Diskussion um Höcke: Die Inklusion ist nur eine Illusion

Vor einigen Tagen hat das MDR-Sommerinterview mit dem Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke die Gemüter erhitzt. Darin bezeichnete er die Inklusion behinderter Kinder als „ideologisches Projekt“. In seinem Kommentar für FREILICH erklärt der AfD-Abgeordnete Joachim Paul, warum Kinder ohne Beeinträchtigung im Zuge der Inklusionsdebatte nicht ausgegrenzt werden dürfen.

Kommentar von
17.8.2023
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4 Minuten Lesezeit
Diskussion um Höcke: Die Inklusion ist nur eine Illusion

Joachim Paul

„Damals in der Dorfschule wurden ja auch alle zusammen unterrichtet!“ – an diesen leidenschaftlichen Einwand einer Kollegin erinnere ich mich noch heute. Er fiel im Rahmen einer hitzigen Diskussion über das Für und Wider der Inklusionspolitik, die natürlich auch in Rheinland-Pfalz an Fahrt aufgenommen hat, wenn auch nicht so ideologisch wie in Bremen. Was genau mit „damals“ gemeint war, konnte die Französischlehrerin, die heute vermutlich Schulleiterin ist, nicht konkretisieren.

Erfolge der preußischen Bildungsreformen

Nähern wir uns dem „Damals“ trotzdem einmal an. Betrachtet man die Entwicklung des Schulwesens in der preußischen Rheinprovinz im 19. Jahrhundert, so lassen sich zwei große Linien erkennen. Zum einen wurde es allgemeiner, das heißt der Privatunterricht wurde zugunsten der öffentlichen Schule immer mehr zurückgedrängt, zum anderen differenzierter, denn im zunehmend industrialisierten Rheinland entstand die Notwendigkeit, Berufsschulen zur Sicherung des Fachkräftebedarfs zu gründen. Sie wurden nach Berufen gegliedert. Damit einher ging eine Differenzierung nach Leistungsvermögen und beruflichen Perspektiven. So entstanden die Gymnasien, die jahrzehntelang nur von einem Prozent der Schüler besucht wurden.

Die Erfolge der preußischen Bildungsreformen sprechen für sich. Sechzig Jahre nach Einführung und sukzessiver Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht (bereits 1825) wurde zwischen 1880 und 1900 eine nahezu hundertprozentige Alphabetisierung der Bevölkerung erreicht. Das war einmalig in Europa. Das Deutsche Reich avancierte in der Folge zu einer Bildungs- und Wissensgesellschaft, die die Grundlage für einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung wurde. Soviel zur damaligen Zeit.

Förderschulen in Rheinland-Pfalz unter Druck

Das ist auch heute noch wichtig, weil die herrschende – linke und vermeintlich fortschrittliche – Bildungspolitik immer noch auf den falschen und überholten Erzählungen der 68er-Generation beruht. Danach sei das deutsche Schulsystem im Kern obrigkeitsstaatlich und damit selektiv.

Gerade die Inklusionspolitik, die ihren linksideologischen Furor hinter der harmlos klingenden Formel einer „Schule für alle“ verbirgt, folgt diesem Narrativ. Angestrebt wird eben eine Klasse beziehungsweise ein Unterricht für alle, der jede Differenzierung aufhebt. Gerade diese ist aber, wie sich historisch glasklar ableiten lässt, eine Errungenschaft der Moderne. Es gehört schon ein verleumderisches Maß an Rabulistik dazu, heute von „Segregation“ zu sprechen und damit zu unterstellen, sie sei das Ergebnis vormoderner Vorurteile und eines versteckten Standesdünkels, der sich gegen das Wohl der Schüler richte. Der Angriff auf unsere Sonder- und Förderschulen muss daher vor allem als Infragestellung des mehrgliedrigen Schulsystems und damit des Leistungsgedankens insgesamt gesehen werden. Die Grüne Jugend forderte jüngst erneut die Auflösung des mehrgliedrigen Schulsystems zugunsten einer überdimensionierten Gesamtschule.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (2008) verpflichtet uns also keineswegs – auch wenn dies in fast jeder Debatte von Inklusionsbefürwortern behauptet wird – zur Abschaffung von Förder- und Sonderschulen oder zur Auflösung eines mehrgliedrigen Schulsystems. Denn die Teilhabe behinderter Schüler am Bildungssystem ist bereits umfassend verwirklicht und gewährleistet. Die Konvention richtet sich vielmehr an Länder, die hier einen eklatanten Nachholbedarf haben und gerade nicht auf die emanzipatorische preußisch-deutsche Bildungs- und Schultradition zurückblicken können.

Zum Gesamtbild gehört nämlich auch, dass es in Deutschland bereits seit Jahrzehnten gängige Praxis ist, Schüler mit körperlichen Behinderungen, die keinen Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit haben, man denke nur an querschnittgelähmte Kinder und Jugendliche, in barrierefreien Regelschulen zu unterrichten. Die Einrichtung von Sonder- und Förderschulen für inklusiv zu beschulende Kinder, deren kognitive Leistungsfähigkeit dies sinnvoll erscheinen lässt, ist vielmehr die konsequente Weiterentwicklung eines traditionell auf Differenzierung angelegten Schulsystems. Darauf können wir in Deutschland stolz sein.

