Wahlanalyse: Die Niederlage der PiS und die Zukunft der Polen
Die nationalkonservative PiS ist bei den Wahlen in Polen zwar stärkste Kraft geworden, hat aber die absolute Mehrheit im Parlament verfehlt. Die Opposition errang eine klare Mehrheit. Was das für die Zukunft Polens bedeuten könnte, erläutert Marvin Mergard in seiner Analyse für FREILICH.
Von 2015 bis 2023 konnte die nationalkonservative PiS die Geschicke der Republik Polen bestimmen. Sie verband eine traditionelle Gesellschaftspolitik mit einem starken Ausbau des Sozialstaates und einer klaren Westorientierung innerhalb des NATO-Bündnisses. Zudem stand die polnische Regierung immer wieder in der Kritik, Demokratiedefizite aufzuweisen, die von der EU angeprangert wurden.
Am vergangenen Sonntag wählten die Polen sowohl ihren Senat als auch ihr Unterhaus, den Sejm, neu und stimmten darüber ab, ob sie den von der PiS eingeschlagenen Weg fortsetzen oder verlassen wollen. Das Ergebnis des Wahlabends ist eindeutig: Zwar kann die PiS stärkste Kraft im Sejm bleiben, doch sind ihre Verluste so gravierend und die Zugewinne der Opposition von den Linken über die Liberalen bis zu den Liberalkonservativen so groß, dass eine Fortsetzung der PiS-Regierung ausgeschlossen ist.
Von ehemals 235 Sitzen verlor die PiS 2019 41 Mandate und wird nur noch mit 194 Sitzen im Sejm vertreten sein. Da sie von dem oben beschriebenen Oppositionsbündnis, das von der Linken bis zu den Liberalkonservativen reicht, keine Unterstützung erwarten kann und die rechts von ihr stehende Konfederacja zwar ihre Mandatszahl von elf auf 18 erhöhen konnte, aber weder genügend Sitze für eine Regierungsmehrheit (die bei 231 Abgeordneten liegt) beisteuern kann, noch den Eindruck erweckt, dass sie für eine Unterstützung der PiS zur Verfügung stehen könnte, scheint in Polen die Zeit für einen Wechsel gekommen zu sein.
Der Abstieg der PiS
Das Scheitern der PiS ist jedoch kein Ereignis, das sich nicht lange angekündigt hätte. Während die Partei von Jarosław Kaczyński bei den Sejm-Wahlen 2019 noch einen fulminanten Sieg von rund 43 Prozent einfahren konnte und die Partei auch rund ein Jahr nach den Wahlen in den Umfragen konstant zwischen 40 und 45 Prozent der Stimmen erhielt, zerbrach die polnische Regierung beinahe an der Abstimmung über ein Tierschutzgesetz.
Im Herbst 2020 setzte der als Tierliebhaber bekannte Kaczyński mit einem Tierschutzgesetz ein Herzensanliegen durch, das die Regierung so sehr auf die Probe stellte, dass sogar von Neuwahlen die Rede war. Das Gesetz sah unter anderem vor, dass die Haltung von Tieren zur Pelzgewinnung verboten wird und sowohl koscheres als auch Halal-Fleisch nur noch von in Polen lebenden Religionsgemeinschaften bezogen und nicht mehr exportiert werden darf. Da Polen auch über einen großen Agrarsektor verfügt, der nicht nur wirtschaftlich bedeutsam ist, sondern auch einen großen Teil der Wählerschaft der PiS ausmacht, traten in der Folge bereits zuvor im Hintergrund bestehende Spannungen innerhalb der Regierung nach außen. Dies zeigte sich u.a. darin, dass Kaczyński von Teilen seiner Partei und zwei kleineren damaligen Partnerparteien der PiS (Porozumienie und Solidarna Polska) die Unterstützung für dieses Vorhaben verweigert wurde und er die Mehrheit bei der liberal-konservativen Opposition suchte.
Aufgrund dieser Auseinandersetzungen verlor die PiS in den Umfragen massiv an Boden und pendelte sich lange Zeit bei knapp 30 Prozent ein. Seitdem ist es der PiS bis zu den Wahlen am vergangenen Sonntag nicht mehr gelungen, an die regelmäßig starken Werte um die 40 Prozent anzuknüpfen. Sie konnte sich zwar relativ stabilisieren, aber weder die Forderungen nach deutschen Reparationszahlungen für den Zweiten Weltkrieg noch die außenpolitische Zuspitzung durch den Ukrainekrieg gaben der rechtskonservativen Regierung den nötigen Rückenwind. Denn auch die stärkste Konkurrenz im Oppositionslager konnte sich in den Umfragen stetig verbessern. Allen voran die liberalkonservative Platforma Obywatelska (PO) des ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der das Land von 2007 bis 2014 regierte. Die PO hat sich 2018 mit anderen zentristischen und liberalen Parteien zur Koalicja Obywatelska (KO) zusammengeschlossen.
