Transatlantische Bruchlinie: Wie erzwingt die Türkei Zugeständnisse der NATO?
Die Aufnahme Schwedens in die NATO nach dem grünen Licht der Türkei ist das Ergebnis zahlreicher sicherheitspolitischer Zugeständnisse der NATO an Ankara. Ungarn folgt diesem Muster. Es ist nicht auszuschließen, dass weitere NATO-Staaten diesen Weg gehen und nationale Interessen in den Vordergrund stellen. Erste Risse im NATO-Bündnis sind bereits sichtbar. Der Politikwissenschaftler Seyed Alireza Mousavi analysiert das Verhalten der Türkei und der NATO.
Fast zwei Jahre hat die Türkei ihre Bündnispartner auf die Aufnahme Schwedens in die NATO warten lassen. Als Stockholm im Mai 2022 den Beitrittsantrag stellte, war der Ukrainekrieg erst wenige Monate alt. Eine kurzfristige Aufnahme sollte damals ein starkes Zeichen der Einheit innerhalb der NATO gegen Russland sein. Doch statt einer schnellen Einigung wurde der Prozess durch die Türkei und Ungarn blockiert und damit haben sich erste Risse in der Position der NATO gegenüber Moskau offenbart. Die türkische Regierung hat lang genug mit der Blockade gespielt, um dem Westen Zugeständnisse in mehreren Sicherheitsfragen abzuringen.
Die USA haben durch den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden darauf abgezielt, eine Einheitsfront gegen den Kreml aufzubauen und dementsprechend jegliche mögliche Einigung zwischen Europa und Russland zu torpedieren. Erdoğan schien diese Situation gelegen zu kommen, um den USA Zugeständnisse abzupressen, da diese NATO-Mitgliedsgutserweiterung einstimmig beschlossen werden muss.
Die Türkei forderte von Schweden unter anderem die Ausweisung von PKK-Anhängern und strengere Anti-Terror-Gesetze. Trotz ständigem Protest von PKK-Sympathisanten in Stockholm verschärfte das schwedische Parlament im vergangenen Mai die Gesetze und änderte sogar die Verfassung – zum Beispiel darf die Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden, wenn die Anmelder dem kurdischen Terrorismus nahestehen.
Taktisches Vorgehen in Ankara
Zudem hat die Türkei auch in letzter Zeit ihre Operationen im Norden Syriens und im Irak ausgeweitet. Offiziell handelt es sich dabei um Vergeltungsschläge für den Tod türkischer Soldaten durch kurdische Milizen. Erklärte Ziele sind Stellungen der PKK und ihrer Ableger. Türkische Schläge treffen aber auch Stellungen der „Syrisch Demokratischen Kräfte“ (SDF). Die kurdische Gruppe wird seit Jahren von den USA unterstützt. Sie ist einer ihrer engsten Verbündeten im Kampf gegen den syrischen Staat. Die Türkei hat diese Zusammenarbeit regelmäßig kritisiert, hielt sich aber in den von den USA und ihren lokalen Verbündeten kontrollierten Teilen Nordsyriens bisher eher zurück.
Für eine direkte oder indirekte Verbindung zwischen dem Beitrittsgesuch Schwedens und den letzten türkischen Operationen in Syrien gibt es noch keine offiziellen Aussagen. Es scheint aber so, als würde das türkische Militär aktuell gegen die Kurden weiter in syrische Grenzgebiete vordringen als bisher. Ohne Absprache mit den USA ist der neue Schritt nicht vorstellbar. Mit anderen Worten lassen die NATO-Staaten ihre kurdischen Verbündeten wie die SDF erstmals fallen, um die NATO-Erweiterung zu erzielen.
Die kurdische Diaspora in Schweden und Finnland hatte längst befürchtet, am Ende zu einem Spielball in den Verhandlungen einer NATO-Mitgliedschaft Schwedens zu werden. Nach Zugeständnissen an Ankara musste die kurdische Diaspora in Europa letztendlich für die US-Interessen in der Ukrainekrise bezahlen. Damit ist bereits ein tiefes Misstrauen zwischen den Kurden und den westlichen Staaten in Europa entstanden. Dabei wurde erneut klar, dass die Kurden nur eine Karte für die USA gegen ihre Rivalen in Nahost sind.
Die Kurden sind die Verlierer
Wie viele Beobachter seit Beginn des Streits zwischen der Türkei und Schweden mutmaßten, ging es aber der Türkei nicht vorrangig um die PKK-Terroristen, sondern um geopolitische Fragen und den Rüstungswettlauf mit ihrem Erzfeind Griechenland im Mittelmeer. Ankara wollte von Anfang an seine Zustimmung zur NATO-Aufnahme Schwedens von einem Rüstungsdeal mit Washington abhängig machen. Die Regierung fordert 40 Kampfflugzeuge vom Typ F-16 und 80 Modernisierungspakete für die eigenen Luftstreitkräfte. Bisher ist allerdings das Abkommen am US-Kongress gescheitert. Aus türkischer Sicht ist die Sache dringlich, da das Land fürchtet, im Rüstungswettbewerb mit Griechenland zurückzufallen, vor allem seit der Türkei wegen der Beschaffung des russischen Luftabwehrsystems S-400 aus dem Programm für amerikanische F-35-Kampfflugzeuge ausgeschlossen wurde.
