Exklusiv vor Ort: Kiew im Krieg
Nach kurzem Aufenthalt in Bila Zerkwa nahmen unsere Reporter die nächste Station der Reise ins Visier: Kiew – Hauptstadt der Ukraine, militärisches Ziel der Russen und Symbol des ukrainischen Kampfgeistes. Wie ist die Lage vor Ort?
Zwischen Krieg und Normalität
Der Name bestimmt die deutschen Mainstreammedien: Denn in Kiew herrscht Kriegszustand. Nachdem die Strategie der Russen in einem ersten Anlauf fehlgeschlagen ist, rechnen Experten jetzt mit einem Strategiewechsel. Die Bilder des 65 Kilometer langen Konvois, der sich auf Kiew zubewegen soll, scheinen das zu bestätigen. Dennoch ist es den Russen bislang weder gelungen, die Stadt einzukesseln, noch können sie in den Kiewer Vororten nennenswerte Gebietsgewinne verzeichnen. Der Ort Irpin, rund 15 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt, gleicht laut Aussagen verschiedener Ukrainer einer Mondlandschaft, dennoch verteidigt ihn die Armee mit großem Erfolg.
Doch die Russen attackieren auch Ziele im Stadtgebiet, zumeist strategischer und militärischer Art. Ausgebrannte LKWs der ukrainischen Streitkräfte und eilig beiseite geräumte Trümmer machen das deutlich. Im Südwesten der Stadt wurde am Dienstag auch ein Wohnblock von einer Rakete getroffen und schwer beschädigt. Dass nur drei Bewohner, darunter – laut Angaben aus der Bevölkerung – ein vierjähriges Mädchen, starben, ist wohl nur einem glücklichen Zufall und der seit Kriegsbeginn fortdauernden Flucht vieler Stadtbewohner zu verdanken.
Wer nun aber das Bild einer menschenleeren Geisterstadt vor Augen hat, in der ukrainische Jugendliche mit Molotow-Cocktails gegen russische Panzer anstürmen, der irrt. Noch längst sind nicht alle Zivilisten geflohen. Der Großteil ist geblieben – manche, weil sie nicht wissen wohin, manche, weil sie die Stadt verteidigen wollen, und manche, weil es eben auch im Krieg Orte der Normalität gibt. Die Kiewer gehen spazieren, sie gehen einkaufen, nur vor den Apotheken und Banken gibt es lange Schlangen. Eltern spielen mit ihren Kindern auf Spielplätzen, während Polizisten, Soldaten und paramilitärische Einheiten an den Kontrollpunkten warten und mit Kalaschnikows durch die Straßen patrouillieren. Alte Männer halten an auf einen Plausch. Sie scherzen, die Männer lachen.
„Wir wollen keinen falschen Frieden!“
Wir treffen Andrij. Er ist Dynamo-Kiew-Hooligan und kämpft als Freiwilliger einer Einheit, die dem paramilitärischen Teil des Azow-Regiments angegliedert ist. Sie sind nicht Teil der militärischen Strukturen, sondern agieren weitgehend unabhängig. Die Männer haben bereits Kampferfahrung – sie kämpften ebenfalls als Freiwillige auf dem Maidan, der Krim und gegen die Separatisten im Donbass.
Wir treffen Andrij in der Kantine seiner Einheit. Im Fernsehen laufen Nachrichten. Einige Männer führen intensive Gespräche, andere essen schweigend – ihre Waffen stets griffbereit. Nicht nur Ukrainer haben sich der Truppe angeschlossen: An ihrer Seite kämpfen Weißrussen, Litauer, Schweden.
