Tillschneider(AfD) zu seinem Antrag: „Direktkandidaten fördern Vetternwirtschaft“

Hans-Thomas Tillschneider erklärt im Interview mit FREILICH, warum er das personalisierte Verhältniswahlrecht für gescheitert hält und eine Reform fordert. Er plädiert für ein reines Verhältniswahlsystem und kritisiert, dass Direktkandidaten die Macht der Parteien nicht einschränken, sondern festigen.

Interview von
6.9.2024
/
11 Minuten Lesezeit
Tillschneider(AfD) zu seinem Antrag: „Direktkandidaten fördern Vetternwirtschaft“

Hans-Thomas Tillschneider

© AfD

FREILICH: Herr Tillschneider, bitte erläutern Sie zunächst kurz, warum Sie sich als einer der Antragsteller ursprünglich entschlossen haben, diesen Antrag auszuarbeiten?

Tillschneider: Ich halte unser sogenanntes „personalisiertes Verhältniswahlrecht“ mit seiner Dauerkonkurrenz zwischen Listenkandidaten und Direktkandidaten für gänzlich missglückt. Es gibt andere Mischsysteme, die auch Mehrheitswahl und Verhältniswahl kombinieren, bei denen aber beispielsweise ein bestimmtes Kontingent an Parlamentssitzen über die Wahlkreise und ein anderes Kontingent über die Liste vergeben wird, ohne dass verrechnet wird (sogenanntes „Grabenwahlsystem“). In unserem System hingegen findet eine komplizierte Verrechnung statt, weil man am Grundsatz festhält, dass keine Partei durch die Wahlkreise mehr Sitze erringen darf, als ihr nach Zweitstimme zustehen. Über die Machtverhältnisse soll eben allein die Zweitstimme entscheiden. Weshalb aber leistet man sich dann noch Wahlkreise?

Björn Höcke wäre bei der Landtagswahl am 2. September um ein Haar nicht in den Thüringer Landtag eingezogen, der auch nach „personalisiertem Verhältniswahlrecht“ gewählt wird. Wenn eine Partei in diesem System mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach Zweistimme Sitze zustehen, zieht kein Listenkandidat ein. Wenn dann der Spitzenkandidat seinen Wahlkreis nicht gewinnt, bleibt er draußen, auch wenn er auf Platz 1 der Liste steht. Aufgrund dieser Befürchtung ist Björn Höcke schon nicht in seinem Heimatwahlkreis angetreten, den die CDU dominiert, sondern hat sich in einem anderen für AfD-Kandidaten aussichtsreichen Wahlkreis aufstellen lassen.

Die Altparteien haben das natürlich bemerkt und haben vereinbart, gerade in dem Wahlkreis, in dem Höcke angetreten ist, gemeinsam den CDU-Mann zu unterstützen. Die Rechnung ging auf: Der CDU-Mann segelte mit über 40 Prozent an Höcke vorbei, der seinen Wahlkreis nicht gewonnen hat. Höcke hatte zwar Glück, weil gerade noch drei Listenplätze zogen, hätte aber der Landesvorstand der AfD-Thüringen im Vorfeld der Wahl nicht klugerweise zwei Direktkandidaten die Einreichung verweigert und hätte die AfD noch ein Direktmandat mehr gewonnen, hätte die Liste nicht gezogen und Björn Höcke säße heute nicht im Landtag!

Ich glaube, ich muss nicht betonen, dass das für die AfD Thüringen die größte denkbare Katastrophe gewesen wäre. Eine AfD-Fraktion in Thüringen ohne die unumstrittene Führungsfigur und das Gesicht der AfD Thüringen wäre implodiert. Ein Wahlsystem aber, das solche Spielchen ermöglicht und solche absurden Konsequenzen hat, taugt nichts. Unser Antrag wiederum hat die Möglichkeit genutzt, durch bewussten Verzicht auf Direktkandidaten das Wahlsystem heute schon für uns zur reinen Verhältniswahl umzugestalten. Ein Vorgehen, das nach verbindlicher Auskunft der Landeswahlleiterin selbstverständlich im Belieben der Parteien steht und rechtlich nicht im Geringsten zu beanstanden ist!

