Ende eines Schattenkriegs in Nahost: Iran greift direkt Israel an
Mit seinem direkten Angriff auf Israel hat Teheran die bisherigen Spielregeln beim Ringen um die Vormachtstellung in der Region für ungültig erklärt. Am Anfang der aktuellen Krise stand eine Fehlkalkulation der Israelis. Iran zielte erfolgreich bei seinem Angriff auf die israelische Flugbasis Nevatim, von wo aus israelische Jets Luftangriffe auf die iranische Botschaft in Damaskus geflogen haben.
Der Schattenkrieg zwischen Iran und Israel ist mit dem jüngsten beispiellosen Raketenangriff Irans nun Geschichte. Mit seinem direkten Angriff auf Israel hat Teheran die bisherigen Spielregeln beim Ringen um die Vormachtstellung in der Region für ungültig erklärt. Israel hat allerdings selbst zuerst die ungeschriebenen Regeln infrage gestellt, da der israelische Luftschlag auf die iranische Botschaft in Damaskus Anfang April nicht am Rande der Grauzone stattfand, innerhalb derer beide Staaten in den vergangenen Jahren agierten. Am Anfang der aktuellen Konfrontation stand eine Fehlkalkulation der Israelis: Zwar ging Tel Aviv nicht davon aus, dass Iran die Attacke in Damaskus mit einem direkten Angriff auf Israel vergelten werde. Inzwischen befindet sich die Region am Rande eines totalen Krieges.
Der Angriff auf die Botschaft war insofern heikel, als Tel Aviv exterritoriales iranisches Gebiet in Syrien angriff. Bislang hatte die Islamische Republik sich auf ihr über die Region gespanntes Netzwerk loyaler Milizen bei der Konfrontation mit Israel verlassen. Israels Armee attackierte im Gegenzug überwiegend Stellvertreter Irans im Ausland, während der Mossad in die Terroranschläge innerhalb Irans involviert war, wie zum Beispiel das Attentat auf den iranischen Atomwissenschaftler Mohsen Fachrisadeh sowie die Sabotageaktionen gegen das Atomprogramm Irans. Israel hatte mit dem Angriff auf die iranische Botschaft in Syrien eine rote Linie überschritten und Teheran sah sich unter Zugzwang, das Gleichgewicht des Schreckens mit Israel durch einen direkten Angriff auf Israels Territorium wiederherzustellen.
Warnungen im Voraus
Der iranische Schlag schien jedoch darauf ausgelegt gewesen zu sein, die Eskalation zu begrenzen. Teheran hatte im Vorfeld seiner Operation über die Golfstaaten und die USA Israel darüber unterrichtet, wann der Angriff stattfindet. Tatsächlich hatte der Direktor des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA, William Burns, befreundete Dienste vorab mit recht präzisen Datumsangaben über Irans Gegenschlag vorgewarnt, die in Teilen auch an die Medien durchgestochen wurden. So war damit auch die israelische Abwehr gut vorbereitet. Vieles spricht dafür, dass es Iran vor allem darum ging, symbolträchtige Bilder zu erzeugen und sein Gleichgewicht mit Israel in der Region wieder herzustellen.
Rund 350 Geschosse, darunter 170 Kamikazedrohnen, mehr als 30 Marschflugkörper und mindestens 120 ballistische Raketen feuerte die Iranische Revolutionsgarde und deren Verbündete Huthi-Bewegung am 13. April in mehreren Wellen auf Israel ab. Etwa 99 Prozent der anfliegenden Geschosse waren nach israelischen Angaben abgefangen worden. Dabei waren neben israelischen Abwehrsysteme westliche Verbündeten bei der Abwehr von iranischen Flugkörpern im Einsatz. Das US-Militär hat nach eigenen Angaben mit Unterstützung von Zerstörern des US European Command mehr als 80 Drohnen und mindestens sechs ballistische Raketen mit Ziel Israel abgefangen und zerstört.
Wer bei der Abwehr des Angriffs geholfen hat
An der Abwehraktion waren nicht nur die USA, Großbritannien und Frankreich beteiligt, sondern auch Jordanien und Saudi-Arabien. Das koordinierte Vorgehen war der erste umfassende Einsatz eines Bündnisses, dessen Aufbau vor zwei Jahren bei einem Gipfeltreffen in der Negev-Wüste in Israel verkündet worden war. Israel hatte sich längst zum Ziel gesetzt, ein militärisches Netz, und zwar eine Mini-NATO zur Abschreckung Irans aufzubauen. Die Luftverteidigungsallianz soll aus Israel, arabischen Verbündeten und den USA bestehen, um „iranische Drohungen“ in der Region einzudämmen. Öffentlich hatten sich die arabischen Länder aber nie dazu bekannt – bis sie sich letzte Woche bei der Abwehr der iranischen Raketen und Drohnen an dem gemeinsamen Einsatz beteiligten. Das Wall Street Journal berichtete unter Berufung auf saudische Regierungsvertreter, dass das Königreich wie auch die Vereinigten Arabischen Emirate den USA vorab wichtige Geheimdienstinformationen gegeben haben. Diese hätten dann bei der Abwehr des Angriffs Irans geholfen. Riad und Teheran hatten unter Vermittlung Chinas vor einem Jahr nach langer Eiszeit wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. Durch Irans Angriff auf Israel ist nun der geheime Pakt zwischen dem Westen und den Golfstaaten gegen Iran öffentlich geworden und dies wird die Beziehungen Irans zu den Golfstaaten wieder belasten.
