Geopolitische Verflechtungen: Die Rolle der Türkei in Syrien und Libanon
Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Syrien beleuchtet die FPÖ-EU-Abgeordnete Petra Steger die Rolle der Türkei in Syrien und im Libanon. Dabei geht sie auch auf die mögliche Gefahr einer neuen Flüchtlingswelle für Europa ein.
„Es ist, als wäre es wieder 2014“, so beschreibt ein mit der Region bestens vertrauter Journalist aus der Bundesrepublik die sich überschlagenden Ereignisse in Syrien, die ihn an das Eingreifen des Islamischen Staats (IS) in den syrischen Bürgerkrieg erinnern. In den letzten Tagen und Stunden erobert, scheinbar aus dem Nichts, eine islamistische Terrortruppe weite Teile des Landes, darunter auch den Großteil von Aleppo, der größten Stadt Syriens. Nahezu machtlos müssen die Verbündeten der Zentralregierung unter Präsident Bashar al-Assad der Offensive zusehen, die Kämpfer der „HTS“ (Hayʼat Tahrir al-Sham) überrennen Stützpunkte, Waffendepots und Flughäfen. Woher aber kommt die plötzliche Stärke der bärtigen Gotteskrieger und handelt es sich dabei nur um einen „IS 2.0“?
Geopolitische Verflechtungen
Wer nach Antworten auf diese Fragen sucht, muss sich zuvorderst mit der geopolitischen Lage im Mittleren Osten und in Osteuropa beschäftigen, denn die plötzliche Erfolgsgeschichte der HTS ist in erster Linie durch zwei weitere Kriege erklärbar: im Libanon und der Ukraine. Seit Beginn der russischen Invasion rückte das Engagement in Syrien deutlich in den Hintergrund. Die von syrischen Rebellen gefürchtete russische Luftwaffe musste ihre Einsätze reduzieren, Piloten und Material wurden verstärkt an der ukrainischen Front benötigt. Stattdessen verlagerte sich die Hauptlast der Kämpfe auf die Schultern lokaler regierungstreuer Milizen, der syrischen Armee und vor allem der schiitischen Hisbollah aus dem Libanon. Von iranischen Militärberatern und russischen Stabsoffizieren koordiniert, kämpften die Männer mit den gelben Fahnen erfolgreich.
Die iranische Strategie zur Verteidigung des „schiitischen Halbmonds“ (Südlibanon, Syrien, Irak, Iran) trug Früchte. Wenige Monate vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Angriffs auf Israel, erklärten viele den Bürgerkrieg in Syrien für faktisch beendet. Lediglich in der Region Idlib konnten islamistische Rebellen, darunter die HTS, größere zusammenhängende Gebiete behaupten. Doch der Erfolg der Zentralregierung war, wie sich herausstellte, auf Sand gebaut. Nach Beginn der Kampfhandlungen im Südlibanon brach die Stärke der Hisbollahmilizen in Syrien zusammen, große Teile der Front konnten nicht mehr effizient gehalten werden. Anfang November 2024 war längst ein Machtvakuum entstanden, das schließlich einen weiteren Akteur auf den Plan rief, der sich bisher lediglich auf Aktionen im kurdisch besiedelten Norden konzentriert hatte.
Türkische Ambitionen
Die Türkei, anders als der Iran, Russland oder Israel bisher nicht in einen verlustreichen Krieg involviert, verfolgt in Syrien seit geraumer Zeit das Ziel, eine größere Pufferzone zur Abwehr gegen kurdische Angriffe zu etablieren. Sie unterhält in Gebieten mit großen kurdischen Bevölkerungsanteilen Stützpunkte und Checkpoints. Doch neben dem Sicherheitsaspekt geht es Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch um ganz profane Ziele. Mehr als 3,6 Millionen Syrer sind in das Nachbarland geflohen und belasten dort die Sozialsysteme. Diese sollen – so der Wille des Präsidenten – möglichst zeitnah in ein befriedetes Syrien abgeschoben werden. Mit der HTS hat die Türkei in der Vergangenheit bereits mehr oder weniger verdeckt zusammengearbeitet und verfolgt gegenüber der heterogenen Gruppe eine Strategie des „Teile und Herrsche“. Verlässliche und vor allem ideologisch gemäßigte Fraktionen sollen bevorzugt werden, erhalten laut Aussagen von Deserteuren Zugang zu Informationen und Karten. Türkische Truppen patrouillieren sogar in Gebieten, die eigentlich von der HTS gehalten werden.
