Amerika und wir – vom Ende eines Bündnisses
Dieser Artikel war geplant als Nachfolger meiner Einschätzung zum deutsch-russischen Verhältnis. Während ich dies nun schreibe, sind die sabotierten Nord-Stream-Röhren noch am blubbern. Das ist eine unerwartete Beschleunigung, keine Veränderung der grundlegenden Tatsachen. Das deutsch-amerikanische Bündnis, die wichtigste Konstante europäischer(!) Politik seit dem Zweiten Weltkrieg, hat sich auseinandergelebt.
Dass es Sabotage war, wagt nicht einmal unsere Regierung zu bestreiten. Zurzeit gibt es drei Verdächtige:
1. Die Vereinigten Staaten von Amerika.
2. Polen mit Billigung der Vereinigten Staaten von Amerika.
3. Die Ukraine mit Billigung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Die Vereinigten Staaten oder einer ihrer Vasallenstaaten haben kaum verhohlen einen militärischen Angriff auf die Energieversorgungsinfrastruktur der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt. Die plausible deniability entspricht in diesem Falle der Unbeweisbarkeit der Täterschaft bei einem Mafiamord, von dem jeder weiß und auch jeder wissen soll, wer ihn verübt hat. Der Sache nach ist das eine Kriegshandlung und wenn der Twittertrend #Kriegserklärung jetzt so grotesk erscheint, dann offenbart das nur, welche grotesken Ausmaße die Selbstverzwergung der Bundesrepublik angenommen hat.
Jeder souveräne Staat würde das als Kriegshandlung werten und entsprechend handeln
Jeder souveräne Staat würde auf einen solchen Angriff mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren. Dazu muss man keine Weltmacht sein. Dass die USA von direkten Angriffen auf den Iran immer abgesehen haben, liegt daran, dass dieses Land sich die Mittel zur militärischen Vergeltung verschafft hat, in seinem Falle die Möglichkeit, Ölinfrastruktur am Golf anzugreifen. Man muss auch nicht das Glück haben, ein solches Ziel vor der eigenen Haustüre zu wissen. Dass keine Pipelines in Russland explodieren, liegt daran, dass russische Bomber und Unterseeboote dann Pipelines auf dem nordamerikanischen Kontinent angriffen. Eine Kapazität, die sich die Bundesrepublik längst hätte verschaffen können, wenn deren Regierung die eigene Armee nicht als koloniale Hilfstruppe betrachtete, mit der man ärgerliche Bündnisverpflichtungen teilerfüllt.
Jenseits der militärischen Reaktion hätte ein solcher Angriff eines Bündnispartners auf einen normalen Staat die sofortige Bündnisaufkündigung und eine geopolitische Neuausrichtung nach sich gezogen. Man muss sich diese normale Reaktion vor Augen halten, um den Vergleichsmaßstab zu dem nicht zu verlieren, was die Regierung der Bundesrepublik tatsächlich tut.
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen sind zweiteilig
Der mit dem Euphemismus „Deutsch-Amerikanische Freundschaft“ betitelte Zustand begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Verfolgt man seine Geschichte, erhellt sich, warum die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten ein wunder Punkt der deutschen Politik sind. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Krieg sind zweiteilig zu betrachten und das häufige Unverständnis beruht darauf, dass meist nur eine Hälfte für das Ganze genommen wird.
Die eine Seite besteht aus der Einflussnahme, welche die Vereinigten Staaten als Sieger nach dem Krieg auf das von ihnen besetzte Deutschland ausübten. Die andere Seite besteht aus der Erfüllung genuiner deutscher Interessen durch das Bündnis mit Amerika. Die deutsch-amerikanische Interessenlage ist im Verlauf der letzten siebzig Jahre bei weitem nicht dieselben geblieben, doch die Vergangenheit wirkt nach, weil sie in politische Institutionen und Verbindungen gegossen wurden.
