„Woke-Kapitalismus“: Jetzt auch mit Haltung!
Diversität, Klima und Antirassismus bestimmen immer mehr wirtschaftliche Entscheidungen. Kevin Dorow zeigt in seiner Analyse, wie sich „Wokeness“ und Kapitalismus heute verbinden.
Bald ist er wieder da, der wichtigste Monat des Jahres: der Juni. Der Monat des Sommerbeginns, der Schafskälte, der Schmetterlinge und – kulturell inzwischen wohl das Wichtigste – des Stolzes. Genauer gesagt ist es der „Pride Month“. Eine Veranstaltung, die bis vor wenigen Jahren nur ein Nischendasein in der LGBTQ-Szene fristete, mittlerweile aber weltweite Bekanntheit erlangt hat. Ein wesentlicher Faktor dafür: International agierende Unternehmen, die – natürlich nur in der westlichen Welt – diesen Monat zum Anlass nehmen, ihre Schaufenster, Social Media und Werbekampagnen in Regenbogenfarben und mit dem mittlerweile überstrapazierten Slogan „Love is Love“ zu schmücken. Die Chefetagen und Marketingabteilungen von Adidas, Nike, Coca-Cola, BlackRock oder längst auch deutschen Unternehmen wie Zalando wollen zeigen: Sie sind auf der Höhe der Zeit, kämpfen für die Rechte vermeintlich unterdrückter Minderheiten und halten ihre Unternehmensethik stets hoch. Kurz: Sie sind in jeder Hinsicht das, was man inzwischen gemeinhin als „woke“ – „aufgewacht“ – bezeichnen kann.
Ein Verhalten, das sich aber bei weitem nicht auf dieses eine Thema reduzieren lässt. Im Gegenteil: Klimaschutz, Frauenrechte, Multikulturalismus, Rassismus – es gibt kaum ein Thema, das in den Marketingabteilungen der Unternehmen noch nicht behandelt wurde. Jeder, der regelmäßig mit Werbung konfrontiert wird, sollte das mittlerweile mitbekommen haben. Aber ist das ein Wunder? Der Kapitalismus war schon immer wandlungsfähig. Der neue Geist des Kapitalismus ist „woke“ und hat weite Teile der vormals antikapitalistischen Linken zu Kooperationspartnern gemacht.
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Ging es vor einigen Jahren noch darum, sich mit möglichst einprägsamen und unterhaltsamen Werbebotschaften im Gedächtnis der Konsumenten zu verankern, so ist mittlerweile die Wertepolitik in den Vordergrund gerückt. Eine Entwicklung, die allerdings absehbar war – und die in jeder Hinsicht toxisch für das gesellschaftliche Klima der gesamten westlichen Welt ist.
Ein Rückblick
Doch blicken wir zunächst einige Jahre zurück. Dazu müssen wir, wie bei einer Vielzahl solcher moderner „Social justice“-Entwicklungen, in die Vereinigten Staaten von Amerika schauen: Der Begriff „Woke Capitalism“ wurde 2018 von dem US-Kolumnisten Ross Douthat in einem Artikel der New York Times geprägt. Der „woke“ Kapitalismus zeichnet sich seiner Ansicht nach dadurch aus, dass er statt wirtschaftlicher Zugeständnisse wie höherer Löhne und besserer Sozialleistungen, den Arbeitnehmer mit alten linken Phrasen wie „Diversität“ oder „Multikulturalismus“ zufriedenzustellen versucht, während die unternehmerische Haltung faktisch die gleiche bleibt. Der ökonomische Wert wird also durch einen symbolischen ersetzt. Seit der Veröffentlichung dieses Artikels hat der Begriff Karriere gemacht – vor allem in der Wirtschaft selbst. Mittlerweile gibt es kaum ein gesellschaftlich und politisch relevantes Anliegen, zu dem sich Unternehmen nicht äußern. Eine Entwicklung, die innerhalb kürzester Zeit massive Ausmaße angenommen hat. Und eine Entwicklung, die zeigt: Selbst die Forderungen radikalster Minderheiten können innerhalb weniger Jahre einen festen Platz im gesellschaftlichen Mainstream finden.
