Philosoph Antoine Dresse: „Europäer zu sein bedeutet, eine gemeinsame Vergangenheit anzuerkennen“

Der belgische Philosoph Antoine Dresse sieht Europa am Scheideweg. Auf seinem Kanal „Ego Non“ fordert er eine Rückbesinnung auf philosophische Prinzipien. Im Interview mit FREILICH erklärt er, wie er dabei vorgeht.

Interview von
12.10.2024
/
8 Minuten Lesezeit
Philosoph Antoine Dresse: „Europäer zu sein bedeutet, eine gemeinsame Vergangenheit anzuerkennen“

Der belgische Philosoph Antoine Dresse.

© Antoine Dresse

Antoine Dresse ist ein belgischer Philosoph und Videokünstler. Auf seinem Kanal „Ego Non“ produziert er Videos über verschiedene europäische Denker wie Oswald Spengler, Gustave Le Bon, Edmund Burke oder auch Carl Schmitt. Er arbeitet unter anderem mit Romain Petitjean als Herausgeber des Instituts Iliade sowie mit seinem Landsmann David Engels zusammen. Darüber hinaus ist er Autor zahlreicher Bücher.

FREILICH: Können Sie sich und Ihre Arbeit kurz vorstellen?

Antoine Dresse: Ich komme aus Lüttich im französischsprachigen Teil Belgiens und habe Philosophie in Brüssel und Fribourg in der Schweiz studiert. Heute bin ich hauptsächlich als Videokünstler tätig, und zwar über den Youtube-Kanal „Ego Non“, auf dem ich Videos über politische Philosophie anbiete. Seit zwei Jahren arbeite ich aber auch mit dem Institut Iliade zusammen. Neben der redaktionellen Arbeit, die ich für das Institut leiste, werde ich nun zusammen mit Jeremy Baneton eine der Fortbildungen des Instituts leiten, die in Belgien stattfinden wird. Außerdem schreibe ich regelmäßig für die Zeitschrift Éléments und habe kürzlich einen Essay über den „politischen Realismus“ veröffentlicht.

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit?

Das Ziel meines Senders „Ego Non“ ist es, an der Neugründung einer kohärenten Weltanschauung mitzuwirken, die auf philosophischen Prinzipien beruht, die in der Lage sind, die europäische Zivilisation zu verteidigen. Es ist heilsam, die Illusionen und Auswüchse des progressiven und egalitären Denkens zu kritisieren, aber man darf sich nicht damit begnügen, den Strudel des Zeitgeschehens zu kommentieren. Man muss in der Lage sein, den konkreten politischen Kampf mit Prinzipien, einer Weltanschauung und konstruierten theoretischen Entwicklungen zu verbinden; nicht um in die Wolken zu fliehen, sondern um eine positive Kraft dagegenzusetzen.

Es ist das berühmte Wort von Bergson: Man muss versuchen, als denkender Mensch zu handeln und als handelnder Mensch zu denken. In jedem meiner Videos versuche ich daher, ein Konzept oder eine wichtige Idee eines Autors zu präsentieren, wobei ich jedes Mal versuche, sie auf die eine oder andere Weise mit einem zeitgenössischen politischen Problem in Verbindung zu bringen, um einen neuen Denkansatz zu bieten.

Als Belgier befinden Sie sich an einem der Knotenpunkte der europäischen Kultur. Welche Lehren ziehen Sie daraus?

Vor allem eine Lektion in Sachen Europäertum. Ich bin in der Provinz Lüttich geboren und in der Nähe der niederländischen und deutschen Grenze aufgewachsen, und es war nicht ungewöhnlich für mich, kleine Ausflüge nach Maastricht oder Aachen zu machen. Die Tatsache, dass ich an der Schnittstelle von vier großen europäischen Kulturen lebe (der niederländischen, deutschen, französischen und englischen), hilft mir, unsere Gemeinsamkeiten besser zu verstehen. In gewisser Weise habe ich mich daher immer als „Europäer“ gefühlt: europäisch, weil ich Belgier bin, und belgisch, weil ich Europäer bin.

Was sind Ihre intellektuellen und literarischen Inspirationsquellen? Gibt es bestimmte Autoren oder Denker, vor allem deutsche, die Ihre Arbeit besonders beeinflusst haben?

Ohne Zweifel! Die germanische Kultur bedeutet mir seit meiner Jugend sehr viel, angefangen mit der Entdeckung Wagners im Besonderen, was ohne Übertreibung einer der größten Schocks meines Lebens war. Nach und nach interessierte ich mich für Schopenhauer und Nietzsche und schließlich für die großen Namen der damaligen deutschen Literatur: Goethe, Schiller, Herder, Hölderlin, Kleist, Eichendorff und so weiter. Da ich Philosophie studiert habe, bietet Deutschland wiederum unumgängliche Figuren wie Kant, Fichte, Hegel, Marx, Husserl oder Heidegger.

Vor allem aber muss ich die seit Armin Mohler als „Konservative Revolution“ bezeichnete Strömung erwähnen, deren Vertreter in meiner intellektuellen Ausbildung zum Teil eine entscheidende Rolle gespielt haben, nämlich Ernst Jünger, Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler und vor allem Carl Schmitt, wobei letzterer in dieser Strömung etwas untypisch ist.