Werden wir mal konkreter: Im Antrag wird behauptet, dass viele Bürger das Wahlsystem mit Erst- und Zweitstimme nicht verstehen. Wie rechtfertigen Sie die Entscheidung, das Problem durch Verzicht zu lösen? Könnte das Problem nicht durch mehr Bildung gelöst werden?

Unser Wahlsystem ist für den Normalbürger, der sich nicht tagein, tagaus mit Politik befasst, schlicht zu kompliziert. Diesen Umstand hat schon das Bundesverfassungsgericht 2008 gerügt und verlangt, „das für die Wähler kaum noch nachvollziehbare Regelungsgeflecht auf eine normenklare und verständliche Grundlage zu stellen.“ Ein Anspruch, der bislang nicht eingelöst wurde!

Mehr Bildung würde dem Problem sicherlich entgegenwirken, wir können den Bürger aber nicht zu politischer Bildung zwingen und so etwas Grundlegendes wie das Wahlsystem muss ohne größere Bildungsvoraussetzungen für jedermann verständlich sein. Deshalb plädiere ich mit Nachdruck für ein reines Verhältniswahlsystem. Jeder Bürger hat eine Stimme, die Parlamentssitze werden unter den Parteilisten im Verhältnis ihres Wahlergebnisses verteilt. Basta. Nach diesem Wahlsystem verfahren nicht ohne Grund die meisten Länder in Europa und der Welt.

Aber sehen Sie im Verzicht auf Direktkandidaten nicht eine Schwächung der demokratischen Legitimation und der regionalen Repräsentation im Bundestag?

Überhaupt nicht. Woher kommt nur der Mythos, Direktkandidaten seien besonders gut demokratisch legitimiert? Ein Listenkandidat wird vom Landesparteitag gewählt – eine Versammlung, zu der mehrere hundert Mitglieder aus allen Landesteilen kommen oder besser noch Delegierte, die in den Kreisen gewählt wurden und den Landesverband in seiner Gesamtheit repräsentieren. Ein Wahlkreiskandidat dagegen wird von einer Versammlung aufgestellt, die nur aus den Parteimitgliedern besteht, die im Wahlkreis leben, oft nur zwanzig, dreißig Personen. Darunter sind dann größtenteils auch noch einige Verwandte und Bekannte des Kandidaten. Wenn irgendwo die Cliquen- und Vetterleswirtschaft eine Chance hat, dann doch wohl hier. Personen, die sich mangels Sachkompetenz, Charisma oder rhetorischen Fähigkeiten niemals auf der großen Bühne eines Landesparteitags durchsetzen würden, haben deutlich bessere Chancen bei einer Aufstellungsversammlung im Wahlkreis.

Ein häufig gehörter Vorwurf besagt, wir seien ohne Direktkandidaten nicht besser als die Altparteien. So, als sei das Aufstellen von Direktkandidaten ein Garant demokratischer Authentizität und etwas, was den Altparteien fremd sei. Blödsinn! Der schlimmste Altparteienfilz – man denke an die SPD früher im Ruhrgebiet oder die CSU in Bayern oder die CDU der 1970er und 1980er in Baden-Württemberg – war ein Filz aus Direktkandidaten.

Nebenbei bemerkt: Da die relative Mehrheit reicht, gewinnen Direktkandidaten ihren Wahlkreis oft schon mit nur 30 Prozent und sogar noch weniger. Die anderen Stimmen – 70 Prozent und mehr – verfallen wirkungs- und repräsentationslos. Das ist ein großes, in Rechts- und Politikwissenschaft viel diskutiertes demokratisches Defizit der Direktwahl.

