Warum Wiens SPÖ-Chef Michael Ludwig zu Erdoğan schweigt
Während der „Wertewesten“ gegen die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu tobt, bleibt Wiens SPÖ-Chef Michael Ludwig stumm. Was sind die Hintergründe des Schweigens und wie wirkt sich das auf die SPÖ aus?
Ludwig kann bei der bevorstehenden Wien-Wahl Ende April auf zahlreiche Stimmen aus der wahlberechtigten türkischen Community hoffen.
© IMAGO / SEPA.MediaIn der Türkei lodern die Straßen: Tausende Menschen aus dem liberalen und linken Spektrum demonstrieren gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Proteste erreichen eine Intensität, wie sie das Land seit über einem Jahrzehnt nicht erlebt hat. Gefordert wird unter anderem die Freilassung von Ekrem İmamoğlu, dem suspendierten Bürgermeister Istanbuls. Dieser wurde am 19. März 2025 wegen „Korruption und Terrorunterstützung“ verhaftet. Die Vorwürfe werden von der türkischen Opposition und weiten Teilen des Westens als politisch motivierter Angriff auf einen gefährlichen Rivalen Erdoğans gewertet werden. Während sich Sozialdemokraten europaweit auf der Seite İmamoğlu positionieren, bleibt eine Stimme auffällig still: Michael Ludwig, der Bürgermeister Wiens.
Tobender Wertewesten, stilles Wien
Die Reaktionen aus der europäischen Sozialdemokratie sind eindeutig. Bürgermeister großer Städte wie Paris, Amsterdam, Barcelona und Zagreb verurteilten die Verhaftung scharf. Kata Tüttő, sozialistische Präsidentin des Europäischen Ausschusses der Regionen, sprach von einem „katastrophalen Tag für die Demokratie in der Türkei“. Auch in Deutschland meldeten sich Politiker wie Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Inhaftierung als „bedrückend für die Demokratie“ bezeichnete, und SPD-Chef Lars Klingbeil, der von einem „schweren Angriff“ auf demokratische Werte sprach. Sogar SPÖ-Chef Andreas Babler zeigte klare Kante und solidarisierte sich mit seinem türkischen Genossen İmamoğlu. Doch aus dem Wiener Rathaus: Schweigen.
Ludwigs Zurückhaltung wirft Fragen auf. Warum positioniert sich der Bürgermeister einer europäischen Metropole, die sich als Hort sozialdemokratischer Werte versteht, nicht gegen einen autoritären Machthaber? Die Antwort liegt weniger in ideologischen Überzeugungen als in pragmatischer Wahlstrategie – und einem heiklen Spagat innerhalb der Wiener SPÖ.
Die türkische Community als konservatives Wählerreservoir
Wien beherbergt eine der größten türkischen Diasporagemeinden Europas. Rund 70.000 Menschen türkischer Herkunft leben in der Stadt, viele davon mit österreichischer Staatsbürgerschaft. Sie sind also auch wahlberechtigt. Doch diese Wählerbasis unterscheidet sich stark vom klassischen SPÖ-Milieu der urbanen Linksliberalen oder der schwindenden sozialdemokratischen Arbeiterschaft.
Studien, wie etwa die des Österreichischen Integrationsfonds, zeigen, dass die türkische Community in Österreich tendenziell konservativ-religiös und patriotisch eingestellt ist. Bei den türkischen Präsidentschaftswahlen 2023 votierten 74 Prozent der in Österreich lebenden Türken für Erdoğan – ein Rekordwert innerhalb der weltweiten türkischen Diaspora. Ihr Lebensstil ist oft traditioneller, die Religion spielt eine größere Rolle, und der wirtschaftliche Erfolg bleibt im Schnitt hinter dem österreichischen Durchschnitt zurück. Für die SPÖ bedeutet dies eine Herausforderung: Eine klare Verurteilung Erdoğans könnte diese Wähler verprellen – ein Risiko, das Ludwig offenbar nicht eingehen will.
Wahlkampf mit Grauen Wölfen und UID-Unterstützung
Ein Blick auf die politische Praxis der Wiener SPÖ verdeutlicht diesen Balanceakt. Ein prominentes Beispiel ist Aslıhan Bozatemur, eine türkischstämmige SPÖ-Politikerin, die bei der Wien-Wahl 2020 aus dem Stand 3.571 Vorzugsstimmen erhielt – mehr als fast alle anderen Kandidaten außer Ludwig (17.114) und Sozialstadtrat Peter Hacker (4.482). Ihr Erfolg wurde vielfach mit der Unterstützung der Union Internationaler Demokraten (UID) verknüpft, einer Lobbyorganisation der AKP, die in Österreich als verlängerter Arm Erdoğans gilt. Bozatemur, heute Gemeinderätin und Referentin für Internationales im Büro Ludwigs, posierte zudem bei Wahlkampfveranstaltungen mit Mitgliedern der Grauen Wölfe, einer türkisch-nationalen Bewegung. Öffentliche Kritik oder Distanzierung von der SPÖ? Fehlanzeige.
Auch in anderen Fällen zeigte sich Ludwigs Zurückhaltung. Als Ali Çankaya, Präsident der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Wien, 2024 an der Ausreise aus der Türkei gehindert und wegen angeblicher Terrorunterstützung festgehalten wurde, blieb eine Reaktion aus dem Rathaus aus. Diese Beispiele nähren den Vorwurf, dass die SPÖ ihre „fortschrittlichen Werte“ wahlstrategischen Interessen opfert.
Ein Widerspruch mit Konsequenzen
Die SPÖ sieht sich als progressive, pro-westliche Partei – ein Selbstbild, das sie in Wahlkämpfen regelmäßig betont. Doch die Realität in Wien zeigt ein anderes Bild: Nämlich das einer Partei, die sich mit konservativ-religiösen und nationalistischen Strömungen arrangiert, um ihre Machtbasis zu sichern. Dieser Widerspruch führt zu Spannungen innerhalb der Sozialdemokratie. Während Babler auf Bundesebene klare Kante gegen Erdoğan zeigt, bleibt Ludwig auf lokaler Ebene vorsichtig – ein Konflikt, der die Einheit der Partei gefährden könnte.
Die Proteste in der Türkei gehen derweil weiter. Hunderttausende forderten am 29. März 2025 in Istanbul die Freilassung İmamoğlus, und die CHP hat ihn trotz seiner Haft zum Präsidentschaftskandidaten für 2028 gekürt. Für den „Wertewesten“ ist die Verhaftung ein weiterer Beleg für Erdoğans autokratische Herrschaft. Doch in Wien bleibt die Reaktion aus – ein Schweigen, das mehr über wahlpolitische Kalküle aussagt als über ideologische Prinzipien. Ludwig mag damit kurzfristig Wählerstimmen sichern, doch langfristig riskiert er, das Vertrauen in die sozialdemokratischen Werte seiner Partei zu untergraben.