Die Orwell’schen Schweine und der Fleischklopfer

Der brutale Angriff auf den Anti-Korruptions-Aktivisten Leonid Wolkow wirft Fragen nach der Verantwortung und den Hintermännern auf. Die jüngsten Enthüllungen über mögliche Verbindungen zu prominenten Persönlichkeiten wie Leonid Newslin lassen den Fall noch düsterer erscheinen, betont Ilia Ryvkin in seinem Kommentar für FREILICH.

Kommentar von
18.10.2024
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5 Minuten Lesezeit
Die Orwell’schen Schweine und der Fleischklopfer

Wolkow wurde im März dieses Jahres überfallen und schwer verletzt.

© IMAGO / NurPhoto

Wissen Sie, wie man Schweinefleisch richtig zart macht? Der Einsatz eines Fleischklopfers ist entscheidend. Fühlen Sie das Gewicht des Werkzeugs in Ihrer Hand, die Hebelwirkung und den kraftvollen Schwung? Stellen Sie sich vor, wie Sie ein Kotelett gleichmäßig aushämmern. Doch was passiert, wenn sich unter dem Hammer die Windschutzscheibe eines Autos befindet? Ein gewaltiger Knall, Rissmuster, zerbrochene Kristalle – der Schaden ist enorm. Und was, wenn ein lebender Mensch unter dem Fleischklopfer läge?

Der Leser, der sich für die in unserer Publikation „Dissidenz als Alibi“ dargestellten Machenschaften des Managements der Antikorruptionsstiftung interessiert, wird gewiss auch den umfassenderen Kontext der Erlebnisse unserer Protagonisten in den Blick nehmen wollen. Es wäre eine erhebliche Ungerechtigkeit, über Leonid Wolkow zu sprechen, ohne eine äußerst unangenehme Episode zu erwähnen, in der er sich eher als Opfer denn als Täter erweist. Die Rede ist von dem berüchtigten Attentat auf Herrn Wolkow am 12. März 2024 in Vilnius.

„Die wollten mich zerfleischen“

Wolkow wurde in unmittelbarer Nähe seines Hauses brutal attackiert. Während er in seinem Auto saß, schlugen die Täter die Windschutzscheibe ein und sprühten ihm Tränengas ins Gesicht, woraufhin sie mit einem Vorschlaghammer auf ihn einschlugen. Die später veröffentlichten Fotos zeigen die Schwere der erlittenen Verletzungen: Wolkows Gesicht und Beine sind blutüberströmt. Polizei und Rettungskräfte eilen zum Tatort, Wolkow wird umgehend ins Krankenhaus gebracht. In einer ersten Stellungnahme sagte er: „Die wollten mich zerfleischen. Wirklich. Einer der Männer hat mich mit einem Vorschlaghammer direkt vor dem Haus angegriffen. Er hat fünfzehn Mal auf mein Bein eingeschlagen. Warum es noch intakt ist, weiß ich nicht.“

Ich hatte, wie viele andere, erwartet, die Drahtzieher des Angriffs jenseits des hastig restaurierten Eisernen Vorhangs zu finden. Die Tat weist stilistische Anleihen aus dem Video der PMC „Wagner“ auf, in dem ein Verräter mit einem Vorschlaghammer hingerichtet wird – ein Bild, das längst zum Internet-Meme avanciert ist. Doch die ans Licht gezogene Wahrheit übersteigt alle Erwartungen.

Hinweise auf Drahtzieher

Im Juli 2024 erhielt die Antikorruptionsstiftung über die offizielle Firmen-E-Mail „info@“ einen Hinweisbrief. Der Absender behauptete, den Organisator aber auch den Auftraggeber des Angriffs zu kennen. Die Stiftung nahm Kontakt mit dem Informanten auf, der nicht nur belastbare Hinweise lieferte, sondern auch handfeste Beweise: Videoaufnahmen von den Handys der Angreifer, Screenshots der gesamten Korrespondenz und Tonaufnahmen von Telefonaten zwischen dem Organisator und dem mutmaßlichen Auftraggeber, der unter einer israelischen Nummer mit dem Alias „Arieh Ben haAm“ in Erscheinung trat. Hinter dem klangvollen Pseudonym, das „Löwe, der Sohn seines Volkes“ bedeutet, verbirgt sich eine prominente Persönlichkeit: Leonid Newslin.

Newslin ist vor allem durch seinen Kompagnon Michail Chodorkowski bekannt und gilt als dessen rechte Hand, Geldbörse und „Alter Ego“. Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den beiden sind so eng, dass die beiden Herren in dieser Hinsicht einem siamesischen Zwillingspaar gleichen – in den Worten des Dichters: Wenn einer trinkt, werden beide beschwipst. Chodorkowski, der Freiheitsapostel wurde wegen seines Einsatzes „für die Werte der Zivilgesellschaft, die wirtschaftliche Freiheit und den Kampf für Gerechtigkeit und Menschenwürde“ mit unzähligen Ehrungen, einschließlich des polnischen Titels „Ritter der Freiheit“, gewürdigt.

