Der EU steht ein Stresstest bevor
Zur Krise der deutsch-französischen Beziehungen
Die Risse im Gefüge der EU werden tiefer. Inzwischen bedrohen sie auch den Kernbestand der EU: die beiden großen Gründungsmächte der früheren EWG, Frankreich und Deutschland, driften in zentralen Fragen immer mehr auseinander.
Nur mit Mühe konnte kürzlich der Eklat verhindert werden, als Ende Oktober das jährliche gemeinsame Treffen der deutschen und französischen Regierung in letzter Minute „verschoben“ wurde. Zwar empfing der französische Präsident Macron Bundeskanzler Scholz dann doch noch, um die Außenwirkung abzumildern. Aber die bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Berlin konnten nicht ausgeräumt werden. Sie kreisen um mehrere Schlüsselbereiche.
Bereich eins: Verteidigungspolitik
Erstens geht es um die Verteidigungspolitik. Als Kanzler Scholz unmittelbar nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine seine „Zeitenwende“-Rede hielt und ein gigantisches Aufrüstungsprogramm für die Bundeswehr im Wert von 100 Milliarden Euro ankündigte, war das aus französischer Sicht zunächst eine gute Nachricht. Die neuen deutschen Rüstungsanstrengungen, so kalkulierte Paris, würden auch einer Reihe gemeinsamer deutsch-französischer Rüstungsprojekte wieder neuen Schwung verleihen. Konkret geht es vor allem um einen Nachfolger für den in die Jahre gekommenen „Eurofighter“ und die gemeinsame Entwicklung eines künftigen deutsch-französischen Kampfpanzerprojekts.
Doch inzwischen sieht sich Paris herbe enttäuscht – denn Berlin ist weit davon entfernt, die gemeinsamen Rüstungsanstrengungen voranzubringen. Stattdessen scheint die Bundesregierung fest entschlossen, sich mit dem Ankauf amerikanischer F-35-Kampfjets dauerhaft in eine fatale Rüstungs-Abhängigkeit von den USA begeben zu wollen. Auch die deutsche Rüstungsindustrie warnt mit Nachdruck vor dieser Entscheidung (Freilich berichtete).
Als wäre das nicht genug, bestätigte Berlin im Oktober auch noch die Teilnahme an einem gemeinsamen Raketenabwehrschild, an dem 14 europäische NATO-Staaten beteiligt sind – nicht aber Frankreich, das über ein eigenes Programm verfügt.
Bereich zwei: Energiepolitik
Die andere deutsch-französische Konfliktzone betrifft die Energiepolitik. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Berlin betreffen zentrale Fragen wie etwa die Preisdeckelung für importiertes Gas. Frankreich gehört zu den 15 Mitgliedstaaten, die dafür sind – Deutschland ist dagegen, zusammen mit einigen anderen Ländern wie den Niederlanden, Österreich oder Ungarn.
Dahinter steht die grundsätzliche Uneinigkeit der beiden Lager, wie mit der Explosion der Energiepreise umgegangen werden soll. In Berlin will man nicht das Risiko eines Versorgungsengpasses eingehen, das mit einer künstlichen Preisobergrenze verbunden wäre. Denn eine solche Obergrenze würde die Lieferanten (Norwegen, USA, Golfstaaten) dazu veranlassen, ihr Gas andernorts teurer zu verkaufen. Die Scholz-Regierung ist bereit, das Gas lieber teurer einzukaufen, Wirtschaft und Privathaushalte aber durch einen finanziellen „Schutzschild“ zu unterstützen. Dafür sollen 200 Milliarden Euro (über einen Zeitraum von zwei Jahren) zur Verfügung gestellt werden.
Die europäischen Partner sind darüber nicht begeistert und bezichtigen die Deutschen seither des nationalen Egoismus. Auch die EU-Kommission kritisierte eine drohende Wettbewerbsverzerrung zwischen deutschen Unternehmen, die durch die Regierung geschützt werden, und anderen Ländern, die hierfür nicht die Mittel haben.
Bereich drei: Gaspipeline
Ein weiterer Streitpunkt betrifft den Bau der sogenannten MidCat-Gaspipeline. Dabei soll Flüssiggas, das an der spanischen Küste angeliefert wird, durch Frankreich nach Mittel- und Nordeuropa transportiert werden. Macron hat das Projekt mittlerweile beerdigt und kündigte stattdessen zusammen mit seinen spanischen und portugiesischen Amtskollegen eine Unterwasserleitung zwischen Barcelona und Marseille an. Beobachter sind sich einig darin, dass das Projekt derzeit noch alles andere als ausgereift ist, weshalb Macrons Ankündigung eher eine politische Botschaft an Berlin war.
Inzwischen kommen noch viel tiefere Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden EU-Zentralmächten an die Oberfläche: während Deutschland sich – aus naheliegenden ökonomischen Gründen – stets für eine EU-Erweiterung nach Osten starkgemacht hatte, hatte Paris damit Ängste vor einer „Marginalisierung“ Frankreichs im größer werdenden Europa verbunden. Der neue Bundeskanzler Scholz bestätigte solche Ängste unfreiwillig, als er sich am 29. August in Prag für eine vertiefte „Integration“, also eine Art „Bundesstaats-EU“ aussprach – einschließlich einer militärischen Komponente. Schon im März war in einem Dokument unter dem Titel „Strategischer Kompass“ die Schaffung einer 5.000 Mann starken EU-Truppe ins Auge gefasst worden – ihre Führung strebt Berlin an.
Macron verliert politischen Spielraum
Das alles ist zuviel für Paris – zu viel europäischer Superstaat, zu viel Deutschland. Hinzu kommt, dass der neuen Macron-Regierung eine erstarkte Rechte unter Marine Le Pen im Nacken sitzt, die sich bei der jüngsten Parlamentswahl im Juni glatt verzehnfachen konnte. Macron hat infolgedessen nicht mehr viel politischen Spielraum für Kompromisse mit Berlin.
Unter dem Strich zeichnet sich eine bemerkenswerte Erosion der jahrzehntelang beschworenen Partnerschaft zwischen Berlin und Paris ab. Der „Motor“ der EU, das deutsch-französische Gespann, ist kräftig ins Stottern geraten. Das wird zwangsläufig Auswirkungen auf ganz Europa haben. Die Fliehkräfte nehmen zu, was auch durch das Erstarken rechtsnationaler Kräfte wie jüngst in Schweden und Italien unterstrichen wird. Die Krise, die gerade erst Fahrt aufnimmt, tut ihr Übriges.
Der EU steht ein heftiger Stresstest bevor. Niemand möchte derzeit seine Hand dafür ins Feuer legen, dass sie ihn besteht. Washington, an den Turbulenzen maßgeblich beteiligt, kann sich die Hände reiben. Und Putin braucht nur abzuwarten.