Sein Zimmer teilt sich Andrij mit zwei Kameraden. Die Fenster sind abgedunkelt, die kleine Lampe reicht kaum aus, um den Raum vollständig zu erhellen. Auf dem Boden im Eingangsbereich liegt eine russische Fahne. Die Wand zieren die Farben Blau und Gelb. Auf dem Bett: Munition, Kevlarwesten, Drohnen. Andrij erzählt von seiner Motivation, zu kämpfen. Er und seine Kameraden kämpften nicht nur für die ukrainische Identität, sondern auch für die „weiße, westliche Zivilisation“. Russland sei kein europäischer Staat, sondern ein Vielvölkerstaat, in dem Oligarchen und „zunehmend auch muslimische und asiatische Völker“ den Ton angeben, während die eigentlichen Russen immer weiter zurückgedrängt werden. Immer wieder betont er, dass sie nicht gegen die Russen an sich kämpfen, sondern gegen das „System Putin“. Dieses „korrupte System“ kriminalisiere Nationalisten, die sich nicht positiv auf die Sowjetunion beziehen und die sich gegen die Überfremdung in den Städten Russlands zur Wehr setzen.
Doch Andrij macht deutlich: Das Bild, das viele Westeuropäer, die nun ihrer Solidarität mit den Ukrainern Ausdruck verleihen, und Mainstream-Medien zeichnen, ist falsch. Die meisten Ukrainer kämpfen ausdrücklich nicht für die ominösen „westlichen Werte“ von der Homoehe bis zur Massenmigration. Sie setzen sich vor allem gegen eine imperiale Großmacht zur Wehr. Einer von Andrijs Kameraden erteilt allen pazifistischen Forderungen eine Absage: „Hört auf damit, ‚Stop the War‘ zu rufen! Wir wollen nicht, dass dieser Krieg durch einen falschen Frieden beendet wird. Die Sache muss endlich entschieden werden!“
Eine Russe, der für die Ukraine kämpft
Auch der Kommandant der Truppe, Serhiy Korotkyh, gibt sich siegesgewiss. Wir treffen ihn in einem Raum, inmitten von Kriegsgerät, an der Wand prangt eine Fahne des Azow-Regiments. Gewehre, Mörser, Panzerfäuste, Munition – alles wird hier gebunkert. Korotkyh selbst verkörpert die Komplexität dieses Krieges: Er ist Russe, lebt im ukrainischen Exil und kämpft nun für die Sache der Ukraine – aber auch der Russen, wie er betont. Er und seine Männer stehen bereit, Kiew bis zum letzten Mann zu verteidigen, sagt er. Die vergangenen Tage hätten gezeigt, dass die Ukraine die Möglichkeit hat, diesen Krieg zu entscheiden. Damit werde die Basis geschaffen für eine starke ukrainische Nation, die einem von westlicher Dekadenz bedrohten Europa zum Vorbild werden könne. Über den Westen und die EU gibt er sich keinen Illusionen hin. Insbesondere Deutschland sei schwach, die Bundeswehr sei über Jahrzehnte hinweg zerstört worden. Mit einem Grinsen ergänzt er, dass man natürlich alle deutschen KSK-Soldaten herzlich willkommen heiße, die ihre Fähigkeiten im Kampf für die Ukraine einsetzen wollten.
Als Deutschem fällt es schwer, die unterschiedlichen Facetten dieses Krieges zu verstehen. Denn hier laufen nicht nur geopolitische Interessen, sondern auch jahrhundertealte Identitätskonflikte und die Folgen des Zusammenbruchs der UdSSR zusammen. All diese Stränge deuten darauf hin, dass dieser Krieg keineswegs ein schnelles Ende finden wird. Und am Ende wird sich zeigen, wie ernst es der EU mit dem Schutz der Ukraine ist. Die Forderungen nach einem aktiven Eingreifen aufseiten der Ukraine werden lauter. Die Folgen wären fatal. Doch angesichts der Massenpsychose, die den gesamten Westen erfasst zu haben scheint, ist eine offene Kriegserklärung gegen Russland längst nicht mehr auszuschließen.
In Kiew rüsten sich die Menschen dagegen längst für einen harten Abwehrkampf. Auch Andrij und sein Kommandant Korotkyh sind bereit, für die Ukraine zu sterben. Ihrem Schicksal sehen sie mit klarem Blick entgegen. Die westliche Larmoyanz berührt sie nicht.
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