Die Ausnutzung des Systems

George Orwells Weitsicht hat mich immer fasziniert, besonders in seiner „Animal Farm“, wo die Schweine, die die Revolution ins Rollen brachten, am Ende der Fabel die Farm privatisieren. In dieser von Orwell nicht mehr erlebten Phase der gescheiterten marxistischen Utopie ereignete sich das Treffen unserer Protagonisten. Die Erben – sowohl ideologisch als auch physisch – jener, die einst unter dem roten Banner das historische Russland plünderten, begannen die Beute in ihre eigenen Hände zu nehmen. An der Spitze des neuen Trends standen Funktionäre des Kommunistischen Jugendverbandes. Auch der damalige Komsomol-Sekretär Michail Chodorkowski und seine jungen Genossen wurden aktiv: 1989 gründeten sie die Menatep-Bank und ließen die Group Menatep Limited in Gibraltar eintragen – dem perfekten Ort für eine kreative Buchführung.

In den neunziger Jahren waren Pfandversteigerungen zur Plünderung der russischen Wirtschaft en vogue. Angesichts der anhaltenden Haushaltsdefizite nahm der Staat Kredite von Banken auf und setzte Unternehmen von strategischer Bedeutung als Pfand ein. Die Bereiche Verkehrsinfrastruktur, Schwerindustrie und Bergbau standen dabei ganz oben auf der Liste. Auffällig ist, dass ein erheblicher Teil der Finanzmittel der Banken aus staatlichen Anlagen stammte, was die Absurdität der Lage verstärkte. Auch die Versteigerungen selbst waren eine Farce: Nur Vertreter regierungsnaher Oligarchengruppen durften mitbieten. Chodorkowski und sein Kompagnon Newslin, die damals als Berater des Premierministers Iwan Silajew fungierten, waren dabei nicht die einzigen, die das System zu ihrem Vorteil ausnutzten.

Selbst Al Capone wäre stolz

Im Dezember 1995 wurde YUKOS, ein Ölförderunternehmen, zur Versteigerung angeboten. Den Zuschlag erhielt die Ein-Tages-Firma Laguna, deren Bürge die Menatep Bank war, die bereits erwähnt wurde. Diese Bank war auch Bürge für den einzigen Mitbewerber der Laguna, die als Scheinfirma geltende Reagent. Zum Startpreis von 150 Millionen Dollar bot Reagent 150,1 Millionen Dollar, während Laguna mit 159 Millionen Dollar überbot. Die Finanzierung der Transaktion durch Menatep beinhaltete 120 Millionen Dollar aus Staatsanlagen. Acht Monate nach dem Erwerb hatte die Kapitalisierung von YUKOS bereits 6,2 Milliarden Dollar erreicht.

Man könnte meinen, die einstige Komsomol-Jugend habe ihren Plan, das Unternehmen zum Schnäppchenpreis zu ergattern, mit Argumenten untermauert, die selbst Al Capone überzeugt hätten.

Newslin als Auftraggeber

Am Morgen des 26. Juni 1998 wurde Wladimir Petuchow, der Bürgermeister von Neftjugansk und ein Kritiker Chodorkowskis, vor dem Rathaus mit einer Maschinenpistole erschossen. Auffällig ist, dass der Mord auf Chodorkowskis Geburtstag fällt, möglicherweise eine Art „Geschenk“ zu seinem fünfunddreißigsten – dem Tag, an dem der künftige „Ritter der Freiheit“ seinen Aufstieg zelebrierte. Leonid Newslin wurde später als Auftraggeber des Mordes genannt.

Im Jahr 2003 gingen die beiden Komplizen auseinander. Chodorkowski wurde verhaftet und wegen Betrugs, Unterschlagung und Steuerhinterziehung zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt. Mit seiner Festnahme trat eine Klausel in der Satzung der Bank in Kraft, die regelt, dass die Befugnisse des Geschäftsführers, falls er unter Druck gerät, an einen anderen Gesellschafter übergehen. Der neue Geschäftsführer wird von einem sogenannten „Protector“ ernannt. In diesem Fall handelte es sich um keinen Geringeren als Lord Jacob Rothschild, der die Leitung an Leonid Newslin übergab, der anschließend nach Israel floh. Nach seiner „Repatriierung“ konnte der ehemalige Senator Russlands seinen Hass auf das russische Volk offen zur Schau stellen. „Orks, Sklavenvieh. Tod den Russen“ – solche Ausfälle finden sich in seinen Sozialen Netzwerken zuhauf.

Amnesty Internationals Meinungswechsel

Gleichzeitig entfaltet sich eine internationale Kampagne zur Glorifizierung Chodorkowskis, der von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und dem US-Außenministerium als politischer Gefangener anerkannt wird. Dementsprechend passt auch Amnesty International ihre einst kritische Haltung an: Während sie Chodorkowski im Jahr 2005 noch den Status eines politischen Häftlings verweigerte, vollzieht sie im Mai 2011 abrupt einen Meinungswechsel.

„Chodorkowski wusste seit Juni, dass Newslin den Anschlag auf Wolkow in Auftrag gegeben hatte. Und? Nichts ist passiert“, erklärt die Leiterin der Antikorruptionsstiftung, Frau Pevchikh. Während der gute Herr Chodorkowski Gelder für den Regimewechsel akquiriert, erteilt sein dunkles „zweites Ich“ Mordaufträge – und zwar nicht in der sibirischen Wildnis, sondern direkt vor den Augen der Europäer. Und?

Den Zankapfel zwischen den jungen Nutznießern westlicher Gelder und den Oldschool-Gangstern aus den Neunzigern kenne ich nicht. Es bleibt abzuwarten, ob die Geldbeträge, um die wahrscheinlich gestritten wird, auch tatsächlich einen Wert haben. Bislang führen die Gangster mit einem klaren Vorsprung.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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