Rezension – Brendan Simms: Die Rückkehr des Großraums? (Carl-Schmitt-Vorlesungen)
Brendan Simms, Direktor des Zentrums für Geopolitik an der Universität Cambridge, sieht in einem neuen Buch die globalisierte US-Weltordnung durch China und Russland bedroht, deren Strategen und Staatsmänner sich wieder auf großräumiges Denken besinnen. Zweimal, 1918 und 1945, ging der Kampf gegen die angelsächsische Weltordnung für die Landmächte schlecht aus. Wie es diesmal ausgehen wird, ist ungewiss. Der Politikwissenschaftler Dr. Seyed Alireza Mousavi bespricht das Buch.
Die von den USA dominierte Weltordnung ist längst ins Wanken geraten. Auf dem ukrainischen Schlachtfeld führen die USA gegen Russland einen Stellvertreterkrieg, während Washington derzeit die Fäden bei der brutalen Militäroperation Israels gegen Gaza zieht. Zugleich sehen sich die USA als dominante Supermacht vom wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt der zur Großmacht aufstrebenden Volksrepublik China bedroht. Der Direktor des Zentrums für Geopolitik an der Universität Cambridge, Brendan Simms, sieht die globalisierte US-Weltordnung durch China und Russland bedroht, deren Strategen und Staatsmänner sich wieder auf das Großraumdenken besinnen.
Die globalen Kampflinien sind hier bereits deutlich sichtbar. In der Ukraine weist der Westen die Behauptung Putins zurück, das Gebiet sei Teil des russischen Raums. In Asien konfrontiert China den Westen militärisch mit Taiwan und dem Südchinesischen Meer, um seinen geopolitischen Raum von der Herrschaft der westlichen Seemächte zu emanzipieren. In den letzten 120 Jahren haben wir beobachtet, dass eine dominante angelsächsische und universalistische Kraft von regional verwurzelten, aufstrebenden Mächten herausgefordert wurde. Zweimal, 1918 und 1945, endeten diese Angriffe schlecht für die Kräfte der anti-angelsächsischen Weltordnung. Wie es dieses Mal ausgehen wird, ist nicht abzusehen. Simms vertrat in seiner Carl-Schmitt-Vorlesung in Berlin, die kürzlich als Büchlein bei Duncker & Humblot veröffentlicht wurde, die These, dass die Großraum-Konzeption wieder auf der Welt Konjunktur hat: Nach der Bipolarität des Kalten Krieges und der amerikanischen Unipolarität nach 1989 wandte sich die Welt in den letzten 20 Jahren wieder Regionalismus und Multipolarität zu.
Rückkehr der Großräume?
Russland spricht schon länger von einem größeren Raum, den es beherrschen will, ebenso wie China. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf einen Namen und einen Begriff verwiesen, der in den letzten Jahren eine Renaissance erfahren hat: Carl Schmitt und der Großraum. Carl Schmitts heutige Relevanz bezieht sich vor allem auf seine Kritik an der angloamerikanischen Hegemonie.
Deutsches Großraumdenken hatte immer eine starke antibritische und antiamerikanische Färbung, wonach die Hauptbedrohung für Deutschland nicht von Frankreich oder Russland ausgeht, sondern von der See- und Wirtschaftsmacht Angloamerikas. Die Ursprünge des Großraumkonzepts, die Idee, dass Mitteleuropa um seinen deutschen Kern herum gruppiert werden sollte, reichen bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Auf der angelsächsischen Seite wurde immer diese Debatte mit „Besorgnis“ registriert, dass eine andere Macht ein völlig separates Ordnungssystem in Europa und Eurasien schaffen könnte.
Der Nationalsozialist Adolf Hitler war Schmitt bei den geopolitischen Fragen zur Zukunft Deutschlands nach „dem Versailler Diktat“ voraus. Schmitts Ansichten stimmten in den Jahren 1939-42 weitgehend mit denen Hitlers überein. Die Konzeption von Hitler war jedoch nicht von Schmitt abgeleitet. Hitler hatte schon seit einiger Zeit seine Raumkonzeption entwickelt und über die Monroe-Doktrin nachgedacht, lange bevor der Jurist sie ausführlich thematisieren sollte. Der Historiker Simms zitiert Hitlers Interview mit der New York Times, in dem er von seinen Plänen für eine Monroe-Doktorin für Deutschland berichtete. Nach Hitler sollte Deutschland Europa überlassen werden, und den angelsächsischen Mächten hingegen die gesamte übrige Welt – und zwar auf Basis einer Vereinbarung gegenseitiger Nichteinmischung in die Angelegenheiten des jeweils anderen.
Eine europäische Monroe-Doktrin
Der Kern Schmitts Argumentation war auch ein antiuniversalistischer. Anstelle einer Weltordnung auf der Grundlage bestimmter allgemeingültiger Prinzipien, die er nur als Deckmantel des angloamerikanischen Imperialismus auf der Grundlage des Interventionsrechts betrachtete, forderte Schmitt die Errichtung eines multipolaren Systems, das auf geografisch abgegrenzten Großräumen basierte.
