Rezension – Lothar Höbelt: Freiheitlich. Die Geschichte des dritten Lagers
Der Wiener Historiker Lothar Höbelt spricht in seinem neuesten Buch mit FREILICH-Geschäftsführer Heinrich Sickl über die Geschichte des Freiheitlichen Lagers. Der Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser kann das Buch trotz der Kritik empfehlen, wie er in seiner Rezension schreibt.
Der Historiker Lothar Höbelt muss dem FREILICH-Publikum nicht groß vorgestellt werden. In Österreich und darüber hinaus steht der 1956 geborene Wiener Historiker mit einer gewissen Nähe zur Freiheitlichen Partei für einen eigenen Stil der Geschichtsschreibung: fundierte Faktenpräsentation bei luzider Sprache, die mitunter ins Anekdotische übergeht. Es macht Spaß, Höbelt zu lesen, ob man es nun mit dem Buch Böhmen. Eine Geschichte oder mit seiner konzisen Darstellung über Aufstieg und Glanz einer europäischen Dynastie der Habsburger zu tun bekommt – Wissensvermittlung mit guter Laune kann funktionieren.
Wohl auch aus diesem Grund entschied sich die FREILICH-Mannschaft um den Herausgeber Heinrich Sickl dazu, ebenjenen Lothar Höbelt zur Geschichte des freiheitlichen Milieus zu befragen, und zwar im Frage-Antwort-Stil, mit ausreichend Platz zum Nachhaken und Ergänzen. Diese Wahl erweist sich als berechtigt: Denn die Geschichte des Dritten Lagers, das es in seiner konkreten Form nur in Österreich gibt und für Bundesdeutsche oft Neuland verkörpert, wird in diesem Zuge so kenntnisreich wie unterhaltsam dargeboten. Es handelt sich um eine Geschichte, die weit über die Geschichte der FPÖ hinausgeht. Höbelt webt die Fäden der freiheitlichen Entwicklungsgeschichte zusammen und beginnt dabei im Schicksalsjahr 1848. Von dort aus skizziert er die Ursprünge jenes Dritten Lagers, das man seither als „freiheitlich“ klassifiziert, benennt Köpfe und Zäsuren und schält die Positionierung besagten Lagers im Widerspruch zu den beiden klassischen Großlagern – den Roten beziehungsweise Sozialdemokraten/Sozialisten und den Schwarzen beziehungsweise Konservative/Klerikale – heraus. Bewährte Hochburgen der heutigen Blauen (zum Beispiel das Sudetenland) und Kernunterstützer (zum Beispiel freiberufliche Bürger) werden ebenso eingeführt wie die Konstante der deutschnationalen beziehungsweise großdeutschen Grundierung der Freiheitlichen. Vor allem vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit erklärt Höbelt zudem das Näheverhältnis des freiheitlich-nationalen Lagers zu den Handelskammern und der Industrie.
Eine kenntnisreiche Darstellung der Geschichte der Freiheitlichen
Die Herausforderung, die schwierige Situation in den 1930er-Jahren zu beschreiben, als der tiefschwarze „Austrofaschismus“ kurzzeitig reüssiert, dem Höbelt pointiert den Faschismus-Charakter abspricht – „Zum Faschismus fehlte dem Regime vor allem das Wesentliche, die faschistische Bewegung“ –, wird ebenso elegant gemeistert wie jene Herausforderung im Anschluss, das ambivalente Verhalten vieler Freiheitlicher unter der NS-Diktatur einzuordnen. Doch nach dem Zusammenbruch der Nationalsozialisten bricht das Dritte Lager nicht entzwei, sondern gruppiert sich neu, unter anderem in Form des Verbands der Unabhängigen (VdU), auf dessen Trümmern ab 1956 die FPÖ als Sammlungspartei erbaut wird.