Und was die regionale Repräsentation angeht, so ist sie im Bundestag schon allein dadurch gewährleistet, dass es keine große Bundesliste gibt wie bei der Europawahl, sondern die Parteien mit 16 verschiedenen Landeslisten zur Bundestagswahl antreten. Außerdem kann und sollte bei der Aufstellung einer solchen Liste natürlich darauf geachtet werden, dass die Kandidaten auch innerhalb eines Bundeslandes gleichmäßig über das gesamte Gebiet verteilt sind.

Ein interessanter Gedanke. Aber drehen wir den Spieß um: Sind Direktkandidaten nicht ein wirksames Instrument, um die Macht der Parteien zu begrenzen?

Im Gegenteil. Überall dort, wo ein reines Mehrheitswahlrecht besteht, also ein Wahlsystem ohne Liste, nur mit Wahlkreisen wie in den USA und Großbritannien, etabliert sich in aller Regel ein starres Zwei-Parteien-System. Die USA werden seit Mitte des 19. Jahrhunderts (!) von Demokraten und Republikanern beherrscht; ähnlich ist es in Großbritannien mit den Tories und der Labour Party. Um einen Wahlkreis zu gewinnen, muss ein Kandidat einer der beiden Parteien angehören.

Das ist bei unseren Direktwahlkreisen nicht anders. In der Theorie sollen hier zwar auch parteifreie Bewerber eine Chance bekommen, doch seit 1953, als das Wahlsystem in heutiger Form eingeführt wurde, hat es kein parteifreier Einzelbewerber mehr in den Bundestag geschafft. Selbst eine solche Persönlichkeit wie Martin Hohmann, der 2002 den Bundestagswahlkreis Fulda mit 54 Prozent gewann, erzielte nach seinem Rauswurf aus der CDU bei der Bundestagswahl 2005 in demselben Wahlkreis als parteifreier Bewerber nur noch magere 21,5 Prozent, während der weitestgehend unbekannte Parteisoldat, den die CDU gegen ihr EX-Mitglied Hohmann aufbot, den Wahlkreis mit 39,1 Prozent gewann. 2017 zog Martin Hohmann dann wieder in den Bundestag ein – über die Landesliste Hessen der AfD!

Besser kann man die Bedeutung der Parteien auch und gerade für die Direktwahl kaum veranschaulichen. Also: Wahlkreiskandidaten schränken die Parteienmacht nicht ein, sie zementieren sie. Nichts wiederum kann die Macht einer Partei so effektiv einschränken wie eine andere Partei. Während das Mehrheitswahlrecht neue Parteien klein hält, weil deren Kandidaten kaum eine Chance haben, auf Anhieb Wahlkreise zu gewinnen, erleichtert das Verhältniswahlrecht den Aufstieg neuer Parteien und den Abstieg verbrauchter Parteien. Es ist somit nicht nur gerechter als das Mehrheitswahlrecht, weil abgesehen von der Einzugshürde keine Stimmen verfallen; es garantiert auch am ehesten, dass die herrschenden Parteien Konkurrenz bekommen. Im Mehrheitswahlrecht dagegen können Parteien, einmal etabliert, sich jede weitere Konkurrenz bequem vom Leib halten.

Es wird berichtet, unter anderem von der Jungen Freiheit, dass die Entscheidung, keine Direktkandidaten aufzustellen, aus der Befürchtung heraus getroffen wurde, die Listenplätze könnten sonst nicht durchgesetzt werden. Wie stehen Sie zu dem Vorwurf, dass hier parteitaktische Überlegungen über andere Interessen gestellt werden?

Die Junge Freiheit (JF) hat einseitig die Perspektive und die Wertungen der Gegner des Antrags übernommen, was dieser Zeitung, die ja schon auf der Seite von Lucke, Petry und Meuthen in parteiinterne Auseinandersetzungen eingegriffen hat, wieder mal ein sehr schlechtes Zeugnis ausstellt. Uns, die Antragsteller, hat niemand von der JF für eine Stellungnahme kontaktiert. Das ist kein guter Journalismus.