Die gespaltene Republik
Der Blick von außen auf das polnische Volk, das sich unerbittlich gegen die Europäische Union und geschlossen gegen die degenerativen Elemente des Liberalismus wendet, ist nicht ganz zutreffend. Zwar gibt es in Polen eine starke katholisch-traditionelle Mentalität, die sich nicht nur auf die Klientel der Rechten im weitesten Sinne beschränkt.
Diese Teilung des polnischen Volkes lässt sich auch kartographisch nachvollziehen. Die „altpolnischen Gebiete“ im Zentrum, Osten und Süden Polens, die bereits seit Jahrhunderten ununterbrochen polnisch besiedelt sind und eine ebenso starke Verwurzelung dieser Bevölkerung aufweisen, sind seit jeher konservativer ausgerichtet und wählten wie schon bei den Wahlen zuvor mehrheitlich die PiS. Ausnahmen bilden die Städte, insbesondere Warschau und die umliegenden Regionen.
Die „neupolnischen“ Gebiete, also die Gebiete, die auf dem Boden der ehemaligen deutschen Ostgebiete entstanden sind und zu einem großen Teil von aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten vertriebenen Polen besiedelt wurden, sind überwiegend weniger konservativ und EU-freundlicher eingestellt. Hier konnten neben der KO auch die linksgerichtete Lewica überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Lediglich das liberal-konservative Wahlbündnis Trzecia Droga konnte sowohl im Westen als auch im Osten des Landes mehrere Regionen für sich gewinnen.
Daten zum Wahlverhalten
Doch nicht nur die Geografie verdeutlicht die Spaltung des Landes und seiner Bevölkerung. Auch die vom Meinungsforschungsinstitut IPSOS veröffentlichten Daten der Nachwahlbefragungen geben interessante Einblicke in die verschiedenen Gesellschaftsschichten und die daraus resultierenden Wahlentscheidungen.
PiS
Hier zeigt sich die Stärke der PiS bei den Älteren und ihre Schwäche bei den Jüngeren. Während die 50- bis 59-Jährigen zu über 40 Prozent und alle Altersgruppen darüber sogar zu über 50 Prozent für die PiS stimmten, verliert sie bei den jungen Wählern deutlich an Unterstützung. Bei den 18-29-Jährigen liegt sie sogar nur noch bei 14,4 Prozent – und damit auf Platz fünf in dieser Altersgruppe.
Das Stadt-Land-Gefälle zeigt sich auch in den Auswertungen. Während die PiS im ländlichen Raum fast 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte und unter den Landwirten eine Zustimmung von über 60 Prozent aufweist, konnte sie in den städtischen Regionen mit mehr als 50.000 Einwohnern nur etwa 20 bis 30 Prozent der Stimmen erreichen – mit abnehmender Tendenz mit zunehmender Größe der Stadt.
Auch die Bildungsschicht sagt viel über das Wahlverhalten der Polen aus. Die PiS kann in hohem Maße auf die Stimmen der unteren Bildungs- und Berufsausbildungsgruppen zählen, die über 60 Prozent für die PiS gestimmt haben.
KO
Die KO hingegen kann sich einer relativ breiten Unterstützung in allen Altersgruppen sicher sein, auch wenn sie bei den 40- bis 49-Jährigen ein leichtes Hoch und bei den 18- bis 29-Jährigen die schlechtesten Werte für die Partei verzeichnet, bleibt sie dennoch mit mehr als 25 Prozent deutlich vor allen anderen Parteien auf Platz 1.
Betrachtet man die Wahlergebnisse in den bevölkerungsarmen bis bevölkerungsreichen Regionen, so zeigt sich ein gegenläufiger Trend zur PiS. Je größer die Stadt, desto besser schnitt die KO ab, während die Stimmenanteile auf dem Land weit hinter denen der PiS zurückblieben.
Die KO ist vor allem die Partei der besser gebildeten Bevölkerungsschichten. Hier erreicht sie fast 40 Prozent Zustimmung, bei den Personen mit niedrigem Bildungsniveau und mit Berufsausbildung sind es weniger als 20 Prozent. Auch die KO kann bei Geschäftsinhabern und Managern (jeweils über 40 Prozent) sowie bei Studenten (über 30 Prozent) besonders gut abschneiden.
Trzecia Droga
Der TD ist es gelungen, die Stimmen der jungen und mittelalten Wähler weitgehend gleichmäßig zu verteilen. Lediglich die Altersgruppe der über 60-Jährigen liegt unter zehn Prozent.
Auch bei der regionalen Verteilung lassen sich kaum Unterschiede feststellen. Sowohl in ländlichen als auch in großstädtischen Regionen konnte die TD ähnlich gute Ergebnisse erzielen.