Iran feuerte bei seiner Operation zunächst einen Schwarm Drohnen und Marschflugkörper ab, um die Abwehrsysteme Israels und die groß angelegte Abwehroperation der westlichen Kampfjets – flankiert von nachrichtendienstlicher Hilfe durch die Golfstaaten – zu überlasten. Dadurch sollten am Ende ballistische Raketen das Hauptziel des Angriffs, nämlich einen Luftstützpunkt in der Negev-Wüste, treffen. Etwa sieben ballistische Raketen schlugen im Bereich der Flugbasis Nevatim ein. Von dieser Basis aus waren israelische Jets aufgestiegen, um den Luftangriff auf die iranische Botschaft auszuführen. Zwei US-Beamte bestätigten gegenüber CBS News, dass die Iraner die Flugbasis Nevatim ins Visier genommen hätten. Iran zieht jetzt viele Informationen aus seinem Angriff, die Israel schwächen könnten. Der Angriff hat nämlich Teheran wahrscheinlich geholfen, mögliche Stärken und Schwächen der israelischen Luftverteidigung zu offenbaren.
Biden und weitere US-Beamte versuchten die gelungene Abwehraktion gegen iranische Flugkörper als einen „strategischen Sieg“ an die Israelis zu verkaufen, um Tel Aviv dazu zu bewegen, von einem Gegenschlag gegen Iran abzusehen. Die USA haben kein Interesse daran, in einen neuen Krieg in Nahost verwickelt zu werden, da Israel bei einem möglichen Krieg zwischen Teheran und Tel Aviv völlig auf militärische Unterstützung der USA angewiesen ist. Ein Alleingang wäre für Israel militärisch auch schwer zu bewerkstelligen. Denn Israel ist unter anderem auf US-Kapazitäten zur Luftbetankung und Munitionslieferungen angewiesen.
Wie es weitergehen könnte
Nach dem Angriff auf Israel hat sich nun das Gleichgewicht des Schreckens zugunsten Irans verschoben. Wie wird aber jetzt Tel Aviv reagieren? Israel hätte die Möglichkeit, zunächst auf einen spektakulären Gegenschlag zu verzichten und zugleich mit der Fortsetzung seiner Luftangriffskampagne zu demonstrieren, dass es sich von Irans Großangriff nicht abschrecken lässt, indem es die Angriffe auf Einrichtungen der iranischen Revolutionsgarde im Ausland fortführt. Das wäre zwar keine direkte Antwort im Abschreckungswettbewerb mit Teheran. Aber ein solches Vorgehen würde den Ball wieder zurück ins Feld der Strategen in Teheran spielen. Ein massiver Schlag gegen die Hisbollah und weitere Verbündete Irans wäre eine weitere Möglichkeit der Vergeltung. Im israelischen Kriegskabinett gibt es Kräfte, die schon lange einen Präventivschlag fordern, um die Bedrohung vor allem an der Nordgrenze auszuschalten. Manche in Israel werben auch dafür, ein anderes Ziel zu attackieren, nämlich Irans fortschreitendes Atomprogramm. Aber Iran dürfte einen offenen Angriff auf eines seiner wichtigsten nationalen Projekte nicht unbeantwortet lassen. Wahrscheinlicher ist, dass Israel verstärkt und offener als bisher versuchen wird, das Atomprogramm Irans zu sabotieren. Wie Israel auf die Angriffe Irans reagieren wird, bleibt insofern noch offen.
Die USA sollen die Islamische Republik gebeten haben, Israel nach dem iranischen Drohnen- und Raketenbeschuss vom Wochenende „einen symbolischen Schlag zu gestatten“, damit der jüdische Staat „gesichtswahrend aus dem Konflikt herauskommen“ könne. Teheran soll den von den Vermittlern unterbreiteten Vorschlag abgelehnt und erneut davor gewarnt haben, dass jeder israelische Angriff auf iranischen Boden sofort entschlossen beantwortet werden würde. Die Region steht nun wieder vor der realen Gefahr eines verheerenden, großen Konflikts.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.