Nach Erdogans Sieg: Diaspora-Türken wählen den Despoten
Der türkische Präsident Erdogan hat am gestrigen Sonntag die Stichwahl gewonnen. In Europa, vor allem in Deutschland und Österreich, haben viele türkische Wähler für Erdogan gestimmt. FREILICH-Autor Julian Marius Plutz sieht darin einen Beweis für die seit Jahrzehnten gescheiterte Integration.
Orchestriertes Hupen auf deutschen Straßen scheint eine tief verwurzelte türkische Tradition zu sein. Man kennt das: In einem Autokorso der Unerträglichkeit ziehen Horden von „südländisch aussehenden Menschen“ in geliehenen BMWs durch die Stadt und freuen sich, dass Yesim den Ömer (pardon, Ömer) geheiratet hat. Traumhaft schön. Dabei blockieren die Feiernden stocknüchtern die Straßen und erzeugen mit ihrem Hupkonzert Ausländerhass.
So war es am 28.05. Zumindest dachte ich das. Doch als ich auf die Straße blickte, sah ich keine lange Blechlawine, sondern einzelne Autos mit türkischen Fahnen. Ein kurzer Blick auf mein Handy genügte: Sie feierten nicht den direkten Aufstieg von Heidenheim in die erste Bundesliga, sondern den Wahlsieg von Recep Tayyip Erdogan.
In der Diaspora wird man konservativer
Komisch, nicht wahr? Da sitzen Millionen Türken in Deutschland und genießen hier alle Vorteile wie Demokratie (naja), Rechtsstaatlichkeit, Leasingverträge für ihre BMWs, Sozialversicherungen und vieles mehr. Aber für ihre Heimat wünschen sie sich den Despoten an den Hals. So kann man natürlich auch mit der buckligen Verwandtschaft umgehen. Aber das wäre zu einfach gedacht.
Erstens ist es üblich, dass Menschen in der Diaspora konservativer werden und konservativer wählen als in ihrer Heimat. Man kennt das zum Beispiel von Juden in Deutschland, die vor allem nach den Aussiedlerprogrammen vor allem aus der Sowjetunion oft in die Orthodoxie geflüchtet sind, um den bevorstehenden Kulturschock zu bewältigen. Aber es ist selten geworden, dass russische Juden ihre Heimat, sei es Russland, Israel oder später Deutschland, mit ihrer Stimme abschaffen wollten.
Cem Özdemir ist empört
Doch genau das tun die Diaspora-Türken in Deutschland. In sechs Wochen Heimaturlaub kennen sie ihr Land nur aus der Ferne und vom entspannten Strandurlaub in Side. Im ersten Wahlgang stimmten noch mehr für den Mann, den sie „Reis“ nennen, als bei der Wahl 2018. Man kann sich fragen, was mit den Wählern nicht stimmt. Aber noch besser ist es, sich zu fragen, was mit den Politikern hierzulande nicht stimmt, die nun betroffen und besoffen die Wahl verurteilen.
So weiß der SPIEGEL zu berichten, dass sich Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir “erschüttert über die türkischen Wahlberechtigten in Deutschland“ zeigte, die mit deutlicher Mehrheit für Erdogan gestimmt hätten - „ohne für die Folgen einstehen zu müssen“. Na ja, ohne den Cem vorher gefragt zu haben. Doch der Grünen-Politiker gibt sich zumindest auf Twitter kämpferisch. „Mich interessiert, was in Deutschland los ist, wo die Anhänger von Erdogan feiern.“ Viele Menschen in der Türkei müssten das mit Armut und Unfreiheit ausbaden. “Darüber müssen wir reden!”
Kindeskinder von Atatürk wählen Erdogan
Reden ist so wichtig. Am besten im Dialog, im Stuhlkreis und mit vielen Pädagogen, wie Cem Özdemir einer ist. Vielleicht könnte man auch einfach die Fakten benennen. Wenn man Türken willfährig als Dauergastarbeiter ins Land holt, bis sie hier verständlicherweise sesshaft werden, andererseits keinerlei Integrations- oder Assimilationsforderungen stellt, so dass sie sich in der vierten Generation immer noch und teilweise ausschließlich als Türken verstehen, dann braucht man sich über nichts mehr zu wundern.
Cem Özdemir und weite Teile des linksgrünen Lagers tun gerade so, als ob die Schwierigkeiten 2023 oder 2019 begonnen hätten. Das ist falsch. 1961 hat die Bundesrepublik Deutschland das Anwerbeabkommen mit der Türkei unterzeichnet. Es fehlte an Männern, die es in Anatolien genug gab. Aus Monaten wurden Jahre und Jahrzehnte. Und heute wählen die Enkel Atatürks Erdogan. Das kann man sich nicht vorstellen.
Grüne sind für viele Türken keine Alternative
An dieser Stelle muss man sich als echter Deutscher von Rassismus distanzieren, und das tue ich hiermit. Ich lebe in Nürnberg, wo der NSU dreimal zugeschlagen und zwei Menschen ermordet hat. Über drei Jahre lang bin ich fast täglich an dem Ort vorbeigegangen, an dem Ismail Yasar ermordet wurde. Diese Taten haben in der Frankenmetropole eine Schockstarre ausgelöst, die auch mit einer gewissen Verantwortung verbunden ist. Oder um es mit Hannah Arendt zu sagen: "Es ist etwas passiert, was niemals hätte passieren dürfen.”
Wie kann man nach solchen Taten noch rassistisch sein? So mancher assimilierte Türke, der heute so selbstverständlich Deutscher ist, sieht das ähnlich. Und manch einer wählt heimlich AfD. Das sind übrigens Überzeugungstäter, keine Protestwähler.
Die Grünen würden diese Jungs nie wählen, die sehen sie als Kuschel- und Schutztier. Viel zu akademisch, viel zu weit weg von den wirklichen Problemen jenseits von Klimahölle und Genderwahn kommen sie daher und verschrecken Arbeiter, die sie nie vertreten haben.
Deutschland hat seine Rückfahrt längst verpasst
Beim nächsten BWM-Hupkonzert, wenn die Yasar die Defne heiratet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass beide auch den „Reis“ gewählt haben. Dieses Land hat es verdient. Das Land, das weltweit am meisten für Integration ausgibt und gleichzeitig die schlechtesten Ergebnisse erzielt, hat sich in eine historische Sackgasse manövriert, aus der es mit zunehmender Dauer immer schwerer wird herauszukommen.
Es gibt einen jüdischen Witz, der eigentlich gar nicht so lustig ist, aber auf Deutschland passt. Ein alter Rabbi sitzt im Zug und jammert. “Oh mei, oh mei!”, stammelt er, während er aus dem Fenster schaut und der Zug aus dem nächsten Bahnhof fährt. “Oh mei, oh mei!” Gegenüber sitzt ein junger Mann und wundert sich. Irgendwann fragt er den Rabbiner, was los sei. Der antwortet mit zittriger Stimme: „Ich habe meinen Zielbahnhof verpasst, und nach jedem Halt wird die Entfernung größer!“
Längst hat Deutschland den Anschluss verpasst. Denn heute wählen die Diasporatürken den Despoten.
Zur Person:
Julian Marius Plutz, 1987 geboren, ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die Achse des Guten, TheGermanZ und die Jüdische Rundschau.