Das 19. Jahrhundert ist vorbei – Gedanken zum Tod der englischen Königin
Dass mit dem Tod Elisabeth II. eine Ära zu Ende gegangen sei, konnte man zur Genüge hören. Nun, jeder, der alt wird, wird automatisch zur lebenden Verbindung in die Vergangenheit. Dass diese Verbindung mit dem Tod eines Menschen reißt, ist eines der egalitärsten Phänomene der Welt. Die Menschen haben gespürt, dass mehr vergangen ist als eine alte Frau – daher der Schock.
Dieses Gefühl konnte sich im Banalen ausdrücken. Ich selbst erfuhr vom Tod der britischen Königin, als plötzlich das Chatfenster eines Videospiels – anstelle des üblichen Smacktalks – voller Meldungen über ihren Tod war.
Denn nicht das 20. Jahrhundert wird mit Elisabeth II. zu Grabe getragen, sondern das 19. Und das ist mehr, viel viel mehr. Das 20. Jahrhundert – dies sei bemerkt – ist quicklebendig. Allein die Unfähigkeit fast aller Zeitgenossen, den derzeitigen Krieg in der Ukraine in anderen Kategorien als in denen der Weltkriege und des Kalten Krieges zu begreifen, genügt als Lebenszeichen.
Eine Prägung aus dem 19. Jahrhundert
Elisabeth II. aber war die letzte Person des öffentlichen Lebens, die ihrer Prägung nach noch aus dem 19. Jahrhundert stammt. Anders als das 20. Jahrhundert trennt das 19. vom 21. nicht bloß die Namen der Stars und Sternchen, dass man Ariana Grande durch Marlene Dietrich ersetzen müsste. Mit Elisabeth II. geht die letzte lebende Erinnerung Europas an eine Epoche, die in einem Ausmaß zivilisiert war, das wir uns heute schwer vorstellen können. Wenn man von der Würde der Königin spricht – davon, dass es ihr gelang, sieben Jahrzehnte auf der Bühne der Öffentlichkeit zu stehen, ohne dass man sich an einen einzigen Fehltritt erinnern könnte, dann spricht daraus eben diese zivilisierte Form, die sich einmal in allen Bereichen des öffentlichen und vielen des privaten Lebens ausdrückte.
Zu dieser Form könnten wir auch dann nicht zurückkehren, wenn wir auf einmal alle konservativ würden und uns darüber einigten, dass 1968ff. eine einzige Folge von Fehlentwicklungen war. Gleichzeitig sind wir insofern noch von dieser Form geprägt, dass wir unsere Erwartungen an die Gesellschaft auch an der Vergangenheit ausrichten: Von der Funktionstüchtigkeit der Verwaltung, über eine enge Begrenzung von Kriminalität und Korruption bis hin zu denjenigen Normen der Humanität, welche nur für einen kurzen Abschnitt europäischer Geschichte normal waren.
Faszinosum England
Es ist kein Zufall, dass die letzte Repräsentantin dieser Ära aus England kam. Der Wandel der Eliten verlief auf der Insel kontinuierlich, ohne große Brüche und auch wenn es angesichts von Gestalten wie Boris Johnson und Liz Truss absurd ist, vom Stil britischer Politik zu schwärmen, was mancher ahnungslose deutsche Konservative ja noch bis über die Jahrtausendwende hinweg tat, so haben sich doch noch lange Zeit Traditionsbestände erhalten, die auf dem Kontinent allenthalben hinweggefegt wurden und das bei weitem nicht nur in der Politik. Darin liegt das nostalgische Faszinosum Englands für den Kontinentaleuropäer und ich frage mich, wie vielen woken Millenials eigentlich bewusst ist, dass dies der Zauber ist, der sie noch im „Harry Potter“ für sich einnahm.
Haben in den romanischen Ländern, Frankreich, Italien und Spanien Revolutionen und Bürgerkriege die alten Eliten vernichtet und haben im Osten Europas die Bolschewisten Kahlschlag gemacht, so ist dennoch Deutschland der extremste Gegensatz des britischen Falls. In Deutschland erreichten die alten Eliten das 20. Jahrhundert weitgehend intakt. 1945 waren ihre Reste bedeutungslos. Die Tragödie der Verschwörer um Stauffenberg und Tresckow erhält ihre Tiefe erst dadurch, dass diese Männer so völlig aus der Zeit gefallen waren.
Aufrechnende Stimmen erinnern daran, dass die Regierungsjahre Elisabeths II. Jahrzehnte eines unvergleichlichen Niedergangs nicht nur des ehemals großen Britanniens, sondern ganz Europas waren. Ob wir am Ende europäischer Größe stehen, wird erst die Zukunft zeigen. Doch mit der Erfahrung der Katastrophe anstatt der des Verfaulens, blickt man aus Deutschland nach London, wenn dort der letzte Rest einer Zeit zu Grabe getragen wird, die ohne jeden Kitsch die gute alte Zeit war, die nicht wiederkehren wird.
Zur Person:
Johannes K. Poensgen, geboren 1992 in Aachen, studierte zwei Semester Rechtswissenschaft in Bayreuth, später Politikwissenschaft und Geschichte in Trier. Erreichte den Abschluss Bachelor of Arts mit einer Arbeit über die Krise der Staatsdogmatik im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Befasste sich vor allem mit den Werken Oswald Spenglers und Carl Schmitts.