Ukrainekrieg als Nagelprobe: Unsere Neutralität ist kein Schnitzel

Ein neuer Krieg tobt in Europa und droht sich auf den ganzen Kontinent auszuweiten – und weite Teile des polit-medialen Betriebs freuen sich wie ein Schnitzel. Denn endlich können sie unbeliebte Ideen wieder aus dem Hut zaubern, die von der kompletten Zerstörung des russischen Erbfeindes über einen NATO-Beitritt des gefühlten gesamten Sonnensystems bis hin zur EU-Armee reichen. Unserem Kulturraum helfen diese Vorschläge allesamt nicht – und der Ukraine sowieso nicht. Die Debatte um die Neutralität wird dabei so salopp geführt, als sei das eine beliebige Schnitzel-Diskussion, wie sie sich täglich an den Tischen unseres Landes ereignet.
Julian Schernthaner
Kommentar von
11.3.2022
/
4 Minuten Lesezeit
Ukrainekrieg als Nagelprobe: Unsere Neutralität ist kein Schnitzel

Ein neuer Krieg tobt in Europa und droht sich auf den ganzen Kontinent auszuweiten – und weite Teile des polit-medialen Betriebs freuen sich wie ein Schnitzel. Denn endlich können sie unbeliebte Ideen wieder aus dem Hut zaubern, die von der kompletten Zerstörung des russischen Erbfeindes über einen NATO-Beitritt des gefühlten gesamten Sonnensystems bis hin zur EU-Armee reichen. Unserem Kulturraum helfen diese Vorschläge allesamt nicht – und der Ukraine sowieso nicht. Die Debatte um die Neutralität wird dabei so salopp geführt, als sei das eine beliebige Schnitzel-Diskussion, wie sie sich täglich an den Tischen unseres Landes ereignet.

In den letzten Tagen feierten die NATO-Apologeten in der österreichischen Innenpolitik fröhliche Urständ. Ob es der einstige NEOS-Vize Veit V. Dengler oder ÖVP-Methusalem Andreas Khol war: Sie alle wünschten sich die Neutralität auf den Müllhaufen der Geschichte. Schützenhilfe bekamen sie teils aus dem journalistischen Bereich. So bezeichnete etwa „profil“-Herausgeber Christian Rainer den Umstand, dass sich nach der FPÖ auch die SPÖ für die Neutralität starkmacht, als „widerlich“. Es ist dasselbe Blatt, das Wolodymyr Selenskyj im aktuellen Heft so hagiographisch huldigt, als wäre er Jesus persönlich.

Neutrale Staaten als Friedenshort

Unsere immerwährende Neutralität ist uns seit 1955 ein Garant des Friedens. Eines Friedens, der uns vor 65 Jahren auf die Weltkarte zurücksetzte, weil er uns als Ort für bilaterale Ost-West-Gespräche so attraktiv machte wie für internationale Organisationen wie IAEA und UNO. Die man als Globalismus-Kritiker wohl kritisieren kann und vielleicht muss, aber die Präferenz solcher Einrichtungen (die den Mächtigen wichtig sind) für neutrale Länder wie Österreich oder die Schweiz ist kein Zufall. Sie sind nicht „allein“, wie Khol fälschlich behauptet, sondern genießen einen Friedensvorschuss.

Nun wird diese Neutralität zur Disposition gestellt, wofür Nehammer sogar das aktuelle Feindbild bediente: „Die Russen“ hätten sie uns aufgezwungen. Zwar ruderte Nehammer nach einiger Kritik zurück und bekannte sich zur Neutralität, aber der schale Beigeschmack bleibt. Zwar ist es historisch richtig, dass sie eine Bedingung der Sowjetunion für die Unterzeichnung des Staatsvertrages war. Aber man stelle sich den anderen Fall vor. Unsere ganze Nachkriegsgeschichte wäre anders gelaufen. Daher kann man sie nicht wie ein Schnitzel aus dem Nutzvieh herausschneiden und genüsslich verbraten.

Dystopie des geteilten Österreich

Dieses Österreich wäre an der Linzer Nibelungenbrücke in zwei Stücke gerissen worden. Es würde wie der bundesdeutsche Nachbarn noch 30 Jahre nach der Wende die Wunden dieser schmerzlichen Grenze mitten durch das eigene Land lecken. Vielleicht wäre die Ost-West-Grenze auch nicht so stabil gewesen, wenn man bedenkt, wie knapp an der Sektorengrenze eigentlich das VÖEST-Gelände und die Linzer Chemie gewesen wären. Zwentendorf, mitten im Sowjetsektor gelegen, wäre ebenso in Betrieb gegangen wie die Hainburger Au abgeholzt. Am Semmering hätte man Republikflüchtlinge abgeknallt. Ob sich STS die Heimkehr nach Fürstenfeld an einer mit Stacheldraht durchsetzten Feistritz gewünscht hätten?

