abgeordnete auf die Säkularität der Nation pochen und orthodoxe Priester vor „orientalischen Zuständen“ warnen, schieben islamische Geistliche das nächste Fenster auf – jenes von Overton. Heute ein religiös legitimiertes Vielweibertum, morgen vielleicht schon Schariagerichte in den Bezirksverwaltungen? Wer das für bloße Folklore hält, täuscht sich: Zwischen „traditionellen Werten“ und staatlich verordneter Stabilität entsteht leise ein Gegensystem – mit eigener Moral, eigenem Geld und nun auch eigenem Familienbild. Die Frage, ob vier Frauen Glück bringen, stellt sich dabei gar nicht. Die eigentliche lautet: Wer hat in Russland künftig das letzte Wort – die Staatsmacht oder der Prediger?

Staatliche Grenzen für religiöse Selbstermächtigung

Am 23. Dezember des letzten Jahres ergriff die Generalstaatsanwaltschaft das Mittel der väterlichen Zurechtweisung und adressierte ein offizielles Schreiben an die Geistliche Verwaltung der Muslime. Die Fatwa zur religiös begründeten Vielehe wurde als mit den russischen Gesetzen unvereinbar erklärt. Diese schließt sich dem staatlich definierten Familienmodell an, das die „Union eines Mannes und einer Frau“ vorsieht und sich von sowohl westlichen „gleichgeschlechtlichen Partnerschaften“ als auch orientalischer Polygamie abgrenzt.

Das Muftiat reagierte mit demonstrativer Gottergebenheit: Die Fatwa wird zurückgezogen, um dem „Willen Allahs“ zu entsprechen – oder dem der Staatsanwaltschaft, was im Ergebnis dasselbe ist. Eine weitere Diskussion darüber sei nicht beabsichtigt, schließlich gehört Schweigsamkeit zu den traditionellen Tugenden.

Zwischen Mythos und Realität: Die Mongolenfrage

Kommen wir zurück zum Bild, das mehr verhüllt als enthüllt. Die Reiter, die dort als Streiter des Islam erscheinen, beteten einst zu anderen Göttern: zum weiten Himmelsvater Tengri, zum glühenden Mithra – kein Koran, sondern die Yassa Dschingis Khans war ihr Gesetz. Und unter ihnen ritten nestorianische Christen, Männer, die den Gral in ihren Bannzeichen führten, nicht das Kreuz: Abgesandte eines Glaubens, der vom Osten kam und dem Abendland die Sage vom Priesterkönig Johannes schenkte. Die Mongolen – stets für eine Überraschung gut.

Kaum ein paar Jahrzehnte nach Kalka setzen sie unter Hülegü Khan auf christliche Karten: Nestorianer und Monophysiten flankieren ihren Marsch nach Bagdad, Damaskus, Aleppo. Ein „Gelber Kreuzzug“, so die spätere feuilletonistische Aufbereitung. Doch ihr Gespür für Allianzen ließ zu wünschen übrig: Statt sich mit dem Heiligen Vater zu verbrüdern, hofierten sie Friedrich II. – ein Intellektueller, kein Mann für Pilgerheere. Die Kreuzfahrer lehnten ab, die Mamluken schlugen zu, und der Islam? Kam viel später – unter Khan Özbeg, als Doktrin.

Aber warum hängt dann ein solches Bild, das keinesfalls einen Triumph des Islams darstellt, an der Wand eines ehrenwerten und gläubigen Mannes? Wahrscheinlich schlicht deshalb, weil ein Festmahl auf den Leibern russischer Fürsten für diese Menschen äußerst anziehend wirkt. Aus purer Russophobie, also.

Vom „Gelben Kreuzzug“ zum gescheiterten Bündnis

Was einst als vergangen galt, tritt wieder ins Licht: Das tatarische Joch wirkt nach – und beschäftigt das Land mehr denn je. Die russische Historie seit dem 18. Jahrhundert sah sich stets als Schild Europas: Indem Russland den Ansturm der Mongolen abfing, bewahrte es die christliche Welt – und trug selbst die Narben der Tatarisierung. Diese romantisierende Deutung ist heute kaum mehr haltbar – schon deshalb, weil sie von den Zeitgenossen selbst nie vertreten wurde.

Im mittelalterlichen Russland galt der Westen nicht als Schutzbefohlener, sondern als Häretiker, der das eigene geistige Zentrum – Byzanz – schändlich überfallen hatte. Waren es wirklich die Mongolen, die Europa das Fürchten lehrten – oder vielmehr spätere Historiker, die in ihnen das letzte große Fremde sahen? Ihre Zahl war gering, ihre Fronten zahlreich. Zwei Millionen Seelen, verteilt über ein riesiges Steppenreich. Kaum 150.000 Reiter an China, Zentralasien und Europa. Und das sollte den Westen in den Abgrund reißen? Zum Vergleich: Anfang des 13. Jahrhunderts wurde die Bevölkerung Europas auf etwa 60 bis 70 Millionen geschätzt.

Keine Steppe im Blut: Das russische Erbe liegt anderswo

Auch das sogenannte „Tatarisieren“ der Russen ist nichts anderes als ein westzentrierter Vorurteilskomplex – in Russland selbst eingepflanzt als Erklärung für das vermeintliche eigene „Zurückbleiben“ hinter dem „aufgeklärten“ Westen. Später wurde diese These affirmativ von den Eurasiern übernommen und wird heute sowohl von linken als auch von einigen präsidialamtsnahen Influencern weiterverbreitet.

Nach modernen genetischen Untersuchungen tragen bis zu 65 Prozent der russischen Männer die für slawische und andere europäische Völker typischen Haplogruppen R1a und R1b. Bis zu zehn Prozent der Russen stammen von Normannen ab, bis zu 15 Prozent von finnougrischen Völkern.

Von Mongolen und Steppentürken hat das russische Erbgut nur minimale Spuren bewahrt. Nicht die Horde, sondern Byzanz stand Pate: Die russische Staatlichkeit um das Großfürstentum Moskau gründete sich auf orthodoxe Werte und trat dem kulturellen Erbe der Steppe mit bewusster Ablehnung entgegen. Poststationen, Krummsäbel, Satteltaschen – das ist das Wenige, was die Rus von der Horde übernahm. Und auch das nur, weil Tataren in den Dienst Moskaus traten. Wer die leuchtenden Fassaden der Kirchen von Wladimir und Susdal betrachtet oder den stillen Ernst der Ikonen erkennt, spürt sofort: Hier spricht Byzanz – nicht die Steppe.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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