Meine intellektuellen Anregungen sind jedoch nicht auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Schon früh begeisterte ich mich für die russische Literatur und originelle Denker wie Tschaadajew, Danilewski, Konstantin Leontjew, Wladimir Solowjew, Berdjajew und Solschenizyn. Auch die konterrevolutionären Denker boten mir eine gute Grundlage für meine Überlegungen. Vor allem aber möchte ich Autoren nennen, die schwer einzuordnen sind, in denen ich mich aber zunehmend wiedererkenne, wie Machiavelli, Gustave Le Bon, Vilfredo Pareto, Isaiah Berlin oder Julien Freund.

Wie hat Ihre Erfahrung als Philosoph Ihren intellektuellen Ansatz beeinflusst?

Ich glaube, dass mein Ansatz ganz und gar aus meinem Interesse an der Philosophie resultiert. Sokrates hat seinen Richtern, die ihm die Freiheit unter der Bedingung anboten, dass er der Philosophie abschwöre, geantwortet: „Ein Leben, das nicht geprüft und durchdacht ist, ist es nicht wert, gelebt zu werden“. Das ist auch meine Einstellung. Die Praxis der Philosophie besteht vor allem darin, das eigene Denken zu klären und sich von der unhinterfragten „Meinung“ zu lösen.

Was bedeutet es, im zeitgenössischen Kontext „europäisch“ zu sein?

Dass man sich diese Frage überhaupt stellen muss, zeigt, wie sehr die Allgemeinbildung und das Geschichtsbewusstsein der Europäer zusammengebrochen sind. Seit Karl dem Großen, den man zu seinen Lebzeiten im 19. Jahrhundert als „Rex Pater Europae“ bezeichnete, haben die Europäer so gut wie nie daran gezweifelt, dass sie Teil ein und desselben Zivilisationsraumes sind. Das Nationalbewusstsein entstand erst spät und innerhalb einer bereits bestehenden europäischen Gesellschaft. Heute fühlt sich ein großer Teil unserer Zeitgenossen eher mit dem Rest der Welt als mit Europa solidarisch oder reagiert mit einem engstirnigen Chauvinismus, der ebenso karikaturistisch wie antitraditionell ist. So leiden wir alle unter den Folgen einer bodenlosen kosmopolitischen Erziehung und einer übertrieben nationalistischen Geschichtsschreibung des letzten Jahrhunderts.

Heute Europäer zu sein, bedeutet also, sich gleichzeitig zu weigern, die entwurzelte und austauschbare Monade der heutigen kosmopolitischen und egalitären Ideologie zu sein, und seine Wurzeln wieder in die älteste Erinnerung zu tauchen, was natürlich bedeutet, aus denselben Quellen zu trinken wie die anderen europäischen Völker. Aber das ist nicht alles: Europäer zu sein bedeutet, eine gemeinsame Vergangenheit anzuerkennen, aber auch zu verstehen, dass wir vor einer gemeinsamen Herausforderung stehen. Der Zusammenbruch unserer Kultur, der anthropologische Niedergang und der Große Austausch sind Bedrohungen, die auf ganz Europa lasten.

Wie kann man das europäische Erbe verteidigen und fördern?

Politisch auf der Ebene der Staaten, indem sie sich in erster Linie als Angehörige einer bestimmten zivilisatorischen Einheit definieren, was bedeutet, dass sie alles ablehnen, was diesen Raum verfälscht.

Auf der persönlichen Ebene bedeutet dies, dass man die Mittelmäßigkeit ablehnt, die durch die Subkultur der Massen vermittelt wird. Da die europäische Kultur auf wunderbare Weise Feinheit und Größe, Raffinesse und Kraft zu vereinen wusste, müssen wir diese beiden Facetten in unserem eigenen Innenleben kultivieren: Stärke zeigen, indem wir den anthropologischen Niedergang und den Niedergang des Mutes, den Solschenizyn einst anprangerte, ablehnen und eine Vorliebe für die Künste pflegen, die den Geist erheben. Um den Geist zu erheben, muss man manchmal in der Lage sein, die politische Aktualität „loszulassen“.

Und schließlich bedeutet die Verteidigung des europäischen Erbes natürlich auch, dieses Erbe weiterzugeben. Da Kultur nur durch das Volk existiert, das sie trägt, ist die wichtigste Voraussetzung für die Bewahrung jeder Kultur die Kontinuität des Volkes. Solange es Europäer gibt, wird die europäische Kultur Metamorphosen und Wiedergeburten erleben.

Ein beliebter Begriff der Rechten ist der Remigration. Was verstehen Sie darunter?

Remigration ist in der Tat ein Begriff, der in den Debatten der Rechten immer häufiger auftaucht. Für die einen ist sie eine Illusion, für die anderen eine Notwendigkeit. Bisher wurden jedoch nur wenige konkrete Vorschläge gemacht. Einer der wenigen, der sich meines Wissens konkrete Gedanken darüber gemacht hat, wie die Remigration kulturell, wirtschaftlich, politisch und religiös nicht assimilierbarer Ausländer gelingen könnte, ist Martin Sellner, eine wichtige Persönlichkeit der österreichischen Identitären Bewegung.