Auch solche Szenen ersparte uns die Neutralität, die wir mit Selbstbewusstsein auslebten. Heute gilt sie als Kulturgut, so österreichisch wie unsere Berge oder eben das Schnitzel. Auch Letzteres entsprang nicht originär dem Kopf heimischer Köche nicht jeder ist Freund des Gerichts. Aber niemand käme auf die Idee, es im gutbürgerlichen Lokal von der Speisekarte zu streichen. Ich wohnte einst in einer Stadt, da behielten es sogar chinesische und türkische Wirte nach der Übernahme von Traditionsgasthöfen bei, um die Kunden nicht zu verlieren. Sich ein Schnitzel leisten zu können, gilt als Maßstab für den Mindestwohlstand, in dem das Volk die Füße noch still hält. Der aktuelle Konflikt stellt auch das infrage.

Österreich als Modell für Ukraine?

Mit Recht sind und waren wir stolz auf einen seltenen Status, den außer uns nur ein Dutzend weiterer Staaten beansprucht. Die Ukraine zählte bis 2014 dazu, opferte sie letztlich aber für die NATO-Perspektiven, die man inzwischen sogar in die Verfassung schrieb. Das hätte nicht sein müssen: Politologen schlugen vor acht Jahren sogar Österreichs Modell als friedenswahrende Variante vor, die vielleicht die Annäherung an Europa ohne Konfliktpotenzial mit Russland ermöglicht hätte. Eine Version, in der sich nicht die beiden Kornkammern unseres Kontinents die Köpfe einschlagen.

Ich bin auch weiter davon überzeugt, dass es eine für beide Seiten gesichtswahrende Möglichkeit gibt, aus dem Krieg auszusteigen. Das Blutvergießen zwischen Brudervölkern zu stoppen, ehe es sich zum gesamteuropäischen Konflikt ausweitet. Die Neutralität respektive Bündnisfreiheit der Ukraine ist auch Teil des russischen Vorschlages. Eine Gelegenheit also, den Kreml an den Taten zu messen. Das Gemetzel zwischen zwei stolzen Nachbarn, die mehr gemeinsam haben als sie trennt, muss jedenfalls enden. Und für einen patriotischer Europäer heißt das: Auf eine für beide Seiten gangbare Weise.

Bruderkrieg hilft nur Washington & Peking

Die Gründe dafür sind vielfältig und liegen auf der Hand. Aus menschlicher Sicht, weil jedes unnötig vergossene Blut junger idealistischer Europäer zu viel ist. Aus geopolitischer Sicht, weil eine Instabilität auf unserem Kontinent nur Profiteuren jenseits des Atlantiks und in Fernost hilft. Aus kulturpolitischer Sicht auch, weil es sowohl die Ukraine als auch Russland verdienen, selbstbewusst als aufstrebendes Land zum Teil der Familie unseres Kontinents zu werden, anstatt per Kriegshandlung bis hin zum NATO-Eingriff in die Steinzeit verfrachtet zu werden.

Denn, dass die globalen Interessenskreise keinen Wunsch einer wirklich unabhängigen und freien Ukraine hegen, haben sie bereits angedeutet. EU-Kommissionschefin Von der Leyen sprach davon, dass die Ukrainer für „europäische“ und „universelle“ Werte sterben würden. Das ist beunruhigend: Denn das Ziel des nationalen Aufbruchs der Ukrainer kann natürlich nicht sein, vor Moskau davon laufend in der Dekadenz des Westens zu landen. Das, was die „multilateralen“ EU-Granden als „europäische Werte“ sehen sind keinesfalls jene Werte, die aufrichtigen heimatverbundenen Europäern wichtig sind.

Austritt aus dem Kriegstreiber-Chor

Mir ist völlig bewusst, welchen Blutrausch das Säbelrasseln mittlerweile ausgelöst hat. Doch Österreich hätte sich hier von Anfang an als Vermittlerin einbringen müssen. Als eine Stimme der Vernunft, die sämtliche Konfliktparteien am Tisch vereint. Die dafür sorgt, dass die Diplomatie nicht scheitert, sondern erfolgreich ist. Auch vor dem Eigeninteresse, dass wir uns wie kaum ein anderes Land abhängig von unseren Ost-Geschäften in der Ukraine und in Russland gemacht haben. Geschäfte, auf die Washington und seine Freunde im Nahen Osten freilich spechteln.

Im deutschen Blätterwald ist Koketterie mit dem 3. Weltkrieg mittlerweile salonfähig, im Staatsfunk spannt man Kinderleid ein, um sich den Beschuss russischer Flugzeuge durch NATO-Flugzeuge zu liefern. Eine US-Basis in Deutschland soll als Drehscheibe für Waffenlieferungen dienen, während seine Politiker davon träumen, Russland nachhaltig zu „ruinieren“. Man ist die perfekte Zielscheibe. Österreich sollte das nicht nachmachen. Die österreichische Kleinstaaterei will immer „jemand sein“ auf dem geopolitischen Parkett. Indem wir in der dritten Reihe des Kriegstreiber-Chors mitsingen, werden wir aber auch das nicht. Sondern können bestenfalls zusehen, wie Schallenbergs Atompilz- Dystopie in Wien zur Wirklichkeit wird.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor
Julian Schernthaner

Julian Schernthaner

Der studierte Sprachwissenschafter wurde 1988 in Innsbruck geboren und lebte sieben Jahre in Großbritannien. Vor kurzem verlegte er seinen Lebensmittelpunkt ins malerische Innviertel, dessen Hügel, Wiesen und Wälder er gerne bewandert.

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