Neue Gewalt in Syrien erschwert Rückführungen aus Europa
Nach dem Sturz der Regierung Assad hatten einige Beobachter eine rasche Rückkehr der Syrer in ihre Heimat für möglich gehalten. Doch die jüngste Gewaltwelle in Syrien erschwert dieses Vorhaben.
Nach der schwersten Gewaltwelle in Syrien seit dem Machtwechsel hat die Übergangsregierung eine Untersuchung der mutmaßlichen Massaker angekündigt. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte zeigt sich besorgt. Der Sprecher des Hochkommissariats (OHCHR), Thameen Al-Kheetan warnte vor einem „erschreckenden Ausmaß der Gewalt in der syrischen Küstenregion“. Seit dem 6. März habe die UN-Behörde Berichte über Massentötungen erhalten und bislang 111 zivile Todesopfer dokumentiert. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weitaus höher liegen.
Tausende Tote in alawitischen Gebieten
Laut OHCHR scheinen sich die Angriffe gezielt gegen Angehörige der alawitischen Minderheit gerichtet zu haben. In den westlichen Gouvernements Tartus, Latakia und Hama kam es demnach zu Massentötungen, die „auf konfessioneller Grundlage durchgeführt worden zu sein scheinen“. Viele der dokumentierten Fälle seien „Hinrichtungen im Schnellverfahren“ gewesen.
Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) sprach bereits am 10. März von mindestens 973 Toten. Tatsächlich seien zu einem erheblichen Teil Zivilisten, darunter ganze Familien, getötet worden, heißt es in einem Bericht.
Bewaffnete Gruppen unter Verdacht
Berichten zufolge griffen nicht identifizierte Kämpfer vor allem alawitische Städte und Dörfer an. Zeugen berichten, dass sie die Bewohner fragten, ob sie Alawiten oder Sunniten seien, um dann gezielt Menschen zu töten. In einigen Fällen seien Männer vor den Augen ihrer Familien erschossen worden.
Die Gewalt konzentrierte sich vor allem auf den 6. und 7. März. Noch ist unklar, wer für die Angriffe verantwortlich ist. Berichten zufolge könnten es Anhänger des alten Regimes gewesen sein, die Krankenhäuser in Latakia, Tartus und Baniyas angegriffen haben. Dabei wurden Patienten, Ärzte und Medizinstudenten getötet.
Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass auch bewaffnete Gruppen aus dem Umfeld der neuen Machthaber an den Massakern beteiligt waren. Tausende Alawiten haben inzwischen auf dem russischen Militärstützpunkt Hmeimim Zuflucht gesucht.
Gewalt erschwert Rückführungen nach Syrien
Die neue Regierung unter Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa war mit Unterstützung der radikalislamischen Gruppe Hay'at Tahrir al-Sham (HTS) an die Macht gekommen. Al-Sharaa selbst war früher Anführer des syrischen Al-Qaida-Ablegers, der Al-Nusra-Front. Er hat zwar angekündigt, eine inklusive Ordnung zu schaffen, doch die jüngsten Gewaltexzesse haben das Vertrauen der Minderheiten in seine Führung erschüttert.
Das OHCHR dokumentierte neben den Tötungen auch „weitverbreitete Plünderungen von Häusern und Geschäften“. Trotz des offiziellen Endes der „Sicherheitsoperation“ der Regierung komme es weiterhin zu „gelegentlichen Zusammenstößen“. Zudem warnt die UN-Behörde, dass „zunehmende Hassreden im Internet und offline“ sowie Fehlinformationen die Spannungen weiter anheizten.
UNO fordert unabhängige Ermittlungen
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, hat die Ankündigung der syrischen Übergangsregierung begrüßt, eine Untersuchung einzuleiten. Er forderte jedoch, dass diese „unverzüglich, gründlich, unabhängig und unparteiisch“ durchgeführt werden müsse. Alle Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden, um eine Wiederholung derartiger Ereignisse zu verhindern.
Die erneute Eskalation der Gewalt stellt die europäischen Pläne zur Rückführung von Syrern zunehmend in Frage. Ein Neuanfang könne nur gelingen, wenn „die Rechte aller ethnischen und religiösen Gruppen im Land respektiert werden“, warnt Hüseyin Demir, Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Human Rights Defenders. Angesichts der aktuellen Lage könnte dies jedoch in weite Ferne rücken.