Die Umerziehung
Nach dem Krieg begannen die Vereinigten Staaten, den ihnen zugefallen Teil Deutschlands nach ihren Vorstellungen umzubauen. Auf der Ebene der Elite setzten sie ihnen genehme Personen ein, häufig Exilanten, und sorgten darüber hinaus über zahlreiche Institutionen dafür, dass die politische, wirtschaftliche, akademische und mediale Elite Deutschlands persönlich mit den Vereinigten Staaten verbunden wurde. Organisationen wie die Atlantikbrücke betreiben diese Arbeit bis auf den heutigen Tag und man darf sie keinesfalls unterschätzen. Wo ein Minister als Student sein Auslandssemester absolviert hat, ist ein Politikum. Entscheidungsträger sind auch nur Menschen und mit seinem sozialen Umfeld auf einer Wellenlänge zu sein, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Ist dieses Umfeld transatlantisch und globalistisch, dann braucht ein deutscher Politiker nicht von der CIA erpressbar sein, um Politik für amerikanische und gegen deutsche Interessen zu machen, weil vorrangig amerikanische Meinungsbildner und Institutionen das Meinungsklima in diesen transatlantischen sozialen Zirkeln prägen.
Auf der Ebene des Gesamtvolkes bauten die Vereinigten Staaten Deutschland weltanschaulich nach ihren Vorstellungen um, ein Vorgang der unter dem Wort „Reeducation“ in die Geschichtsbücher einging. Diese Reeducation hatte das Ergebnis, dass die politische Identität Deutschlands nur noch teilweise eine deutsche ist, man betrachtet sich auch als Teil des demokratischen Westens. Das ist eine dem eigenen Nationalstaat übergeordnete politische Identität. Nichts anderes sagen deutsche Transatlantiker, wenn sie von den gemeinsamen Werten sprechen. Jürgen Habermaß hat es am ehrlichsten ausgesprochen: Er sei ein Produkt der Reeducation, er hoffe ein gutes.
Ein Bündniswechsel bedeutete dann eine politische Identitätskrise. Das unterscheidet Deutschland von US-Verbündeten wie Saudi-Arabien, der Türkei, oder Israel, die in der gegenwärtigen Krise selbständig agieren können, weil sie Politik nach eigenen Interessen auch gegen den Block der Demokratien machen können, zu dem sie keine besondere Loyalität empfinden.
Deutsche Interessen waren 1950 ganz andere als 2022
Doch die bloße Umerziehung, eine verborgene Fremdherrschaft, erklärt nicht die langanhaltende Stabilität des deutsch-amerikanischen Bündnisses. Gäbe es ein Rezept, um Völker dauerhaft gegen ihre eigenen Interessen einzunehmen – Eroberer hätten sich dies längst überall zunutze gemacht. Bloße Marionettenregierungen sind, wie die Sowjetunion in Osteuropa und die Vereinigten Staaten selbst zuletzt in Afghanistan erfahren mussten, nur durch die unmittelbare Gewalt der Besatzer zu halten.
Das Transatlantikertum ist deshalb so tief in die politische Landschaft Deutschlands eingegraben, weil das Bündnis mit den Vereinigten Staaten in den ersten 40 Jahren der Bundesrepublik wesentliche deutsche Interessen erfüllte. Das offensichtlichste war der Schutz gegen sowjetische Aggression. Wer heute auf westeuropäische Großstädte blickt, muss zu dem Schluss kommen, dass der Bolschewismus für das langfristige Überleben eines Volkes die geringere Gefahr war. Nach dem Krieg spielten solche Überlegungen aus der Zukunft freilich keine Rolle, zumal nicht in Deutschland, wo die rote Gefahr keine politische Abstraktion war. Deutsche Soldaten hatten in Russland die Folgen des Bolschewismus gesehen und in den letzten Kriegswochen versuchten Millionen Deutsche aus gutem Grund, verzweifelt die Armeen der Westalliierten zu erreichen.