Erdoğan hatte insofern die Abstimmung verzögert, um in der F-16-Frage Druck auf Washington aufzubauen. Bei dem Rüstungsdeal mit den USA geht es um die geopolitische Ausrichtung der Türkei als Verbündeter der USA sowie um ein Gleichgewicht zu Griechenland. Die Beziehungen zwischen den Ländern kamen einem möglichen heißen Krieg im Jahr 2020 sehr nahe, als türkische und griechische Kriegsschiffe wegen einer Meinungsverschiedenheit über Erdgasbohrungen im Zusammenhang mit ausschließlichen Wirtschaftszonen im Mittelmeer kollidierten. Bei dem Streit ging es insbesondere immer wieder um die Frage der Abgrenzung von Hoheitsgebieten in der Ägäis. Die Beziehungen zwischen Athen und Ankara haben sich allerdings in letzter Zeit wieder ein Stück normalisiert. Bei einem Besuch in Athen kündigte der türkische Präsident Erdoğan im Dezember ein neues Kapitel in den Beziehungen zum Erzrivalen Griechenland an. Allerdings sehen sich beide Länder als strategische Rivalen. Sobald der Westen seine Beziehungen zu Athen zuungunsten der Türkei vertieft hat, wendete sich Ankara immer gen Osten, um die Kräfteverhältnisse auszubalancieren.
Türkischer Druck auf Athen und Washington
In der NATO hat Erdoğan mit seiner Hinhaltetaktik viel Vertrauen im Westen verspielt. Eineinhalb Jahre lang ließ der türkische Präsident Schweden zappeln und stellte immer neue Forderungen für dessen NATO-Beitritt auf, während die Türkei ihre Beziehungen zu Moskau weiter vertieft hat. Für die NATO ist aber Ankara unverzichtbar: vor allem, wenn es kurzfristig darum geht, Flüchtlingsströme aus dem Orient einzudämmen oder langfristig darum, die Neue Seidenstraße Chinas durch eine Allianz der sogenannten „Turkstaaten“ unter Führung der Türkei in Asien zu hintertreiben. In einer Welt, in der die USA an Einfluss verlieren und sich neue Machtpole herausbilden, gewinnt die Türkei an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund wird die Türkei außenpolitisch ihre Schaukelpolitik zwischen Russland und dem Westen fortsetzen und türkische Interessen in den Vordergrund stellen.
Die Türkei ist nicht die Einzige, die diesem Muster in der NATO folgt. Im atlantischen Verteidigungsbündnis ist es neben Ankara auch Budapest, das den NATO-Beitritt Schwedens verschleppt hat. Der ungarische Präsident Viktor Orbán hat Schwedens Beitritt zur Allianz verzögert, wobei er mit Erdoğan immer enge Verbundenheit bei Sicherheitsfragen demonstriert hat: Erdoğan wurde Ende Dezember in Budapest mit militärischen Ehren empfangen. In seinem Gespräch mit Orbán ging es vor allem um die Wirtschaftsbeziehungen. Das Handelsvolumen soll auf sechs Milliarden Dollar nahezu verdoppelt werden. Orbán verwies auf die Migration, die ohne die Türkei nicht eingedämmt werden könne. Und nur die Türkei habe im Ukrainekrieg Fortschritte in Richtung Frieden erzielt, nämlich in der Getreidefrage. Auf dem jüngsten Brüsseler EU-Gipfel hatte Orbán seinerseits als Einziger nicht für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine stimmen wollen und den Raum verlassen, als darüber abgestimmt wurde. Gegen die Freigabe finanzieller Mittel für die Ukraine legte er sein Veto ein.
Obwohl Orbán ausdrücklich bestritten hatte, dass es eine Absprache mit Erdoğan über die NATO-Aufnahme Schwedens gebe, besteht kein Zweifel daran, dass die beiden Staaten sich bei Sicherheitsfragen absprechen. Hochrangige Vertreter der türkischen und ungarischen Außenministerien sollen sich sogar nach der Abstimmung zur NATO-Aufnahme Schwedens im türkischen Parlament getroffen haben. Ungarn ist nun gefragt, dem NATO-Beitritt Schwedens zuzustimmen. Orbán wird im Windschatten des engen Partners der Türkei sein Blatt maximal ausreizen, um weitreichende Zugeständnisse abzuringen. Es ist nicht auszuschließen, dass weitere Staaten im Westen diesem Muster folgen und sich angesichts der zunehmend von der NATO provozierten Konflikte auf der Welt quer stellen und damit die Schlagkraft der NATO trotz deren Erweiterungen im Kriegsfall schwächen. Die Slowakei hat sich bereits seit dem Amtsantritt seines neuen Premierministers im letzten Oktober in Sachen Ukraine widersprüchlich verhalten und reiht sich schon in die Liste der missliebigen Partner ein.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.