Neue Allianzen
Am augenfälligsten ist diese Entwicklung wohl im Jahr 2008 – dem Jahr der Hypothekenkrise, die fast zum Zusammenbruch des gesamten US-Bankensystems führte und nur durch massive staatliche Unterstützung in Schach gehalten werden konnte. Das Bild in der Öffentlichkeit war denkbar negativ: Banker bekamen viel Geld, wenn es gut lief – und wurden vom Steuerzahler gerettet, wenn es schlecht lief. Kein Wunder, dass die Welt dem Kapitalismus skeptisch gegenüberstand, auch wenn es sich um einen „Vetternkapitalismus“ handelte.
Die alte Linke wollte die Banken auf die übliche Weise bestrafen – ihr Geld konfiszieren und es an „die Armen“ umverteilen. Aber die neue, „woke“ Linke fügte eine neue Wendung hinzu. Das eigentliche Problem sei nicht nur die Armut oder die wirtschaftliche Ungerechtigkeit. Es sei die 300-jährige Geschichte des weißen Patriarchats. Ironischerweise bot diese neue Idee, die heute als „Critical Race Theory“ bekannt ist, der Wall Street einen Ausweg aus ihrem PR-Desaster – einen Weg, von den Bösen zu den Guten zu werden. Sie mussten nur zugeben, dass ihnen die Augen geöffnet worden waren. Mit anderen Worten: Sie sind aufgewacht – „woke“ geworden. Innerhalb kürzester Zeit nahmen sie massenhaft Alibi-Minderheiten in ihre Vorstände auf, beteiligten sich nur zu gerne an der „Black Lives Matter“-Bewegung und predigten bei jeder Gelegenheit den Klimawandel, nachdem sie mit dem Privatjet in die schicken Skigebiete geflogen waren. Es dauerte nicht lange, bis der neue Sündenbock gefunden war: das Silicon Valley – denn dieses sei mit seinen Algorithmen und der unzureichenden Abwehr von „russischen Trollen“ schuld an der Wahl des US-Präsidenten Donald Trump im Jahr 2016. Die neuen Bösen in Form von Big Tech könnten aber, wie die Banken, zu den Guten werden, indem sie den hegemonialen Linken Zugeständnisse machen. Im Gegenzug könnte Big Tech seine Monopolmacht behalten. Dann kam „Covid“ und der Tod von George Floyd. Seitdem spielen nicht nur Wall Street und Silicon Valley dieses Spiel, sondern zunehmend die gesamte westliche Unternehmenslandschaft. Coca-Cola schult Mitarbeiter, „weniger weiß“ zu sein, und gibt öffentliche Erklärungen zu Wahlgesetzen ab. Dass die Getränke von Coca-Cola einen großen Anteil an der Adipositas-Epidemie haben? Ist geschenkt. Nike verurteilt den „systemischen Rassismus“ in den USA und spendet Dutzende Millionen Dollar an Black Lives Matter, während es für die Herstellung von 200-Dollar-Turnschuhen immer noch auf Sklavenarbeit in Asien angewiesen ist. Ebenfalls geschenkt.
Neben dieser taktischen Erpressung spielt auch eine soziologische Komponente eine wichtige Rolle: Ein wesentlicher Faktor des „Wokeismus“ ist auch die tiefe Verunsicherung über die eigenen Werte und die Angst vieler Institutionen vor dem Verlust ihrer moralischen Autorität, so zumindest die These des amerikanischen Soziologen Daniel Bell in seinem bereits 1976 erschienenen Buch Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus.
Die institutionelle Unterstützung für kniende Fußballspieler vor einem Länderspiel zeigt, welch gewaltige moralische Kraft hinter dem „woken“ Kapitalismus steht.
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In der Vergangenheit gab es einige Unternehmen, die soziale Bewegungen als Werbemotiv wählten und damit grandios scheiterten, viel Kritik einstecken mussten und ihre Werbekampagnen schließlich revidierten. Zudem haben viele Unternehmen im Rahmen der Corona-Aktionen gezeigt, dass ihr „soziales Engagement“ nur in guten Zeiten von Bedeutung ist. Unternehmen, die ihren Mitarbeitern „Diversity“-Trainings anboten, verzeichneten sowohl 2020 als auch 2021 einen massiven Auftragsrückgang. Die Aktivitäten vieler Unternehmen orientieren sich – wenig überraschend – stark an der Aktualität und Popularität eines Themas sowie am eigenen finanziellen Erfolg.
