Ex-Diplomat Volker Seitz: Das Abschiebedesaster – die Politik bleibt untätig
Deutschland gilt als starker Migrationsmagnet. Jedes Jahr kommen tausende Menschen, vor allem aus Afrika, in der Hoffnung, dauerhaft bleiben zu können. Dass dies nicht abwegig ist, zeigt die Tatsache, dass viele afrikanische Länder ihre Bürger nicht zurücknehmen wollen. Ein Problem, das schon lange bekannt ist, wie Botschafter a. D. Volker Seitz in seinem Kommentar für FREILICH erläutert.
Am 1. März 2024 brachte die Bild-Zeitung den Aufmacher „Abschiebe-Desaster – Afrikanische Länder nehmen Flüchtlinge nicht zurück“. Manchmal ist es erstaunlich, wie lange es dauert, bis die Politik reagiert und die Medien über ein langes bekanntes Phänomen berichten. Es ist seit über einem Jahrzehnt bekannt, ohne dass es eine Reaktion deutscher Behörden gab. Schon seit Jahren gab es deshalb Forderungen, Entwicklungshilfe zu streichen, wenn die Herkunftsländer bei Abschiebungen nicht kooperieren. Allerdings wurden die Forderungen als „rechtsextrem“ diffamiert.
Natürlich wurde von afrikanischen Medien aufmerksam registriert, als der damalige Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) es ablehnte, Entwicklungshilfe als „Druckmittel“ einzusetzen, um abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland abschieben zu können (Passauer Neue Presse, Mai 2018). Müller wurde anschließend im Dezember 2021 mit dem lukrativen Posten des Generaldirektors der UNIDO, der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung in Wien, belohnt.
Heute fordert sogar Kanzler Olaf Scholz „Wir müssen endlich in großem Stil abschieben“ (Spiegel, 20.10.2023). Auch in der CDU gibt es Bewegung. Die Innenministerin Sachsen-Anhalts, Tamara Zieschang (CDU) beklagte, dass mehrere afrikanische Staaten die Zusammenarbeit verweigern, wenn es um die Rückführung ihrer Bürger geht. Auch der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Hardt kritisiert, dass die Bundesregierung „keine Strategie hat, Ausreisepflichtige zurückzuführen.“ Eine erstaunliche Aussage, wenn man nicht vergessen hat, wer bis 2021 in Berlin regiert hat. Letzter Innenminister war Horst Seehofer (CSU).
Umdenken in der Politik
Am 6. März 2024 trafen sich in Berlin die Ministerpräsidenten zum sogenannten Migrationsgipfel mit dem Bundeskanzler. Das Ergebnis ist enttäuschend, weil erneut keine Begrenzung der irregulären Massenzuwanderung beschlossen wurde. Die Runde vertagte sich auf Juni. Es besteht offenbar weiterhin keine Eile. Weiterhin ist fraglich, ob die Asylgesetze künftig konsequenter angewendet werden: Laut der Drucksache 20/10520 des Deutschen Bundestages vom Montag, den 11. März 2024, haben sich bis zum Ende des Jahres 2023 242.642 Ausreisepflichtige in Deutschland aufgehalten, von denen 193.972 geduldet waren. Tatsächlich wurden 2023 lediglich 16.430 ausreisepflichtige Personen abgeschoben. Kein anderes Land hat eine so hohe Duldungsquote.
Was tun? Ohne die konsequente Einhaltung geltender Gesetze wird der Graben zwischen Wirklichkeit und Rechtsordnung immer größer. Alle, deren Anträge abgelehnt wurden, müssen abgeschoben werden, dann hätten wir jede Menge Platz und Geld für die wirklichen Asylbedürftigen. Auch die fehlende Aufnahmebereitschaft im Herkunftsland muss sich endlich auf etwaige Hilfen auswirken.
Niemand stellt die wichtigste Frage an die afrikanischen Staatsführer, warum sie keine Verantwortung für die eigene Bevölkerung übernehmen. Vielen afrikanischen Autokraten sei es schlicht egal, dass Menschen aus ihren Ländern im Meer ertrinken, klagte der kenianische Publizist Koigi Wamwere: „Sie sind weder am Allgemeinwohl interessiert noch daran, die Lebensumstände ihrer Bürger zu verbessern, sie wollen sich nur bereichern.“ Für seine kritischen Äußerungen war der ehemalige Parlamentarier elf Jahre im Gefängnis.