Zudem waren die Vereinigten Staaten zu Beginn der Bundesrepublik diejenige Besatzungsmacht, die am ehesten bereit war, dem neuen deutschen Staat politischen Handlungsspielraum zuzugestehen. Als transatlantischer Hegemon war ihnen die Hackordnung innerhalb Europas gleichgültig, anders als England und Frankreich, die bei allem Europagesäusel sehr daran interessiert waren, das Kriegsergebnis zur Zementierung innereuropäische Machtverhältnisse zu Deutschlands Ungunsten zu nutzen. In dieser Hinsicht bewährte sich die Westbindung glänzend. Ohne sie wäre die Wiedervereinigung viel schwieriger, vielleicht unmöglich gewesen. Diese Wiedervereinigung ist in Deutschland vor allem als Geschenk Gorbatschows in Erinnerung geblieben. Vergessen ist, dass es der ältere Präsident Bush war, der sie gegen unsere europäischen Partner Thatcher und Mitterrand durchboxte.
Deutschland erhielt von den Vereinigten Staaten den Zugang zum Weltmarkt
Schließlich das Wichtigste, über das am wenigsten geredet wird: Der Zugang zum Weltmarkt. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum heutigen Tag steht Deutschland vor einem grundsätzlichen Problem. Seine Industrie benötigt Rohstofflieferanten und Absatzmärkte. Wenn ich sage „Deutschlands Industrie benötigt“, dann ist dabei nicht an händchenreibende Bonzen zu denken. Das ist eine Überlebensfrage des Volkes. Zweimal hat Deutschland erfolglos versucht, sich diese Grundlage seines Überlebens aus eigener Kraft zu sichern. Nach dem Ersten Weltkrieg war eine allgemeine Verelendung die direkte Folge der Niederlage.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Vereinigten Staaten das unangefochtene Zentrum der Weltwirtschaft. Zeitweilig wurden über fünfzig Prozent des globalen Bruttosozialproduktes dort erwirtschaftet. Die USA bauten als Imperialmacht ein Welthandelssystem unter ihrem Schutz und unter ihrer Kontrolle auf und sie gewährten ihren Vasallenstaaten Zugang zu diesem Weltmarkt. Das war der wichtigste Vorteil der Westbindung. Durch die Unterordnung unter die geopolitischen Interessen der Vereinigten Staaten erlangte Deutschland die Lebensgrundlage, die es sich nicht selbst sichern konnte.
Die Vereinigten Staaten sind zum Störenfried des Welthandels geworden
Die demographische Walze der Roten Armee aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht im alternden Russland genauso wenig mehr, wie die weltrevolutionäre Ideologie des Kommunismus. Für ein Land mit den wirtschaftlichen und technologischen Mitteln Deutschlands ist Russland ein ernstzunehmender Nachbar, aber jede Existenzangst vor dem Iwan ist absurd.
England und Frankreich sind mit ihrem Versuch, das größte europäische Volk dauerhaft klein zu halten, längst gescheitert und Deutschland hat keinen Bedarf mehr an amerikanischer Rückendeckung zur Rückerlangung deutscher Souveränitätsrechte von europäischen Partnern.
Damit sind zwei Gründe des deutsch-amerikanischen Bündnisses entfallen. Aber solange man die Vereinigten Staaten nicht deshalb ablehnt, weil sie das Zentrum des Globalismus, Multikulturalismus und der woken Ideologie sind, was immer noch nur eine Minderheit in Deutschland tut, dann besteht dennoch kein Grund, das deutsch-amerikanische Bündnis nicht als stabilisierenden Pfeiler deutscher Außenpolitik beizubehalten.
Gründe hierfür liefert die Wirtschaftspolitik der Vereinigten Staaten inzwischen zur Genüge. Amerika ist nicht mehr das wirtschaftlich größte Land der Welt. Diesen Rang haben ihnen die Chinesen inzwischen abgelaufen, zum Mindesten, wenn man nach Kaufkraftparität misst. Die Zeiten, in denen die Vereinigten Staaten den Weltmarkt durch ihr bloßes Übergewicht imperial dominieren konnten, sind vorbei. In Reaktion auf diesen Machtverlust mobilisieren sie ihre verbliebene militärische und institutionelle Macht als alter Hegemon, um den eurasischen Wirtschaftsraum abzuwürgen, bevor er ihnen endgültig über den Kopf wächst.
