Azov-Kommandant im Interview: „Der Angriff hat unser Land geeint“
Wie steht es um Mariupol? Was ist das angeblich „umstrittene“ Regiment Azov? Welche Rolle spielt der ukrainische Nationalismus in diesem Konflikt? Wir haben mit Serhiy Tamarin, einem Mitbegründer und jetzigen Kommandanten einer Azov Abteilung der Territorialverteidigung, gesprochen.
TAGESSTIMME: Herr Tamarin, während wir sprechen, kämpfen ukrainische Soldaten in Mariupol einen intensiven Abwehrkampf gegen russische Truppen. Dieser dauert bereits rund einen Monat. Wie ist die gegenwärtige Lage in Mariupol? Gibt es Möglichkeiten, die eingeschlossenen Soldaten zu unterstützen? Und wie viele Soldaten des Azov-Regiments kämpfen dort derzeit?
Serhiy Tamarin: Tatsache ist, dass während wir unser Gespräch führen, verteidigen und kämpfen Soldaten des Asov-Regiments sowie Marineinfanterie und andere Soldaten der Nationalgarde aktiv in der Stadt Mariupol. Aber ich kann bestätigen, dass Mariupol praktisch eingekreist ist und jeder, der dort ist, unmenschliche Anstrengungen unternimmt, um es ukrainisch zu halten. Das Hauptproblem liegt in der Rüstung und Unterstützung, sowohl militärisch als auch gesellschaftspolitisch. Das liegt daran, dass europäische und westliche Medien seit 2014 kontinuierlich versuchen, das Azov-Regiment zu diskreditieren. Sie haben uns vorgeworfen, illegale oder unmoralische Ansichten zu vertreten.
Nun, nach acht Jahren Krieg in der Ukraine, sehen wir, dass das alles von russischem Geld finanzierte Lügen im russischen Interesse waren. Das Regiment Azov ist ein hochmotivierter, professioneller Teil der ukrainischen Armee, nicht mehr. Aber dank der pro-russischen Lobby im US-Senat und im EU-Parlament hat unsere Außendarstellung gelitten. Deshalb haben wir weder notwendige Ausrüstung noch die angemessene Unterstützung erhalten. Nichtsdestotrotz arbeiten wir jetzt mit dem, was wir haben. Und beweisen der ganzen Welt, wer wir wirklich sind.
TAGESSTIMME: Das Regiment Azov ist eine wichtige Säule in der Verteidigung Mariupols. Erst neulich wurde Denys Prokopenko, Kommandant des Azov-Regiments, als „Held der Ukraine“ ausgezeichnet. Das ist die höchste Anerkennung des ukrainischen Staates. Erleben wir derzeit die Geburt eines neuen nationalen Mythos der Ukraine?
Tamarin: Ich denke, das hat mit einem „Mythos“ gar nichts zu tun. Denys Prokopenko, genannt „Redis“, und Wolodymyr Baranyuk, Kommandant der 36. Marinebrigade, sind bereits jetzt echte Helden. Sie kämpfen in Unterzahl, wehren zahllose Feine ab, führen erfolgreiche Abwehraktionen durch: Sie sind echte Helden und wahre Vorbilder für Mut, Moral, Haltung und Professionalität. Was die Abwehrmaßnahmen betrifft, so trifft die AZOV die einzig wichtigen Maßnahmen, da außer ihnen und den Marineinfanterie keine regulären Truppen mehr dort sind.
TAGESSTIMME: Viele deutsche Medien warnen, dass der gegenwärtige Kampf des Azov-Regiments ukrainische Nationalisten stärken könnte. Könnten Sie deshalb uns erklären, für welche Ideen das Azov-Regiment steht und wofür Sie kämpfen?