Buchempfehlungen der Redaktion:
➡️ Dimitrios Kisoudis – Mitteleuropa und Multipolarität
➡️ Carl Schmitt – Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen*
➡️ Carl Schmitt – Land und Meer: Eine weltgeschichtliche Betrachtung*
➡️ Brendan Simms – Die Rückkehr des Großraums? (Carl-Schmitt-Vorlesungen)*
➡️ Brendan Simms – Kampf um Vorherrschaft: Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute*
Es gab allerdings Unterschiede zwischen Hitlers Ambitionen und Schmitts Konzept: Eine genaue geografische Definition des deutschen Großraums gab Schmitt nicht. Sein Großraum war eher ein georechtlicher als ein geopolitischer Raum. Angedacht war nämlich bei Schmitt nicht nur ein multipolares System gewesen, sondern auch eine Pluralität politischer Systeme. Hinzu kommen unterschiedliche Haltungen zur Sowjetunion: Das dritte Reich versuchte am Anfang, Stalin für diese Vorstellung zu interessieren. Der deutsch-sowjetische Pakt von 1939 schien die Möglichkeit eines eurasischen Blocks zu eröffnen, der sich vom Atlantik bis nach Japan erstreckte. Tatsächlich wurde später die Schrift Land und Meer von Schmitt plausibel auch als verdeckte Kritik an Hitlers Bruch des deutsch-sowjetischen Pakts gelesen. Denn die beiden zeitweilig Verbündeten waren Landmächte mit gemeinsamen Interessen gegen die allmächtigen angelsächsischen „Seeungeheuer“.
Der Historiker Simms stuft insofern Schmitt als Vordenker Eurasiens ein. Denn die Sowjetunion und der Kommunismus waren im Kalten Krieg nicht Schmitts Hauptfeind. Das blieben die universalen Ansprüche des Westens. In seinem Dialog über den Partisanen pries auch Schmitt die Chinesen als bodenständiges Volk und stellte sie implizit westlichen Seemächten gegenüber.
Schmitt als eurasischer Vordenker
Simms stellt in seiner Berliner Vorlesung fest, dass es eine direkte und wirkungsmächtige Linie von Carl Schmitt zu Putin und Xi Jinping gibt. Russische Eurasier und Historiker berufen sich auf den Großraum als „Rechtsfertigung und als Manifest für Russlands Rückkehr zur Größe“. Elena Vladimirovna Panina, eine bekannte Abgeordnete in Russland, hoffte auf ein Bündnis aus Moskau, Paris und Berlin, das der von den USA und Großbritannien angeführten Seemächten-Allianz entgegentreten wird. Aus dieser Perspektive werde der russische Angriff auf die Ukraine Ende Februar 2022 von den Eurasiern im Umfeld des Kremls als ein Akt der Selbstverteidigung angesehen.
Schmitts Denken aufgrund seiner Gegnerschaft zum Liberalismus hat in China eine lange Rezeptionsgeschichte. Die Chinesen loben Schmitt als globalen Historiker, der dabei helfe, Chinas missliche Lage im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als globalen „freien Raum“ zu verstehen, der von anderen dominiert wird und ihnen in Form der Großraum-Theorie genau die Werkzeuge an die Hand gibt, um diese Lage im einundzwanzigsten Jahrhundert zu meistern.
Die Angst und der Hass auf die Angelsachsen sind in China nicht ganz so ausgeprägt wie in Russland, aber sie sind ein wichtiger Teil des „politisch Imaginären“, stellt der irische Historiker fest. China verurteilte unlängst den AUKUS-Pakt zwischen Australien, USA und Großbritannien über die gemeinsame Nutzung nuklearer U-Boot-Technologie als einen „angelsächsischen Block“.
Das Bündnis Moskau-Peking
Die Wurzel der Verständigung zwischen Putin und Xi liegt nach Darstellung Simms in ihrer gemeinsamen Feindseligkeit gegenüber dem Versuch einer globalen Umsetzung „demokratischer Prinzipien“ durch den Westen. Russland und China schweben einen Mega-Großraum vor, der den russischen und chinesischen Großraum verbindet. Der Historiker sieht derzeit eine Konfrontation einerseits zwischen dem russischen und dem chinesischen Großraum, die jeweils ein bestimmtes Prinzip in der Welt repräsentieren, und anderseits dem universellen Westen, der geografisch in der Anglo-Sphäre verankert ist, aber beansprucht, weltweit zu operieren.
Dass der irische Historiker in seiner Berliner Carl-Schmitt-Vorlesungen Parallelen zwischen der Koexistenz der Großräume Russlands und Chinas mit dem Dreimächtepakt von 1940 (Nazideutschland, Italien, Japan) zieht, zeugt davon, inwieweit Simms bei seiner Analyse in den Machtverhältnissen der 40er Jahren hängen geblieben ist. Simms konstruiert in der Tat eine neue Bipolarität zwischen den USA und China/Russland und verwechselt diese dann mit der Multipolarität. Der Aufstieg des globalen Südens und die Entstehung der BRICS-Staaten sind meines Ermessens ein angemessenerer Kontext, wonach der Übergang der Weltordnung von der Unilateralität der Seemächte zur Multipolarität der Landmächte zu analysieren ist. Simms blendet zudem völlig aus, dass die neue Landmacht China seinen Einfluss durch das Neue-Seidenstraße-Projekt über den eigenen Kulturraum hinaus ausbaut, obwohl es seine ostasiatischen Werte fremden Räumen nicht aufzwingen will. Und dieses Muster trifft auch weitgehend bei anderen neuen Mächten wie Russland, Indien, Türkei, Iran usw. zu. Das Großraumdenken bedarf vor diesem Hintergrund einer neuen Definition, um den aktuellen geopolitischen Entwicklungen gerecht zu werden.
Zur Person:
Dr. Seyed Alireza Mousavi ist promovierter Politikwissenschaftler, Carl-Schmitt-Exeget und freier Journalist, spezialisiert auf Geopolitik und lebt in Berlin.
Die mit einem Stern (*) gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate-Links. Wenn Sie auf einen Affiliate-Link klicken und dann einen Einkauf machen, bekommen wir vom jeweiligen Anbieter eine Provision. Das Gute daran: Für Sie bleibt der Preis völlig gleich und Sie unterstützen gleichzeitig unsere Arbeit.