Autokraten in Afrika haben kein Interesse an Verantwortung
Wenn afrikanische Autokraten, die ihre Länder in Grund und Boden regieren, sich nicht für ihre Landsleute interessieren, muss jede Unterstützung aus Europa von nachprüfbaren Verbesserungen der Regierungsführung abhängig gemacht werden. Anderenfalls sollten alle Maßnahmen ausgesetzt werden. Dies geschieht bislang nicht, auch aus Rücksicht auf die etwa 100.000 Arbeitsplätze der Entwicklungshilfe-Organisationen allein in Deutschland.
In vielen Staaten haben die Menschen keine Hoffnung, dass sich noch etwas zum Guten bewegt. Für die meisten Regierungen ist dies kein Alarmzeichen, sondern willkommen, da Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit nach Europa exportiert werden können. Sie werden dadurch den Druck los.
Die afrikanischen Verantwortlichen müssen sich dem Fatalismus abgewöhnen, ihr Schicksal nicht auf Gott oder das Wetter schieben, sondern auf die eigene Anstrengung konzentrieren und lernbereit sein. So sind die Somalier wohl das einzige Küstenvolk, das keinen Fisch mag. Dabei könnte der – reichlich vorhandene – Fisch, der von den Nomaden kulturell nicht akzeptiert wird, die größten Ernährungsprobleme der hungernden Bevölkerung lösen.
Afrika muss umdenken!
Der Klimawandel, aber auch eine nicht den lokalen afrikanischen Bedingungen entsprechende Landwirtschaft, verwüsten Regionen. Eine der ersten Maßnahmen sollte sein, solche Pflanzen anzubauen, die wenig Wasser benötigen und der Verwüstung trotzen. Es mangelt an Agrar-Know-how, wie etwa Bewässerungssystemen. Nur etwa vier Prozent der Äcker werden bewässert. Somit ist die Produktivität stark abhängig von natürlichen Regenfällen. Es besteht erhebliches Potenzial zur Verbesserung. Nötig wäre auch der Aufbau einer ländlichen Industrie, um den Bauern weitere Einkommensmöglichkeiten zu schaffen. Es geht darum, die Kompetenz der Kleinbauern zu stärken. Wichtig ist, dass die eingesetzte Technik den jeweiligen Gegebenheiten entspricht und die Anlagen lokal gewartet und repariert werden können. Das sorgt dann sogar für zusätzliche Einkommensmöglichkeiten und damit für weitere Perspektiven in ländlichen Gebieten.
Das größte Übel ist aber die Bevölkerungsentwicklung, die jeden Fortschritt vernichtet. Afrika hat weltweit die höchsten Geburtenraten. Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Menschen in Subsahara-Afrika verdoppeln und bis Ende des Jahrhunderts vervierfachen. Kaum ein Land stellt sich dem Problem. Bei den explodierenden Bevölkerungszahlen (Beispiel Tansania hatte 1961 acht Millionen Einwohner, jetzt sind es 65 Millionen und 2030 werden es bereits über 80 Millionen sein) ist absehbar, dass die Länder ohne Familienplanung ihre Bevölkerung nicht mehr ernähren können. Afrika braucht neue respektable, mutige Führer, Ideen, Ansätze und Technologien – das ist dringender, als dauerhaft viel Geld zur Verfügung zu stellen.
Afrikapolitik neu denken!
Die Fluchtströme sind jedenfalls ein deutliches Signal dafür, dass die bisherige Entwicklungshilfe nur mäßig erfolgreich war. Niemand beschäftigt sich damit, was nach Auslaufen eines Projekts aus diesem geworden ist. Man würde feststellen, dass nach Ende teurer Projekte nichts übriggeblieben ist. Wenn wir nicht umdenken, bleiben die den afrikanischen Machteliten anvertrauten Untertanen arm. Das viele Geld, besonders aus Deutschland, wird – trotz der politischen Rhetorik – nicht geholfen haben.
„Woher nehmen wir eigentlich das Recht, durch angebliche Entwicklungshilfe in das Leben der Menschen einzugreifen und es zu verändern, die auf andere Weise als wir ihre Existenz gestalten, mit anderen Wertvorstellungen und anderen Lebensumständen? Früher konnten die Afrikaner selber Brunnen bauen. Heute schauen sie zu, wie Ihnen ein Brunnen ins Dorf geliefert wird.“ (Kurt Gerhardt, Koordinator des Bonner Aufrufs für eine andere Entwicklungspolitik)
Zur Person:
Volker Seitz, Botschafter a.D. und Autor des Bestsellers „Afrika wird armregiert“, dtv 11. Auflage 2021, war von 1965 bis 2008 in verschiedenen Funktionen für das Auswärtige Amt tätig. Er schreibt für verschiedene Medien wie Achgut und Pragmaticus.