Jetzt aber zur Sache: Natürlich ging es auch darum, eine Mannschaft aufzustellen, die später eine schlagkräftige Truppe bildet. Dazu muss man aber wissen, wer Teil dieser Mannschaft sein wird.

Die Bundestagsgruppe der AfD-Sachsen-Anhalt bestand nach den Wahlen 2021 aus zwei Listenkandidaten und zwei direkt gewählten Kandidaten. Einer der Direktwahlkreissieger war Robert Farle, ein wenig verlässliches, hochgradig undiszipliniertes und dabei zunehmend seniles Ex-Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei, der vom Landesparteitag ganz bewusst nicht auf die Liste gewählt wurde. Die Parteimitglieder auf Landesebene waren nicht durch persönliche Näheverhältnisse für ihn eingenommen, kannten ihn aber und wussten, dass das mit Robert nicht gut gehen wird.

In seinem kleinen Kreis aber hat er es geschafft, aufgestellt und gewählt zu werden. Von Anfang an hat er die Arbeit der Bundestagsfraktion gestört und hat die Fraktion schließlich im Streit verlassen. Wäre an seiner Stelle der Listenkandidat Nr. 3 eingezogen, wäre das ganz sicher nicht passiert. Das ist ein Einzelfall, aber es ist ein exemplarischer Fall. Ich denke, solche Fälle vermeiden zu wollen, ist ein legitimes Interesse. Eine Partei will ihr Programm im Parlament durch möglichst geschlossene und professionelle Arbeit präsentieren und durchsetzen. Das ist sie vor allem dem Wähler schuldig!

Als Beispiel taugt übrigens auch ein Vergleich der Landtagsfraktionen in Sachsen-Anhalt 2016 und 2021. Die Fraktion 2016 hatte einen hohen Anteil von Graswurzel-Direktkandidaten, die nicht auf der Liste standen, und diese Fraktion war – mit Verlaub – ein Sauhaufen. Interner und öffentlicher Streit war an der Tagesordnung; der Fraktionsvorstand wurde während der Legislatur mehrmals neu gewählt; Abgeordnete taten sich mit Referenten zusammen und bekämpften andere Abgeordnete. Insgesamt vier Abgeordnete verließen Fraktion und Partei, übrigens alles Direktkandidaten. 2021 waren wir dann – wen wundert’s – einige Prozentpunkte schlechter als 2016, was sich jedoch als Glück im Unglück herausstellte. Dies nämlich und der Umstand, dass die CDU sich als große Retterin vor der AfD verkaufen konnte, führte dazu, dass die aktuelle AfD-Fraktion, die nach den Wahlen 2021 gebildet wurde, ausschließlich aus Listenkandidaten besteht. Wir errangen nur noch ein Direktmandat, der betreffende Abgeordnete wäre aber auch über die Liste eingezogen. Und diese Fraktion arbeitet unter der Doppelspitze Kirchner/Siegmund ruhig, sachlich und zunehmend professionell, dass es eine wahre Freude ist! Oder haben Sie schon von Streit aus der aktuellen AfD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt gehört?

Der Kreisverband Mansfeld-Südharz hat den Antrag heftig kritisiert und betont, dass Direktkandidaturen wichtiger seien als Listenplätze. Wie sind Sie mit dieser internen Kritik umgegangen?

Leider gab es kaum sachliche und interne Kritik, dafür umso mehr öffentliche persönliche Angriffe, Pöbeleien und wirklich beschämende Dummheiten. Noch schlimmer als einige – nicht alle! – Figuren aus dem bezeichneten Kreisverband hat sich dabei ein Bundestagsabgeordneter aus Niedersachsen hervorgetan, der allen Ernstes meinte, zur Rettung der Demokratie per Video meinen Parteiausschluss fordern zu müssen. Das sind mir feine Demokraten, die jemanden dafür ausschließen wollen, dass er zusammen mit anderen von seinen Mitgliedsrechten Gebrauch machen und einen Antrag auf einem Landesparteitag einbringen möchte! Für sachliche Kritik und eine echte Diskussion wären wir sehr dankbar gewesen. Genau eine solche Diskussion wollten wir ja anstoßen. Wir scheuen den Disput nicht, denn wir glauben an die Macht des besseren Arguments im fairen Meinungsstreit.

