Afghanistan – Schachbrett in Zentralasien
Das westliche NATO-Bündnis hat sich aus Afghanistan zurückgezogen. Nun agieren vor allem China, Russland und die Türkei im zentralasiatischen Staat, um ihre Interessen durchzusetzen.
Vielleicht war es mal wieder der altgediente Haudegen Wladimir Putin, der den richtigen Riecher hatte. Während die westlichen Mächte nämlich in ihre Flugzeuge sprangen, um vom sinkenden Schiff Afghanistan zu flüchten, beließ dieser sein Botschaftspersonal demonstrativ in der von den Taliban eroberten Hauptstadt Kabul. Auch wies er seinen Botschafter in Kabul an, bald Gespräche mit deren Führung in Gang zu setzen. Noch rätseln „viele“ westliche Korrespondenten, welcher sinistre Schachzug hinter dieser Entscheidung Chinas und Russlands steckt, sich mit radikalen Islamisten auseinanderzusetzen. Die pluralistische Meinungsvielfalt dazu kann in den deutschsprachigen Medien von der linken TAZ über die regionale Augsburger Allgemeine bis hin zur konservativen Presse nachgelesen werden.
Tatsächlich wirkt es auf den ersten Blick schizophren, eine Organisation, die in Russland selbst auf der Terrorliste steht, nun als Staatsgäste anzuerkennen. Schließlich hat Russland mit Tschetschenien selbst ein islamistisches Terrorproblem. Doch weder das China des 21. Jahrhunderts noch Russland unter Putin sind bekannt für ihre naiven Fehleinschätzungen in geopolitischen Fragen. Es kann wohl von beiden Mächten hier ein rationales Kalkül erwartet werden. Zuallererst ist es selbstverständlich, die geschaffene Realität in Afghanistan anzuerkennen. Doch viel mehr noch bildet sich in Zentralasien eine völlig neue geopolitische Landkarte heraus, in der der Westen und speziell die USA keine Rolle mehr spielen.
Sicherheit und Stabilität
Zuallererst liegt selbstverständlich Putins ureigenstes Interesse zu Grunde, Ruhe im Karton zu haben. Was viele Kommentatoren nämlich sehr oft nicht im Blick haben: Russland ist, wenngleich seine großen Bevölkerungs- und Wirtschaftszentren in Europa liegen, auch eine Großmacht in Asien. Anstatt marodierender gut bewaffneter Horden entlang des eigenen Einflussgebietes haben Russen und Chinesen nun einen zentralen Ansprechpartner in einem gefestigten Einflussgebiet – Afghanistan, als künstliches Gebilde zahlreicher Ethnien zum Teil aus angrenzenden ehemaligen Sowjetrepubliken wie Turkmenistan, Tadschikistan oder Usbekistan .
Während deren Mutterländer in weiten Teilen Russland zugetan sind, waren diese drei Minderheiten in Afghanistan als loses Bündnis namens „Nordallianz“ für die Amerikaner und die NATO ins Feld gegen die Taliban gezogen. Nun kann Russland mittels seiner Militärpräsenz in eben jenen Ländern auf die „Renitenz“ dieser Minderheiten Einfluss nehmen. Dafür spricht, dass die Taliban innerhalb weniger Tage sogar mehr Provinzen des Landes unter Kontrolle gebracht haben, als noch während ihrer ersten Herrschaft in den 1990er-Jahren.
Genau diesem Völkergemisch divergierender Interessen liegt auch die ewige Dysfunktionalität des afghanischen Staates zugrunde, den die Westmächte dort, ohne zu viel Engagement und Herzblut, aufzubauen versuchten und dabei das Zusammenspiel sowie die organisch gewachsenen Strukturen der einzelnen Volksgruppen völlig ignorierten. So meldete sich zur afghanischen Nationalarmee und der Polizei kaum mehr als das Lumpenproletariat des Landes, das sich als völlig unbrauchbar herausstellte, einen Staat zu machen, geschweige denn ihn zu verteidigen – und zwar nicht erst seit August 2021. Genauso wahrte sich Russland im Gegensatz zur NATO eine Kontinuität in seiner Afghanistanstrategie. Im Gegensatz zu den ebenso vor Ort präsenten Al Quaida und dem Islamischen Staat (IS) haben die eher provinziellen Taliban keine großen außenpolitischen Ambitionen und panislamische Kalifate, was sie zu einem durchaus attraktiven Garant für Stabilität vor Ort macht.
Ein Ende der amerikanischen Einkreisungsstrategie
Doch sehr viel wichtiger für Russland: Afghanistan war ein zentraler Baustein der amerikanischen Strategie, Russland von Skandinavien in der Arktis, über die Ukraine und Georgien am Schwarzen Meer bis hin nach Südkorea im Pazifischen Ozean mit NATO-Partnern und Militärbasen einzukreisen. Bereits während die Afghanistan-Operation der Amerikaner in Gang war, hatte sich Russland mit seinem nicht immergrünen Rivalen China zusammengetan, um die amerikanische Militärpräsenz in Usbekistan auf ein Minimum – nämlich die Versorgung seiner Truppen in Afghanistan – zu beschränken. Die westliche Unterstützung der Farben-Revolutionen in ehemaligen Sowjetrepubliken, die die usbekische Regierung durchaus misstrauisch machte, kam ihnen dabei zu Hilfe. Seitdem ist Russland sehr stark militärisch präsent an den Grenzen Afghanistans und Schutzmacht für die örtlichen Machthaber vor islamistischen Tendenzen innerhalb der muslimisch geprägten Gesellschaften. Mit Afghanistan selbst verschwindet auch die letzte relevante militärische Präsenz Amerikas, die eine Bedrohung an dieser Flanke darstellen könnte.
China und Türkei schleichen sich heran
Während Russland nach wie vor seine militärische Macht demonstriert, schleicht sich China langsam mit seiner Soft Power ein. Inzwischen hat es Russland als größten Investor in der Region abgelöst, das Geld fließt in Transportinfrastruktur, um einerseits Konsumgüter in Richtung Westen zu verfrachten und andererseits Rohstoffe nach China zu bringen. Dazu kommen große Erdöl- und Ergasvorkommen, die es zu heben gilt. Doch besonders ist ein Afghanistan, das einerseits US-befreit, andererseits stabil ist, eine gewaltige Brücke in Chinas „Neuer Seidenstraßen“-Strategie, von der bereits zahlreiche Länder profitieren, die als Transitkorridor dienen. Es wird für China nun möglich, Transportrouten zu nutzen, die nicht von den geostrategischen Rivalen Indien und Russland abhängen.
Zur gleichen Zeit lässt die Türkei ihre alten Beziehungen zu den sogenannten Turk-Völkern wieder aufleben. Im Gegensatz zu westlichen Eliten ist man sich dort noch bewusst, dass eine gemeinsame Sprache die Grundlage für Wachstum ist. Während Russland den Polizisten und China den Businessmann vor Ort abgibt, scheint die Türkei für sich die Rolle des Diplomaten gewählt zu haben. Mit der Übernahme des Kabuler Flughafens möchte man wohl das verbindende Element zwischen der explosiven Völkermischung vor Ort und dem Westen sein. Fraglich bleibt, welche Nische sich hier Europa wieder gesichert hat – höchstwahrscheinlich die des wohlmeinenden Sozialarbeiters, der sich all der verlorenen Seelen in diesem Schachbrett annimmt.
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