Im eigenen Interesse
Dennoch ist der Trend ungebrochen. Der Grund ist einfach: Viele junge Konsumenten bevorzugen heute Unternehmen, die mit ihren persönlichen Werten übereinstimmen. Eine kürzlich von Pricewaterhouse-Coopers durchgeführte Kundenbindungsstudie ergab, dass jüngere Konsumenten eher dazu neigen, bewusst Marken zu unterstützen, die mit ihren Wertvorstellungen übereinstimmen, und dass sie besonders auf „nachhaltige“ Produkte achten. Diese Generationen machen zusammen zwei Drittel der Konsumenten aus – ein riesiger Verbrauchermarkt, dessen Ausgaben mit zunehmendem Alter weiter steigen werden.
Wir wissen, dass große Marken und Unternehmen schnell bereit sind, Bewegungen wie „Black Lives Matter“ und „#MeToo“ zu unterstützen, während sie gleichzeitig Menschen und Umwelt entlang ihrer Lieferketten ausbeuten. Für den eingangs zitierten Douthat ist „Woke Capitalism“ daher nicht ohne Grund mehr als eine Nebelkerze, die Unternehmen vor einer echten Überprüfung durch bestimmte Kampagnengruppen schützt. Auch der australische Professor Carl Rhodes warnt in seinem Buch Woke Capitalism nicht ohne Grund davor, gegenüber dem Wokeismus „wachsam“ zu sein. Beim Woke-Kapitalismus und bei Woke-Unternehmen geht es um Public Relations und Unternehmenspropaganda, um das eigene Unternehmen zur Gewinnmaximierung in ein möglichst gutes Licht zu rücken. Denn dies dient in erster Linie dazu, „die Konzentration der politischen Macht bei einer Unternehmenselite weiter [zu] zementieren“.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass der „woke capitalism“ das vorherrschende Thema in Davos 2020, dem Treffen der globalen „Wohlfahrtseliten“, war. Die Konzerne spielen der Öffentlichkeit einen PR-Trick vor, indem sie progressiv erscheinen, obwohl sie von wirtschaftspolitischen Maßnahmen, insbesondere von Steuersenkungen für Unternehmen und neoliberaler Deregulierung, erheblich profitieren. Schlimmer noch: Die Unternehmen gehen sogar dazu über, das zu tun, was Rhodes „performative wokeness“ nennt, was im Grunde bedeutet, das politische System zu ihren Gunsten zu manipulieren. Gleichzeitig soll das, was als soziale Verantwortung von Unternehmen verkauft wird, verhindern, dass die Regierung einen „Grund zum Eingreifen“ hat.
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Es sind in der Tat bizarre Allianzen: Rüstungskonzerne, die pazifistische NGOs unterstützen, und Ölmultis, die sich mit Umweltorganisationen zusammentun, sind längst nicht mehr undenkbar. Vor allem für westliche Konservative, die traditionell marktfreundlich eingestellt sind, bricht eine Welt zusammen: Denn zum ersten Mal werden sie mit der moralischen und politischen Flexibilität der globalen Unternehmenslandschaft konfrontiert, die sie lange auf ihrer Seite wähnten.
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Die „Managerelite“
Für diejenigen, die gewohnt sind, große Unternehmen und Banken als konservativ zu betrachten, sind dies verwirrende Zeiten. In einem Bereich nach dem anderen verbünden sich die Konzerne und der linke amerikanische Campus. Aber: Diese Entwicklung ist nicht nur eine Allianz aus strategischer Zweckmäßigkeit – sondern manchmal und zunehmend auch aus Überzeugung. In den vergangenen Jahrzehnten haben Unternehmen im Interesse einer guten Öffentlichkeitsarbeit Lippenbekenntnisse zu verschiedenen Themen abgegeben. Aber wenn es um die modischen Anliegen der heutigen linken Mitte geht, gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, dass Amerikas Führungskräfte aus der Privatwirtschaft es größtenteils ehrlich meinen. Warum sollten sie es auch nicht sein? Die Woke-Ideologie ist der Konsens der neuen amerikanischen herrschenden Klasse: der „Managerelite“.
