Von der gelebten Demokratie zur Demokratiesimulation
In einer Demokratie sollte die politische Macht vom Volk ausgehen, doch die zunehmende Entkoppelung von Wählerwillen und Regierungsbildung höhlt das parlamentarische System aus, kritisiert Frank-Christian Hansel.
Obwohl die AfD bei der Bundestagswahl auf Platz zwei gelandet ist, will die CDU als Wahlsieger lieber mit der drittplatzierten SPD koalieren.
© IMAGO / Political-MomentsDemokratie lebt vom Vertrauen in den Wechsel, von der Möglichkeit, Regierungen abzuwählen und politische Richtungen zu korrigieren. Sie lebt von Repräsentation – nicht als Symbolhandlung, sondern als reale Abbildung des Mehrheitswillens. Doch dieses Versprechen ist in Gefahr. Nicht durch Umsturz oder Putsch, sondern durch schleichende Entkernung.
Äußere Form bleibt, politische Substanz weicht
Wir erleben die Transformation einer parlamentarischen Ordnung, die sich von der aktiven Repräsentation des Volkes hin zu einem System simulierten Pluralismus entwickelt hat – funktional, formal korrekt, institutionell intakt, aber entleert von echter Mitbestimmung.
In einer gelebten Demokratie ist der Souverän Ursprung politischer Macht. Doch im deutschen System wählt der Bürger keine Regierung, sondern Parteien. Diese Konstellation ermöglicht eine eigentümliche Verschiebung: Nicht mehr der politische Wille entscheidet über Regierungsbildung, sondern Koalitionsarithmetik. So entstehen nach Wahlen regelmäßig Verliererkoalitionen – rechnerisch mögliche Bündnisse aus Parteien, die einzeln teils massive Verluste erlitten haben und programmatisch gegeneinander angetreten sind. Ihr Ziel: Macht sichern, nicht repräsentieren.
Das demokratische Prinzip – Regierung auf Zeit durch Mandat – wird ersetzt durch Selbstermächtigung per Koalitionslogik. Wer Mehrheiten zählen kann, regiert. Ob diese Mehrheit vom Wähler so gewollt ist, tritt hinter das Systeminteresse der Parteien zurück.
Die Betonierung der Macht
An die Stelle demokratischer Offenheit tritt das Prinzip strategischer Abschottung. Ganze Parteien werden pauschal exkludiert, nicht etwa durch inhaltliche Auseinandersetzung, sondern durch moralische Diskreditierung: „Mit denen redet man nicht“, „Diese Partei ist indiskutabel“, „Die Brandmauer steht“. Was ursprünglich als Schutz der Demokratie gedacht war, wird zunehmend zur Brandmauer gegen den Wählerwillen selbst. Der Effekt: Eine verfestigte Koalitionslandschaft, in der der politische Wechsel faktisch unmöglich wird. Der Souverän kann abstimmen – aber nicht mehr entscheiden.
Machtverlagerung: Vom Parlament zur Verwaltung
Parallel dazu verschiebt sich die politische Steuerungsebene. Parlamente werden zur Bühne, Entscheidungen fallen woanders – in Ministerien, in Gremien der EU, in Expertenräten und NGOs. Diese Akteure besitzen keine direkte demokratische Legitimation, üben aber faktisch Legislative und Exekutive zugleich aus. Das Parlament ist noch anwesend, aber es bestätigt nur noch, was längst in kleinen Zirkeln vorentschieden wurde. Deliberation wird ersetzt durch Verwaltung, Diskussion durch Verfahrensvollzug. Und der Abgeordnete? Wird zum Erfüllungsgehilfen parteipolitischer Linien oder zum medial inszenierten Akteur – nicht mehr zum eigentlichen Vertreter des Volkes.
Die Rolle der Medien: Pluralismus als Inszenierung
Die vierte Gewalt in der Demokratie – die Medien – spielt in dieser Simulation eine ambivalente Rolle. Einerseits berichten sie über Missstände, andererseits stabilisieren sie den Eindruck eines funktionierenden Systems.
An die Stelle von echter Kritik tritt oft eine Ritualkritik, die die grundlegende Struktur nicht in Frage stellt. Wer das Spiel durchschaut und ausspricht, dass hier nicht mehr Demokratie praktiziert, sondern simuliert wird, läuft Gefahr, aus dem Diskursraum ausgeschlossen zu werden – etikettiert als Populist, Demokratiefeind oder Extremist. Was sich hier abzeichnet, ist kein Versehen, sondern eine neue Form politischer Organisation. Der Souverän bleibt Zuschauer, das System agiert unter sich.
Demokratie wird nur noch dargestellt
Es bleibt eine Oberfläche: Wahlen, Parteitage, Parlamentsdebatten. Doch darunter ist der Handlungsspielraum eingefroren. Die Opposition darf sprechen, aber nicht gestalten. Die Regierung darf entscheiden, aber nicht mehr führen – sie „moderiert“ Verwaltung und Verordnungen. So entsteht eine postdemokratische Ordnung, in der alles bleibt, wie es ist, weil niemand mehr gestalten darf – außer jenen, die längst außerhalb demokratischer Kontrolle agieren.
Eine Demokratie, die sich selbst ernst nimmt, muss wechselbereit, offen und streitbar bleiben. Wenn Koalitionen nur noch nach der Logik des Machterhalts gebildet werden, wenn Parlamente entkernt und der Diskurs moralisch reguliert wird, dann ist das Fundament gefährdet – nicht durch Radikale, sondern durch die Routine. Eine Demokratie, die sich gegen das Volk schützt, schützt nicht sich selbst – sie schafft sich schleichend ab.