Tamarin: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir eine Sache klarstellen. Nationalismus ist die Liebe zur eigenen Heimat. Nationalismus bedeutet, die Interessen deines Landes und deines Volkes über deine eigenen zu stellen. Das hat nichts mit dem nationalsozialistischen Deutschland oder dem faschistischen Italien zu tun. Ich wiederhole, Nationalismus ist die Liebe zur Heimat. Nationalismus ist nicht die Sprache des Hasses oder die Ideologie, Fremde nicht zu tolerieren. Das sind ja jene Einstellungen, die sie immer wieder mit dem Nationalismus unterstellen, um die Leute zu manipulieren. Wir Ukrainer sind stolz auf unsere Nationalhelden. Wir sind stolz auf unsere Geschichte. Und wir sind ein weitgehend nationalistisches Land.
In Deutschland gibt es aufgrund der Vergangenheit einen Schuldkomplex, der verhindert, dass dort solche Ansichten objektiv bewertet werden, ihre wahre Bedeutung wird verzerrt. Insofern kann ich die Angst deutscher Journalisten nicht nachvollziehen. Und ich würde empfehlen, dass man sich intensiver mit unseren Konzepten befasst – insbesondere auch mit ideologischen Hintergründen des Ringens um Unabhängigkeit in den vergangenen hundert Jahren bis heute. In der Ukraine werden die letzten hundert Jahre als Phase des „Ukrainischen Freiheitskampfes“ bezeichnet. Und natürlich haben sich in der Zeit viele Anschauungen verändert, aber die Absichten sind bis heute dieselben – sowohl geopolitisch wie auch in der Innenpolitik oder der Wirtschaft.
TAGESSTIMME: Können Sie uns die komplexe Beziehung zwischen Russland und der Ukraine kurz erklären?
Tamarin: Naja, die Beziehung lässt sich ganz einfach beschreiben: Sie wollen unser Land und wir wollen, dass sie in ihrem bleiben. Ich mag diese Phrase nicht, aber es hat sich im vergangenen Jahrhundert nichts verändert. Die Freiheitskämpfe der letzten hundert Jahre sind der Beweis, dass das neo-bolschewistische Russland nicht stoppen wird, alle Identitäten zu zerstören. Dschochar Dudajew sagte einmal: „Russland sitzt bis zum Hals in der Scheiße und will die anderen mithineinziehen, anstatt selbst wieder rauszukommen.“
TAGESSTIMME: Zum Abschluss: Haben Sie eine Ahnung, wie die Lage der Ukraine aussehen wird, wenn dieser Krieg vorbei ist?
Tamarin: Ich bin davon überzeugt, dass der Krieg mit unserem Sieg und dem Kollaps des russischen Imperiums und Putins enden wird. Ich glaube auch, dass uns jede Menge Arbeit beim Wiederaufbau unseres Landes bevorstehen wird – und natürlich bei der Neuaufstellung längst unbrauchbarer und ineffizienter Verteidigungsbündnisse wie etwa der NATO, wirtschaftlicher Einheiten wie der EU und humanitärer Organisationen wie dem Roten Kreuz und der OSZE. All das, was nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, ist längst überholt. Deshalb geht es um den Wiederaufbau, nicht nur in unserem Land und unseren Köpfen, sondern ganz allgemein des Systems der globalen Sicherheit und die Vorbereitung auf Herausforderungen von der Größenordnung eines Krieges mit Russland oder irgendjemand anderes.
Lesen Sie das ganze Interview am FREILICH Blog
Zur Person:
Serhiy Tamarin, geboren am 18. Feber 1988 in Charkiw, hat Rechtswissenschaft, Kriminalpsychologie und Öffentliche Sicherheit studiert. Bis 2014 arbeitete er als Ermittler bei der Polizei. Mit Ausbruch des Russisch-Ukrainischen Krieges 2014 hat sich Tamarin als Freiwilliger gemeldet. Kurz darauf war er einer der Mitgründer des Regiments Azov, in dem er bis 2017 aktiv war. Daran anschließend übernahm Tamarin das Kommando über eine Spezialeinheit der Polizei. 2019 schied er als Major aus dem Polizeidienst aus und arbeitete als HR-Manager in einem großen Unternehmen. Seit dem 24. Februar 2022 ist Tamarin Kommandant einer zu Azov gehörenden Abteilung der Territorialverteidigung.
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Das vollständige Interview ist am Blog des FREILICH MAGAZINS erschienen.