Journalistin Boßdorf über Niederlande-Wahl: „Wilders nicht mit Meloni gleichsetzen“

Die Partei von Geert Wilders ist der klare Sieger der gestrigen Parlamentswahlen in den Niederlanden. Welche Folgen dies für die Niederlande und Europa haben wird und ob eine „Melonisierung“ droht, klärt die Benelux-Expertin Irmhild Boßdorf im FREILICH-Kurzinterview.

Interview von
23.11.2023
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4 Minuten Lesezeit
Journalistin Boßdorf über Niederlande-Wahl: „Wilders nicht mit Meloni gleichsetzen“

Geert Wilders

© IMAGO / dts Nachrichtenagentur / AfD

FREILICH: Die Partei von Geert Wilders, die Partij voor de Vrijheid (PVV, Partei für die Freiheit), feiert mit diesem Ergebnis ihren größten Erfolg. Sie konnte sich von 10,8 Prozent (2021) auf 23,4 Prozent verbessern.  Welche Faktoren führten zu diesem sensationellen Wahlsieg?

Irmhild Boßdorf: Wilders hat einen sehr geschickten Wahlkampf geführt. Es gibt ein sehr deutliches niederländisch-nationales Parteiprogramm und Wilders hat sich erst in den letzten Wochen vor der Wahl zu Wort gemeldet.

Neue Parteien wie die BoerBurgerBeweging (BBB, Bauer-Bürger-Bewegung) von Caroline van der Plas, die noch im März einen Riesenerfolg bei der Wahl zur Ersten Kammer hatte, oder der ganz junge Nieuw Sociaal Contract (NSC, Neuer Sozialvertrag) von Pieter Omtzigt haben erheblich schlechter abgeschnitten als erwartet – viele Niederländer haben keine Lust mehr auf Experimente und haben die Partei gewählt, die seit Jahren die Interessen des „kleinen Mannes“ vertritt und die sie für authentisch halten.

Welche Regierung ist zu erwarten? Wird es eine rechte Regierung geben?

Noch am Vorabend der Wahl haben die Liberalen der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD, Volkspartei für Freiheit und Demokratie) und Pieter Omtzigt eine Zusammenarbeit mit der PVV ausgeschlossen. Schon am Wahlabend ist die Stimmung gegen Wilders gekippt. Omtzigt, der sich vor allem an den einwanderungskritischen Tönen von Wilders stört, erklärte, das Ergebnis erfordere, dass Politiker „über ihren Schatten springen“.  Und Dilan Yesilgöz, neue Parteivorsitzende der VVD, hat ebenfalls schon am Wahlabend ihre Bereitschaft zu Verhandlungen geäußert. Die neue Regierung, die übrigens noch vor Weihnachten stehen soll, wird also deutlich rechter als die vorherige, von einer „rechten“ Regierung würde ich aber nicht sprechen.

Die Befürchtung, es könne eine „polnische Lösung“ geben, indem die PVV erneut von der Regierungsbildung ausgeschlossen wird, teile ich nicht. Dafür ist die Stimmung in den Niederlanden in den vergangenen Jahren viel zu aufgeheizt.

Sollte Wilders regieren, ist mit einer sogenannten „Melonisierung“ zu rechnen? Darunter verstehen Kritiker der italienischen Ministerpräsidentin Meloni eine Abkehr von früheren Wahlversprechen und eine Anpassung an die politische Mitte.

Eine Regierungsbildung mit nur rechten Parteien, von denen es in den Niederlanden ja gleich mehrere gibt, ist aufgrund des Wahlergebnisses nicht möglich. Daher ist Wilders auf VVD und NSC angewiesen und ja, damit geht auch eine Anpassung an die politische Mitte einher.

Ich warne aber davor, Wilders mit Meloni gleichzusetzen. Er steht seit 2004 unter permanentem Polizeischutz und muss alle paar Tage seine Wohnung wechseln, eben weil er so klare Positionen gegenüber dem Islam vertritt. Er ist schon mehrfach wegen vermeintlicher Volksverhetzung angeklagt worden und steht ständig im Feuer. Dennoch hat er niemals seine Haltung gegenüber dem Islam revidiert – dazu gehört schon sehr viel Beharrungsvermögen und Standfestigkeit!

Die Linke und die Mitte haben stark verloren. Zum ersten Mal seit 1945 stellen die „klassischen“ Parteien nicht mehr die stärkste Fraktion. Bedeutet das einen Rechtsruck?