Sind Sie der Meinung, dass dieser Antrag auch in anderen Bundesländern Nachahmer finden wird?

Wir in Sachsen-Anhalt mischen uns nicht in andere Landesverbände ein und hätten es deshalb gerne, wenn man sich auch nicht bei uns einmischt. Die Frage, ob man mit Direktkandidaten zur Bundestagswahl antritt oder nicht, ist eine Frage, die jeder Landesverband für sich beantworten muss. Möglicherweise hatten Inhaber von Direktwahlkreispfründen in anderen Landesverbänden Angst, dass diese Idee dort aufgegriffen wird. Das war aber nicht unsere Intention.

Ich denke allerdings, dass sich über kurz oder lang ein reines Verhältniswahlrecht oder zumindest ein Grabenwahlrecht durchsetzen wird, und zwar schon allein wegen der jüngsten Novellierung des Bundeswahlgesetzes. Um den Ausgleich der überzähligen Direktmandate (= Überhangmandate) durch sogenannte Ausgleichsmandate und damit die leidige Aufblähung des Bundestags zu unterbinden, ist die Ampel-Regierung auf die glorreiche Idee gekommen, die Überhangmandate kurzerhand zu streichen und dabei nicht einmal nach dem Prozentsatz, sondern nach der absoluten Stimmenzahl zu gehen. Es werden diejenigen Wahlkreissieger mit den wenigsten absoluten Stimmen gestrichen, wodurch kleine Wahlkreise per se benachteiligt sind. Auf Dauer werden die Parteien dieses groteske Spiel nicht mitmachen.

Ein Beispiel: Wenn die CSU in Bayern von allen 47 Wahlkreisen 45 gewinnt, aber bei der Zweitstimme, sagen wir 35 Prozent holt, dann müssten nach vorläufiger Abschätzung zwölf von 45 Wahlkreissiegern annulliert werden. Man stelle sich diese zwölf Wahlkreissieger vor, wie man sie von der CDU/CSU kennt. Die üblichen Großmäuler, geborene Platzhirsche, die Brust voll überbordenden Geltungsdrangs, und dann wird ihnen erklärt: „Ihr habt Euch jahrelang geplagt, tausende Euro in den Wahlkampf gesteckt und am Ende auch den Wahlkreis gewonnen, aber leider ist die absolute Stimmenzahl zu gering, und deshalb werdet Ihr keine Abgeordneten!“ Ich denke, solche Erfahrungen werden sehr schnell eine Reform des Bundeswahlgesetzes provozieren, die dann in ein Grabenwahlsystem oder in eine reine Verhältniswahl mündet.

Es wäre jedenfalls an der Zeit, dann das herrschende „personalisierte Verhältniswahlrecht“ ist für ein System aus zwei großen Volksparteien gemacht, wie es mit CDU/CSU und SPD in der alten BRD jahrzehntelang gegeben war. Spätestens aber mit dem Aufstieg der AfD und erst recht jetzt mit der weiteren Auffächerung der Parteienlandschaft durch das BSW funktioniert das „personalisierte Verhältniswahlrecht“ nicht mehr und gehört abgeschafft. 

Angenommen, der Antrag wäre erfolgreich gewesen. Wie würden Sie den Wählern in Sachsen-Anhalt erklären, dass sie möglicherweise keinen regionalen Vertreter der AfD im Bundestag haben werden?