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Den Charakter der Partei, der von Anbeginn an aufgrund der Sonderrolle zwischen den Proporz-Platzhirschen SPÖ und ÖVP durch „ein gewisses trotzig-elitäres Bewusstsein“ gekennzeichnet ist, macht Höbelt den Lesern deutlich. Über historische Wegmarkungen der letzten Jahrzehnte hinweg zeichnet er das Bild einer vielköpfigen Partei, die kein „Selbstzweck“ sei, aber als „unverzichtbar“ zu gelten habe, stelle sie sich doch gegen eine chronische Linksverschiebung der „Diskurse“. Den Leser kann freuen, dass auch die Widersprüche innerhalb des eigenen freiheitlichen Lagers nicht ausgespart bleiben: „Wachstumsschmerzen“, so Höbelt keck, sorgen für „Verteilungskämpfe“ – und die wiederum für Missgunst und Neid, wie in jeder Partei. Die führenden Köpfe der FPÖ über die Jahre hinweg werden dabei mit ihren individuellen Stärken (beziehungsweise Erfolgen) und Schwächen (beziehungsweise Skandalen) porträtiert, von Jörg Haider und Heinz-Christian Strache über Norbert Hofer bis zum amtierenden Parteichef Herbert Kickl.
Ein schwacher politischer Kommentator
Doch um so näher man im Buch der Gegenwart kommt, desto stärker kommt der Autor von seinem vertrauten Terrain ab. Als Historiker verdient er sich wie gewohnt seine Meriten, als politischer Kommentator verhebt er sich mehrfach böse am Gegenstand. Einmal heißt es, die „Kerntruppen“ des Lagers wüssten nicht so recht, was sie inhaltlich wollen, wohin der Weg also führen soll. Kurz darauf bemängelt aber Höbelt, für „konzeptionelle Tiefe“ sei die (Real-)Politik kein Ort, um dann wiederum zu insinuieren, Ideen- beziehungsweise Metapolitik, die ja überhaupt erst einmal dazu gebraucht werden, „konzeptionelle Tiefe“ im Zeichen konkreter Nah- und Fernziele liefern zu können, seien überschätzte Konzepte. Abgesehen davon, dass dieser sinnwidrige Zickzackkurs nicht objektiv begründet wird, sondern sichtbar subjektiven Launen entspringt, bleibt dieser Positionierungsversuch nicht das einzige politische Eigentor.
Höbelt widerspricht sich sogar erneut: Denn er führt zwar (korrekt) aus, dass Ideen dann besonders wirkmächtig seien, wenn sie „selbstverständlich“ geworden sind, stellt sich aber sogleich selbst wieder ein Bein: Gerade die Setzung und Durchsetzung von Positionen und Begriffen, bis dass sie in den Alltagsverstand der Menschen übergehen, sind ja gerade das A und O nachhaltiger Metapolitik! Aber Höbelt, der über sich selbst verrät, er lese lieber Zeitungen verblichener Epochen als zeitgenössische Erzeugnisse, fällt damit selbstverschuldet aus der Zeit: für beschreibende Historiker legitim, für politisch intervenierende Autoren mit Wirkungsanspruch keineswegs. Ihm fehlt als „Reaktionär“ der Zugang zu real- und metapolitischen Denkansätzen, die für das Heute und Morgen rüsten, ebenso zur Gänze, wie ihm ein Verständnis der „Zivilgesellschaft“ und ihrer Hegemoniekämpfe im „gramscianischen“ Sinne leider vollkommen abgeht. Ein Umstand, der spätestens dann zum manifesten Problem wird, wenn Höbelt mit seiner befremdenden Verkürzung des Politischen auf einen reinen Korrektiv-Parlamentspatriotismus über Identitäre und Co. sinniert.
Treten derlei politische Mängel auch an weiteren Stellen unverhüllt zu Tage: Als historische Schau ist das vorliegende Buch bereits jetzt ein unverzichtbares Standardwerk, das überdies adrett gestaltet ist und wertvolle Zusatzbausteine wie Zeittafeln und ein Personenglossar enthält. Auch bundesdeutsche Leser werden so mit Genuss in die faszinierende Geschichte freiheitlicher Politik in Österreich eintauchen können.
Zur Person:
Benedikt Kaiser, geboren 1987, ist Politikwissenschaftler, Lektor und Publizist. Zuletzt erschien sein vielbeachteter Sammelband Die Konvergenz der Krisen.