Betrachtet man die Stimmabgabe nach Bildung, so ergibt sich ein ähnliches Bild wie bei der KO. Je niedriger das Bildungsniveau, desto geringer die Unterstützung; je höher das Bildungsniveau, desto höher die Unterstützung für die TD. Auch die TD konnte überdurchschnittlich viele Manager und Studenten von ihren Wahlzielen überzeugen.
Lewica
Während sich bei den Vorgängerparteien und Wahlbündnissen die Wählerstimmen nach Geschlecht nur geringfügig unterschieden, ist bei Lewica ein deutlicher Überhang an weiblichen Wählern zu erkennen (Männer: 6,8 Prozent; Frauen: 10,1 Prozent).
Auch die Altersverteilung zeigt ein deutliches Gefälle. Während 17,4 Prozent der 18- bis 29-Jährigen Lewica wählten, konnte sie bei den 50-Jährigen und Älteren nur rund fünf Prozent erreichen.
Die Lewica ist vor allem eine Partei der Großstädte, der besser gebildeten Schichten und der Studenten. Nach der KO hat die Lewica den zweithöchsten Stimmenanteil unter den Studenten. Die Unterstützung aus der Arbeiterschaft beträgt dagegen nur 5,1 Prozent.
Konfederacja
Die Konfederacja ist in vielerlei Hinsicht interessant. Ursprünglich als Wahlbündnis verschiedener libertärer, nationalistischer, reaktionärer und nationalkonservativer Kräfte gegründet, hat sie sich zu einer Partei zusammengeschlossen. Dennoch blieb die innerparteiliche Heterogenität erhalten, was sich zum Teil auch in den Nachwahlbefragungen widerspiegelte.
Während die PiS die rechte Partei der älteren Generationen zu sein scheint, konnte die Konfederacja umso besser abschneiden, je jünger die Wähler waren. Bei den 18- bis 29-Jährigen liegt sie bei 17,8 Prozent, bei den über 60-Jährigen dagegen nur bei 1,1 Prozent.
Die Verteilung nach der Bevölkerungsdichte ist relativ ausgeglichen, wobei der ländliche Raum etwas stärker und die Großstädte etwas schwächer abschneiden.
Für die Konfederacja stimmten vor allem Personen mit höherer Schulbildung, während Personen mit Berufsabschluss unterdurchschnittlich für die Konfederacja votierten. Da wirtschaftsliberale und libertäre Ansätze im Wahlkampf sehr präsent waren, führte dies zu starken Ergebnissen bei Geschäftsinhabern (10,9 Prozent), und auch viele Studenten stimmten für die Konfederacja (13,4 Prozent).
Die „neue Rechte“ Konfederacja?
Während die PiS und ihre Positionen innerhalb des rechten Spektrums weithin bekannt sind, trifft dies auf die Konfederacja kaum zu. Dennoch lohnt es sich, einen genaueren Blick auf diese Formation zu werfen. Die Konfederacja ist die Partei der zukünftigen Rechten und wird vermutlich in Zukunft eine größere Rolle innerhalb der polnischen Rechten spielen können. Nicht nur die Mitglieder, auch die Wählerschaft ist deutlich jünger, was sich auch in der inhaltlichen Dynamik der Partei widerspiegelt.
Sie tritt gegenüber der EU deutlich kompromissloser auf und wirft in ihrem Wahlprogramm neben der KO auch der PiS vor, sich zu sehr den Interessen der EU untergeordnet und dabei die Interessen der Polen vernachlässigt zu haben. Damit nimmt sie die Rolle einer Kritikerin der PiS-Politik ein – allerdings aus rechter Perspektive.
Die Zukunft wird zeigen, ob sich die Konfederacja neben der PiS, die wahrscheinlich bald in die Opposition gehen wird, behaupten kann. Die Lage in der Welt, aber auch in Europa spitzt sich von Jahr zu Jahr zu, und es wäre nicht verwunderlich, wenn die Wähler nach und nach eine konsequentere Antwort auf die drängenden Probleme der Zeit erwarten würden. Vor allem die Migrationsfrage ist die Schicksalsfrage eines ganzen Kontinents, und es kann nicht ausreichen, nur die illegale Migration abzuwehren und gleichzeitig Hunderttausende legale Migranten pro Jahr ins Land zu lassen.
Das war schon bisher die Politik der PiS, aber mit einer KO-geführten Regierung mit Linken und Progressiven könnte sich diese Entwicklung drastisch verschärfen. Polen, einst als Bollwerk gegen Migration gepriesen, könnte mittelfristig den Weg einschlagen, den Westeuropa bereits gegangen ist. Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen und nun auch Polen einbeziehen, kann es nicht schaden, wenn in Zukunft mit der Konfederacja ein junger und lauter Gegenpol den Finger in die Wunde legt.
Zur Person:
Marvin Mergard, Jahrgang 1994, betreibt den Blog Vera Europa. Dort setzt er sich mit der politischen Rechten in Europa und der europapolitischen Lage aus rechter Perspektive auseinander.