Würden wir ohne Direktkandidaten antreten, hätte Sachsen-Anhalt genau, aber auch wirklich genauso viele AfD-Vertreter im Deutschen Bundestag wie, wenn wir mit Direktkandidaten antreten würden. Nochmal: Darüber, wie viele Vertreter eine Partei entsendet, entscheidet nach wie vor einzig und allein die Zweit- bzw. Listenstimme, die im ersten Entwurf des neuen Bundeswahlgesetzes übrigens „Hauptstimme“ heißen sollte, dann aber wieder umbenannt wurde, um den prekären Status der Erststimme besser verschleiert zu lassen. Der einzige Unterschied, wenn wir ohne Direktkandidaten antreten würden, wäre: Ein demokratisch astrein legitimierter Landesparteitag und eben nicht König Zufall hätte festgelegt, wer von der AfD für Sachsen-Anhalt in den Bundestag einzieht.

Glauben Sie, dass der Verzicht auf Direktkandidaten das Vertrauen in die AfD als politische Kraft in der Region stärkt oder schwächt?

Ich war neulich Gast bei einem Parteitag des AfD-Kreisverbandes Börde. Dort waren 32 Parteimitglieder versammelt. Wir diskutierten das Thema Direktkandidaten und der Kreisvorsitzende fragte in die Runde, wer denn der direkt gewählte Abgeordnete in der Region sei. Nur zwei wussten die richtige Antwort: Dr. Franziska Kersten von der SPD, eine ganz klassische Hinterbänklerin und Direktkandidatin, die nicht gewählt wurde, weil sie als Person überzeugt hätte, sondern ganz einfach, weil zum Zeitpunkt der Wahl die SPD ein Hoch hatte.

Drei vermuteten fälschlicherweise, ihr Abgeordneter sei ein CDU-Mann. Alle anderen hatten keinen blassen Schimmer, wer ihren Wahlkreis gewonnen hat. Und dabei waren das Parteimitglieder, bei denen man ein gesteigertes Interesse für Politik vermuten könnte. Ich will nicht wissen, wie es bei Nichtparteimitgliedern aussieht. Kurzum: Der regionalen Verwurzelung ist am besten gedient, wenn eine Partei mit den strengen Qualitätsmaßstäben, wie sie auf einem Landesparteitag üblich sind, erfahrene Politikerpersönlichkeiten aufstellt, die es verstehen, sich in ihrer Region einen Namen zu machen und die Partei vor Ort gut zu repräsentieren. Ein farbloser Hinterbänkler nützt auch dann nichts, wenn er sich „Wahlkreissieger“ nennen kann.

Warum wurde letztendlich der Antrag nicht gestellt?

Leider wurde die Diskussion von einigen Akteuren dermaßen vergiftet, dass eine sachliche Auseinandersetzung nicht mehr möglich war. Wir wollten, obwohl sich eine Mehrheit für den Antrag abzeichnete, niemanden überrumpeln und es nicht auf eine Machtprobe ankommen lassen, sondern durch gute Argumente überzeugen. Deshalb haben wir im Sinne der Sache und des Parteifriedens den Antrag von der Tagesordnung nehmen lassen.

Herr Tillschneider, vielen Dank für Ihre Antworten!

Über den Autor

Bruno Wolters

Bruno Wolters wurde 1994 in Deutschland geboren und studierte Philosophie und Geschichte in Norddeutschland. Seit 2022 ist Wolters Redakteur bei Freilich. Seine Interessengebiete sind Ideengeschichte und politische Philosophie.

Kann FREILICH auf Ihre Unterstützung zählen?

FREILICH steht für mutigen, konservativ-freiheitlichen Journalismus, der in einer zunehmend gleichgeschalteten Medienlandschaft unverzichtbar ist. Wir berichten mutig über Themen, die oft zu kurz kommen, und geben einer konservativen Öffentlichkeit eine starke Stimme. Schon mit einer Spende ab 4 Euro helfen Sie uns, weiterhin kritisch und unabhängig zu arbeiten.

Helfen auch Sie mit, konservativen Journalismus zu stärken. Jeder Beitrag zählt!