Der Begriff „Managerelite“ wurde erstmals durch den amerikanischen Philosophen und Soziologen James Burnham in seinem 1941 erschienenen Buch The Managerial Revolution bekannt. Burnham und andere Denker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, darunter Adolf Berle und Gardiner Means, Bruno Rizzi und John Kenneth Galbraith, vertraten die Ansicht, dass die bürgerliche, von den Eigentümern dominierte Phase des Kapitalismus einem neuen System des nationalen und multinationalen Unternehmenskapitalismus weichen würde, in dem die Manager von Unternehmen und nicht die zahllosen anonymen Investoren die eigentliche Wirtschaftselite bilden würden. In dieser Hinsicht hatten die professionellen Manager der großen öffentlichen Unternehmen mehr mit den professionellen Managern der großen öffentlichen Verwaltungen und der großen gemeinnützigen Organisationen gemeinsam als mit den Eigentümern kleiner Unternehmen oder kapitalistischen Investoren. Statt vom Sozialismus abgelöst zu werden, wie es Karl Marx vorausgesagt hatte, wurde der kleinbürgerliche Kapitalismus vom öffentlichen und privaten „Managerialismus“ abgelöst. In dem Maße, in dem sich eine konsolidierte nationale Führungsschicht herausbildete, verloren die Institutionen, die zuvor die Macht kontrolliert hatten, Mitglieder und schrumpften. Der Niedergang der Vereine und Kirchen geht einher mit dem Aufstieg der Universitäten und der aus ihnen hervorgegangenen Führungseliten.
Von der Uni in die Unternehmensführung
In der Geschäftswelt gibt es im Grunde zwei Mechanismen, durch die die Ideologie des „Campus-Wahnsinns“ verbreitet wird. Ein Übertragungsmechanismus sind die Personalabteilungen, die in vielen Unternehmen dazu dienen, Manager und Mitarbeiter durch obligatorische „Diversity-Schulungen“ zu indoktrinieren. Ein noch wichtigerer Übertragungsmechanismus für „Wokeness“ sind jüngere Arbeitnehmer. Die Zahl der Hochschulabsolventen ist im Zuge der allgemeinen Akademisierung massiv gestiegen. Heute gehört zum „College-Erlebnis“ in den USA ein „Diversity-Training“ und die Indoktrination mit linker Identitätspolitik. Die deutschen Hochschulen stehen dem, getrieben von der Doktrin linksradikaler AStA-Aktivisten, kaum nach. Einige Studenten widersetzen sich, aber viele nehmen das linke Weltbild der Universität in sich auf und tragen es in ihre Berufe in der Wirtschaft. So ist es kaum verwunderlich, dass viele ältere Firmenchefs aus Angst vor internen Rebellionen ihrer aufgeweckten Mitarbeiter vor allen linken Forderungen kapitulieren.
Unter Berücksichtigung nationaler Unterschiede lassen sich viele dieser Trends inzwischen in der gesamten westlichen Welt beobachten. Auf beiden Seiten des Atlantiks hat die linke Mitte eine neue Heimat unter Managern und akademisch gebildeten Fachkräften gefunden, während die Rechte zunehmend aus der Arbeiterklasse kommt, die aufgrund fehlender Strukturen entsprechend wenig vorpolitische und politische Macht ausüben kann. Denn nicht nur Politik und Wirtschaft sind bekanntermaßen links geprägt: Auch Gewerkschaften, Verbände und Bürgervereine unterliegen inzwischen dem linken Weltbild. In allen westlichen Demokratien haben die traditionell gegen die Staatsmacht gerichteten rechten Parteien erkannt, dass sie die Kontrolle über die meisten Institutionen des privaten Sektors, der Wissenschaft und der Medien, einschließlich der großen Unternehmen und Banken, verloren haben. Selbst der internationale Investmentriese BlackRock setzt inzwischen verstärkt auf den Ausbau seines „Environmental Social and Governance Investment“-Fonds (ESG). Es soll nur noch in Unternehmen investiert werden, die sich im Sinne des von Politik und korporatistisch verflochtener Wirtschaft definierten Gemeinwohls verhalten: vielfältig, woke, inklusiv und natürlich klimaneutral. Selbst Vorzeige-Raubtierkapitalisten wie BlackRock sind inzwischen „woke“ geworden – wie sich die Zeiten ändern.
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Zum Autor:
Kevin Dorow wurde 1998 in Norddeutschland geboren. Er absolvierte ein Volontariat bei der Verlagsgruppe Lesen & Schenken und schreibt seitdem für verschiedene konservative Publikationen.