Ja, dieser Rechtsruck ist in den Niederlanden schon seit längerer Zeit zu beobachten. Um so erfreulicher ist es, dass sich dieser Rechtsruck mittlerweile auch in den Wahlergebnissen niederschlägt. Niederländer sind im Übrigen viel freigeistiger als Deutsche, sie begreifen sich nicht als Untertanen, sondern wollen ein einvernehmliches Miteinander von Volk und Regierung. In den vergangenen Jahren ist dieses Miteinander erheblich getrübt worden – die Coronapolitik, die Kinderzuschlagsaffäre, die Stickstoffkrise und jetzt vor allem die Masseneinwanderung haben das Vertrauen der Bürger in ihre Regierung massiv erschüttert. Das ist auch der Grund, warum neue Parteien so schnell und zumindest am Anfang auch immer mit so viel Erfolg aus dem Boden schießen – ob das nun das Forum voor Democratie (FvD, Forum für Demokratie), die JA21 (Richtige Antwort 21), die Bauer-Bürger-Bewegung oder der Neue Sozialvertrag ist. Bis auf die letzte Gruppe sind diese auch dezidiert konservativ.

Die NSC hat aus dem Stand 12,8 Prozent erreicht. Welche Rolle wird sie spielen? Wie ist sie einzuschätzen?

Pieter Omtzigt, ein ehemaliger Christdemokrat und Gründer der NSC, hat die „Kinderzuschlagsaffäre“ aufgedeckt, bei der der Staat zu Unrecht zigtausend Familien in eine finanzielle Notlage gestürzt hat. Im Rahmen dieser Affäre sind auch etwa 2.000 Kinder aus diesen Familien genommen worden und bis heute nicht wieder zu ihren Eltern zurückgekommen. Der damalige Premier Mark Rutte hat nach anfänglichen Vertuschungsversuchen die Verantwortung für diese Affäre übernommen, indem er einen Tag vor den Parlamentswahlen von seinem Amt zurücktrat, um dann gleich wiedergewählt zu werden.

Omtzigt sollte dann „entsorgt“ werden, auch das war ein Riesenmedienskandal. Aus Unmut darüber hat Omtzigt den NSC gegründet, Ziel der Partei ist es, zu einem einträglichen Miteinander und einem friedlichen Zusammenleben aller Bewohner der Niederlande zu finden. Ich denke nicht, dass dieser Partei eine große Zukunft beschert sein wird. Dafür sind die Probleme in den Niederlanden einfach zu groß – Masseneinwanderung, Wohnungsnot, Verarmung der Bevölkerung. Auf diese Fragen hat NSC keine Antwort und will diese auch nicht geben.

Die globalisierungskritische Partei FVD von Thierry Baudet ist von fünf Prozent auf 2,2 Prozent abgestürzt – was sind die Gründe dafür?

Das Forum für Demokratie ist ja aus einer Bürgerinitiative gegen den Assoziierungsvertrag der EU mit der Ukraine entstanden. Aus Empörung darüber, dass trotz gewonnenen Referendums der Vertrag dann doch verabschiedet wurde, hat Baudet – dessen Buch Der Angriff auf den Nationalstaat ich nur jedem empfehlen kann – die Partei gegründet. FvD ist eine intellektuelle Partei, die vor allem junge Leute anspricht. Anfangs war FvD sehr erfolgreich, Baudet wurde medial hofiert und ganz Holland berichtete über Baudet und seine Partei. Durch eigenes Zutun hat Baudet einen Teil der Mitglieder vergrätzt, die dann die JA21 gegründet haben.

Ist dieses Wahlergebnis auch ein europaweites Signal? Sind aus Den Haag nun rechte Impulse auch für die deutsche Politik zu erwarten? Die PVV ist zum Beispiel Mitglied der europäischen Partei „Identität und Demokratie“, in der auch die AfD Mitglied ist.

Ja, das ist es. Im kommenden Jahr werden auch in Belgien Parlamentswahlen stattfinden. Der Vlaams Belang (VB, Flämische Interessen) ist seit Monaten in den Umfragen stärkste Partei und wird dies wohl auch bis zum Wahltag bleiben. Bislang schließt in Flandern die Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA, Neu-Flämische Allianz), eine konservativ-bürgerliche Partei, jede Zusammenarbeit mit dem VB aus. Der rasche Umschwung in den Niederlanden noch am Wahlabend wird auch für viele flämische Wähler ein Zeichen sein, dass eine rechte oder zumindest konservative Mehrheit möglich ist.

Was die Zusammenarbeit mit der AfD angeht: Die PVV kann ein zuverlässiger Bündnispartner für die AfD sein. Bislang sind die Kontakte dorthin jedoch noch nicht so ausgeprägt. Ich werde mich dafür einsetzen, dass sich das spätestens nach der Europawahl rasch ändert. Die letzte AfD-Delegation in Europa war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, statt sich um das wichtige Thema der europäischen Vernetzung zu kümmern.

Frau Boßdorf, vielen Dank für die Antworten!


Zur Person:

Irmhild Boßdorf ist Historikerin und Politikwissenschaftlerin, Autorin bei der Jungen Freiheit und arbeitete zuvor am Haus der Geschichte in Bonn. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Familienpolitik und die Benelux-Staaten. Sie kandidiert für die AfD bei der Europawahl 2024.

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