Vom Garanten des Weltmarktes sind sie zu der Macht geworden, die den Weltmarkt aus eigenen Machtinteressen torpediert. Das völlige Versagen amerikanischer Diplomatie, irgendjemanden außer ihren direkten Vasallenstaaten dazu zu bewegen, die Sanktionspolitik gegen Russland mitzutragen, rührt daher, dass der größere Teil der Welt die USA als Urheber einer Politik sieht, die den eigene Wohlstand und inzwischen die Notwendigkeiten des täglichen Lebens bedroht.
Die wirtschaftliche Grundlage des deutsch-amerikanischen Bündnisses hat sich in ihr Gegenteil verkehrt
Für Deutschland bedeutet diese gewandelte Rolle der Vereinigten Staaten, dass das Bündnis mit ihnen nicht mehr den Zugang zum Weltmarkt bringt, sondern im Gegenteil mit der Forderung verbunden ist, den deutschen Außenhandel im amerikanischen Interesse empfindlich zu beschränken. Damit hat sich eine der wesentlichen Grundlagen des deutsch-amerikanischen Bündnisses in ihr Gegenteil verkehrt. Dies ist eine Tatsache. Unabhängig davon, welche politische Richtung gerade in Berlin an der Macht ist.
Eine globalistische Regierung bleibt weltanschaulich an den Westen gebunden, aber sie muss mit dieser Tatsache zurechtkommen – einer nationalen Regierung hingegen ermöglicht diese Tatsache einen Kurswechsel, der die Funktionselite der deutschen Wirtschaft mitnimmt, anstatt sie zum Gegner zu haben.
Deutschland wird von Menschen regiert, die mit der „deutsch-amerikanischen Freundschaft“ groß geworden sind. Das wirkt selbst auf der dissidenten Rechten nach. Doch die Zeit der deutsch-amerikanischen Interessenüberschneidung ist vorbei. Der Preis des Festhaltens an transatlantischen Seifenblasen wächst täglich. Nach Jahren einer jedes internationale Recht missachtenden Sanktionspolitik, nicht nur gegen Nord Stream 2, haben die Vereinigten Staaten nun zur militärischer Gewalt gegriffen, um Deutschland zur Teilnahme an amerikanischen Wirtschaftskriegen zu zwingen, die für ein exportorientiertes und rohstoffarmes Land ruinös sind.
Wirtschaftliches Interesse und nationale Unabhängigkeit sind nun dasselbe
Aufgrund der kriminellen Vernachlässigung seiner Streitkräfte wäre die Bundesrepublik selbst dann zu keiner direkten Reaktion fähig, wenn ihre Regierung dies wollte. Aber dieser Angriff wird dennoch Konsequenzen haben. Er ist kein Zeichen von Stärke, sondern ein letztes Mittel um eine Verständigung zwischen Russland und den Staaten der Europäischen Union unmöglich zu machen, indem man die russische Fähigkeit zur Gaslieferung zerstört.
Die Amerikaner begannen den Ukrainekrieg in der Erwartung, Selenskyj müsse nur lange genug durchhalten, bis die russische Wirtschaft durch Sanktionen ruiniert und Putin von einem hungrigen Mob aus dem Amt gejagt wird. Sämtliche derartigen Hoffnungen haben sich in Luft aufgelöst und inzwischen kann Washington nur hoffen, dass die Ukrainer irgendwie den Krieg militärisch gewinnen, bevor ihren europäischen Vasallen und zunehmend auch ihnen selbst die Luft ausgeht.
Die Bedingungen für ein deutsch-amerikanisches Bündnis waren seit längerem nicht mehr gegeben. Der amerikanische Angriff auf Nord Stream rückt ihre Beerdigung ein gutes Stück näher. Es ist eine Lage entstanden, in der wirtschaftliches Interesse und nationale Unabhängigkeit nicht mehr Gegensätze sind, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern in eins fallen.
Zur Person:
Johannes K. Poensgen, geboren 1992 in Aachen, studierte zwei Semester Rechtswissenschaft in Bayreuth, später Politikwissenschaft und Geschichte in Trier. Erreichte den Abschluss Bachelor of Arts mit einer Arbeit über die Krise der Staatsdogmatik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Befasste sich vor allem mit den Werken Oswald Spenglers und Carl Schmitts.