Nun, der Schluss liegt zumindest nahe, hat die Führung der HTS sich in Ankara für die eigene Offensive rückversichert. Ob neben wenigstens stillschweigender, freundlicher Neutralität auch noch geheimdienstliche Unterstützung gewährt wurde, ist unklar. Vieles – etwa der gezielte Einsatz elektronischer Kampfmittel zur völligen Unterbrechung regierungsnaher Kommunikationskanäle – liegt noch im Dunkeln. Tatsächlich verfügt die Türkei neben eigenen Truppen noch über eine weitere lokale Miliz, die sogenannte „Syrische Nationale Armee“ (SNA), die sogar gemeinsam mit türkischen Truppen gegen kurdische Kämpfer entlang der Grenze zwischen den beiden Ländern vorgeht. Während die HTS sich in ihrem Kampf vor allem auf Aleppo konzentriert, geht die SNA gezielt gegen kurdische Gebiete vor, erobert Siedlung um Siedlung und zwingt dadurch die mehrheitlich kurdische „Syrian Democratic Forces“ (SDF) in ein unfreiwilliges Bündnis mit der Zentralregierung.
Unterstützung oder Kontrolle? Ankaras Verhältnis zur HTS
Unklar bleibt bisher das konkrete Ziel der Türkei in dieser neuen Eskalation. Sollte sich die HTS als weniger „moderat“ erweisen, als vom türkischen Generalstab erhofft, könnte eine neue Flüchtlingswelle drohen. Anhaltspunkte dafür gibt es einige, in Sozialen Medien kursieren Enthauptungsvideos, christliche und drusische Minderheiten fürchten um ihre Sicherheit. Es spricht einiges dafür, dass die Türkei hier einen salafistischen Geist aus der Flasche gelassen hat, den sie auch selbst nicht mehr unter Kontrolle bekommt. Die Führung der HTS hatte zwar in den letzten Monaten einiges dafür getan, das Image als „IS 2.0“ abzuschütteln, Kirchen durften in Idlib wieder öffnen. Der militärische Führer des islamistischen Bündnisses, Abu Muhammad al-Dschaulani, ließ sich bei der Eröffnung von Brunnen in drusischem Gebiet fotografieren und versprach, sich für die Rechte religiöser Minderheiten einzusetzen. Doch die Gruppe bleibt heterogen, ihre einzige ideologische Klammer ist der Islamismus. Für die Türkei erschwerend hinzukommen die Hintermänner und Finanziers der HTS: reiche Salafisten und Islamisten von der arabischen Halbinsel, aus Saudi-Arabien und den Emiraten – beides traditionell Gegner der türkischen Hegemonie.
Für die EU und die USA bleibt bei dem sich abzeichnenden Drama bisher lediglich die Rolle als Zaungast. Die einseitige Konzentration auf kurdische Einheiten als mögliche Bündnispartner in der Region hat sich nicht bezahlt gemacht, offene Kanäle zur syrischen Regierung von Assad bestehen nicht. Erschwerend kommt hinzu, dass man unverändert auf die Türkei als Grenzwächter Europas angewiesen ist. Der mangelnde eigene Grenzschutz an den europäischen Außengrenzen liefert die EU und ihre Mitgliedsstaaten einer neuen Flüchtlingswelle nahezu schutzlos aus. Dass die Türken erneut Millionen Syrern Unterkunft gewähren werden, kann ausgeschlossen werden. Eher leitet Erdoğan die Flüchtlinge der neuen Eskalation direkt nach Griechenland und Bulgarien weiter, von wo sie sich sofort auf den Weg nach Wien, Berlin oder Brüssel machen dürften. Dass seine Regierung diese Flüchtlingswelle vielleicht durch das Engagement in Syrien mitverursacht hat, dürfte Erdoğan dabei egal sein.