Anfang dieses Jahres hat er im Verlag Antaios ein sehr interessantes Büchlein veröffentlicht (Remigration. Ein Vorschlag), das sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzt und sich von den Fantasien aller Art distanziert, die dieses Konzept hervorruft. Es scheint mir, dass wir diesen Ansatz auch im französischsprachigen Raum weiterverfolgen müssen. Nachdem wir das Konzept der Remigration im Internet „hochgejubelt“ haben, müssen wir nun besonnen und überlegt handeln.


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Wie Sellner in seinem Buch aufzeigt, bestünde eine Remigrationspolitik in Wirklichkeit aus einem System von Anreizen zur freiwilligen Ausreise, aus Reformen des Staatsbürgerschaftsrechts oder aus Ausweisungen aufgrund klar definierter Kriterien wie Kriminalität. Dies wäre nach eigenem Bekunden ein Prozess, der sich über 30 bis 40 Jahre hinziehen würde.

Neben dem Nachweis der Machbarkeit müssten die Europäer aber auch von der Wünschbarkeit überzeugt werden. Was viele zunächst schockiert, ist die Vorstellung, dass Remigration gleichbedeutend mit allen möglichen unmenschlichen und inakzeptablen Szenarien sei. Aber genau das Gegenteil ist der Fall! Wie schon Aristoteles in der Antike gezeigt hat, sind multiethnische Gesellschaften von Natur aus konfliktträchtig. Das einzige humane Szenario, das eine Eskalation der Gewalt verhindern kann, ist daher eine rationale Politik der Remigration.

Frankreich und Deutschland sind die beiden größten europäischen Nationen. Damit Europa wirklich zusammenwächst, müssen sie an einem Strang ziehen. Wie können Deutschland und Frankreich Ihrer Meinung nach zusammenarbeiten?

Zunächst durch einen kritischen Blick auf die eigene nationale Geschichte. Seit der Zeit von Franz I. hat Frankreich häufig seine Karte gegen Europa ausgespielt, indem es z. B. nichteuropäische Völker zur Hilfe gegen seine Nachbarn aufgerufen hat. Im Gegensatz dazu neigte Deutschland dazu, Europa in erster Linie unter deutscher Hegemonie zu denken (was sich im Übrigen in dem Ansatz widerspiegelt, die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches als deutschen Protostaat neu zu lesen, obwohl es sich ursprünglich um ein europäisches Reich handelte).

Franzosen und Deutsche müssen also die Geschichte umdrehen und begreifen, dass diese beiden gegensätzlichen Tendenzen nach und nach zum Selbstmord Europas geführt haben. Auch wenn es keinen Sinn hat, die Vergangenheit umzuschreiben, neige ich dazu, in der Teilung des Fränkischen Reiches im Jahre 843 und der Trennung von „Westfranken“ und „Ostfranken“ die Urkatastrophe Europas zu sehen. Der Österreicher Jordis von Lohausen bemerkte dazu: „Von da an war das europäische Kernland in einen atlantischen und einen nordischen Teil geteilt. Das war die Tragödie Europas“.

Sollten wir ein europäisches „Vorfeld“ schaffen, ein Netzwerk von Strukturen, die darauf abzielen, die kulturellen und metapolitischen Verbindungen zu stärken?

Ich nehme an, Sie beziehen sich auf Benedikt Kaisers Buch Die Partei und ihr Vorfeld. Kaiser hat in der Tat recht, wenn er seine Landsleute auffordert, ein rechtes „Mosaik“ zu schaffen, das sich zwar aus verschiedenen Richtungen zusammensetzt, aber in die gleiche Richtung drängt und einander unterstützt, so wie das Mosaik der linken Gruppen. Dieses rechte „Vorfeld“ muss sich jedoch nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch als transeuropäisches Netzwerk konstituieren. Die intellektuellen oder identitären Figuren haben jedoch die Pflicht, ihre Netzhaut nicht nur auf ihre nationale Realität zu fixieren, sondern auch die grundlegenden Tendenzen in Europa zur Kenntnis zu nehmen.


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Auf seiner Ebene bemüht sich das Institut Ilias bereits um ein europäisches Netzwerk durch Partnerschaften mit anderen Think-Tanks oder Verlagen in Europa (Instituto Carlos V, Passagio al Bosco, Verlag Jungeuropa usw.). Aber es ist auch ein Thema, das ich mit Freunden diskutiere, die Sie bereits befragt haben, wie David Engels oder Julien Rochedy, und das uns sicherlich dazu veranlassen wird, in Zukunft in diese Richtung zu arbeiten.

Vielen Dank für die Antworten!

Über den Autor

Matisse Royer

Matisse Royer, Jahrgang 2001, studiert Medizin in Südfrankreich und engagiert sich für soziale und politische Belange auf Korsika, in der Bretagne und darüber hinaus in ganz Europa.

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