In Rheinland-Pfalz sind die Förderschulen zwar noch nicht zur Auflösung oder Abschaffung vorgesehen, sie stehen aber unter Druck. Im Protokoll der Sitzung des Bildungsausschusses vom 1. Dezember 2022 wird Ministerin Hubig wie folgt zitiert: „Im Moment sehe sie es ein bisschen mit Sorge – oder vielleicht auch nicht mit Sorge, aber sie habe es zur Kenntnis genommen –, dass es in einzelnen Bereichen einen stärkeren Zulauf zu den Förderschulen gebe. Deshalb werde man versuchen, entsprechend gegenzusteuern. Es sei wichtig, die Eltern noch besser zu beraten.

Kinder ohne Beeinträchtigung dürfen nicht ausgegrenzt werden

Tatsächlich zeigen die Daten der rheinland-pfälzischen Landesregierung, dass viele Eltern nach wie vor der Meinung sind, dass ihre Kinder an einer Förderschule am besten gefördert werden. Während im Schuljahr 2016/17 72,5 Prozent aller Schüler mit Förderbedarf eine Förderschule besuchten, waren es im Schuljahr 2022/23 73,2 Prozent. Die Förderschulen erfreuen sich also großer Beliebtheit, ihre Arbeit wird geschätzt. Die Abstimmung mit den Füßen fällt trotz Dauerberieselung durch die Landesregierung immer noch zu ihren Gunsten aus. Die Diesterwegschule in Koblenz, die ich sehr gut kenne, hat sich durch ihr vielfältiges Angebot für behinderte Kinder einen hervorragenden Ruf erworben. Der Unterricht geht genau auf die Lernbiographie der Schüler ein und ermöglicht ihnen zum Beispiel durch den therapeutischen Umgang mit Pferden und die musische Erziehung den behutsamen Aufbau einer Resilienz, die bereits in dieser Phase entscheidend für den späteren Lern- und Lebenserfolg ist.

Neben diesen Förderschulen findet die in Rheinland-Pfalz praktizierte Inklusion in sogenannten Schwerpunktschulen statt. Dort werden behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Als bildungspolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz habe ich die entsprechenden Zahlen für mein Bundesland abgefragt. Ergebnis: Schüler, die an Schwerpunktschulen gefördert werden, sind in den letzten zehn Schuljahren konstant zu 85 bis 87 Prozent dem Förderschwerpunkt „Lernen“ zugeordnet worden. Die überwältigende Mehrheit der geförderten Kinder ist also nicht im klassischen Sinne behindert, sondern nur eingeschränkt lernfähig. Die daraus resultierende große Leistungsheterogenität hemmt den Lernfortschritt der gesamten Klasse, worunter die nicht beeinträchtigten Schüler erheblich leiden. Hinzu kommt, dass Kinder – wie jeder Lehrer weiß – grausam sein können, weil es ihnen mit zunehmendem Alter an Einfühlungsvermögen und Mitgefühl fehlt. Wenn zu inkludierende Kinder auch nur unterschwellig den Eindruck vermittelt bekommen, sie seien Sonderlinge, hat dies gravierende negative Folgen für ihr Selbstbild und ihren Lernerfolg.

Darüber hinaus dürfen im Zuge der Inklusionsdebatte Kinder ohne Beeinträchtigung nicht ausgegrenzt werden. Auch sie haben ein Recht auf bestmögliche Förderung. Wenn das Bildungsniveau durch eine realitätsferne Umsetzung der Inklusion weiter sinkt, gefährden wir ihre Bildungschancen und letztlich die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Deshalb plädiere ich dafür, vielfältige Formen der Inklusion zuzulassen, zum Beispiel den Unterricht „unter einem Dach“ - in einem gemeinsamen Schulzentrum, aber in getrennten Klassen. Darüber hinaus muss Inklusion die Perspektiven aller Beteiligten (beeinträchtigte und nicht beeinträchtigte Schüler, Eltern, Lehrer, Schulen und Steuerzahler) gleichermaßen berücksichtigen.

Die Bildungsexpertin Heike Schmoll hat Recht: Die sogenannte „Schule für alle“ darf nicht zum – ideologischen und gefährlichen! – Selbstzweck werden. Es ist Aufgabe konservativer Bildungspolitik, den ideologischen Kern der Inklusionspolitik transparent zu machen, die tatsächliche Praxistauglichkeit illusionärer Inklusion zu überprüfen und schließlich eine Konzentration auf das tatsächliche Schüler- und Gemeinwohl einzufordern. Leider fehlt Experten wie Schmoll der Mut zuzugeben, dass hier nur die AfD eine konsequente und fachlich begründete Position vertritt. Wer also über Inklusion „sachlich diskutieren“ will, muss auch den Vorstoß von Björn Höcke als Debattenbeitrag aus der Landespolitik würdigen.


Zur Person:

Joachim Paul ist Abgeordneter für die AfD im Landtag Rheinland-Pfalz. Er interessiert sich für die Digital- und Bildungspolitik.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
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