Wirtschaftsexperten: Nicht jede Industrie hat in Deutschland eine Zukunft
Deutschland, das einst als industrielles Kraftzentrum galt, schneidet in diesem Jahr beim Wirtschaftswachstum unter den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt am schlechtesten ab.
Berlin. - Die Verfügbarkeit günstiger Energie wird darüber entscheiden, welche Standorte für die Industrie am lukrativsten sind. Dennoch ist es für Deutschland nicht ratsam zu versuchen, alle energieintensiven Industrien mit subventionierten Strompreisen im Land zu halten, sagen Wirtschaftsexperten.
Billiger Strom als Wettbewerbsvorteil
Deutschland, das einst als industrielles Kraftzentrum galt, schneidet in diesem Jahr beim Wirtschaftswachstum unter den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt am schlechtesten ab. Für 2023 wird ein negatives BIP-Wachstum von - 0,3 Prozent prognostiziert, so eine Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF), die von Experten mit Sorge betrachtet wird. Doch während die aktuelle Flaute laut IWF-Prognose bis 2024 überwunden sein dürfte, erwarten Experten in den kommenden Jahren noch größere Veränderungen in der Industriestruktur des Landes, während sich die Welt der Klimaneutralität nähert.
Die europäische und globale Industrie befinde sich „laufend in einer Restrukturierung“, sagte Alfons Weichenrieder, Professor für Finanzwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt und stellvertretender Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums, gegenüber EURACTIV. „Und natürlich ist das Vorhandensein von billigen Energien ein Wettbewerbsvorteil“, fügte er hinzu. Er wies darauf hin, dass Deutschland beispielsweise im Vergleich zu Ländern wie Norwegen oder Schweden im Nachteil sei, wenn es um flexible Wasserkraft gehe.
Auch künftig höhere Strompreise in Deutschland
Während Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorgeschlagen hatte, „gegen diese nicht besonders vorteilhaften ‚komparativen Vorteile‘ der deutschen Industrie anzusubventionieren“, indem energieintensiven Industrien ein verbilligter Industriestrompreis angeboten wird, hält der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums dies für falsch. „Da sagt Ihnen fast jeder Volkswirt oder jede Volkswirtin, die Sie fragen, dass das nicht der richtige Weg ist“, so Weichenrieder.
Eine Förderung bis 2030 sei notwendig, um eine „Brücke“ zu bauen, bis in Deutschland genügend Erneuerbare-Energien-Kapazitäten aufgebaut seien, die günstigen Strom lieferten, argumentiert Habeck. In einem kürzlich veröffentlichten Gutachten argumentiert der Beirat jedoch, dass Deutschland wegen der ungünstigeren Bedingungen für Erneuerbare Energien auch in Zukunft höhere Strompreise haben dürfte als andere Länder. „Die Frage ist ja, ob Deutschland in Zukunft tatsächlich einen komparativen Vorteil bei den Strompreisen haben wird“, sagt Weichenrieder.
Während Habecks Ministerium davon ausgehe, „dass man in der Zukunft eine goldene Energiezukunft in Deutschland hat und die Preise niedrig sein werden – und dass es nur einer ‚Brücke‘ bedarf, um dorthin zu kommen“, habe der Beirat „gewisse Zweifel“, sagte er. „Und wenn man in der energieintensiven Industrie diese Vorteile voraussichtlich nicht haben wird, dann setzt man aufs falsche Pferd, wenn man dort trotzdem das Geld reinschüttet“, fügte er hinzu.
Wind und Wasserkraft als „Kohle der Zukunft“
Da viele klimafreundliche Industrien große Mengen an Strom benötigen, gehen Experten davon aus, dass der Strompreis in Zukunft ein entscheidender Faktor dafür sein wird, wo produziert wird. Das Ruhrgebiet zum Beispiel, ein Zentrum der deutschen Stahlproduktion, „wurde groß, nicht weil es Eisen hatte, sondern weil es Energie hatte“, sagt Weichenrieder. Die Kohlevorkommen hätten der Region zur Industrialisierung verholfen – das Eisen wurde importiert“. „Die Kohle der Zukunft ist möglicherweise der Wind oder die norwegische Wasserkraft“, sagt er mit Blick auf die Klimaziele.
Die Abwanderung von Industrien ins billigere Ausland sei aber nicht unbedingt schlecht, so Weichenrieder. Auch deutsche Unternehmen hätten in der Vergangenheit davon profitiert. Während Importe zunehmend skeptisch betrachtet würden, weil Länder Abhängigkeiten von anderen Ländern fürchteten, „war die internationale Verflechtung der Industrie und eben gerade die Bereitschaft, auch Teile der Wertschöpfungsketten nach außen zu geben, doch ein Segen für die deutsche Industrie“, so Weichenrieder.
Durch die Nutzung Osteuropas als „verlängerte Werkbank“ hätten deutsche Unternehmen beispielsweise von den dort niedrigeren Produktionskosten – aufgrund niedrigerer Löhne – profitiert „Man denkt immer nur, wenn jetzt ein Unternehmen von Deutschland wegzieht, dann zieht es nach China um, um billiger zu produzieren“, sagte er. Es gebe aber auch Fälle, in denen sie in Länder wie Norwegen oder Schweden gegangen seien. Dort hätten sie niedrigere Kosten und könnten gleichzeitig CO2-neutral produzieren. „Das sind ökonomisch sinnvolle Maßnahmen“, so Weichenrieder. Dennoch müsse sich die Politik für bessere Standortbedingungen in Deutschland einsetzen, etwa durch niedrigere Steuern oder die Anwerbung von Fachkräften, betont der Beirat in seinem Gutachten.
Vorprodukte für Stahlproduktion können auch importiert werden
Der Think Tank Dezernat Zukunft argumentiert, dass sich Deutschland statt auf Grundstoffe auf die Produktion in den nachgelagerten Bereichen der Wertschöpfungskette konzentrieren sollte, die bereits heute den größten Teil der industriellen Wertschöpfung in Deutschland ausmachen. Bei Gütern, deren Herstellung sehr energieintensiv ist, könnte es dagegen sinnvoller sein, Vorprodukte durch billigere Importe zu ersetzen, anstatt sie im Inland zu produzieren. Dies würde nicht notwendigerweise neue Abhängigkeiten von anderen Ländern schaffen, sagte Levi Henze, Policy Analyst der Abteilung Zukunft, gegenüber EURACTIV.
Da es weltweit mehrere potenzielle Lieferanten gebe, „sollte der Bezug von zum Beispiel Stahl oder auch von reduziertem Eisen, als Vorprodukt für die Stahlproduktion, machbar sein, ohne geopolitische Risiken einzugehen“, so Henze. „Auch in der Chemiebranche würde ich sagen, dass der Markt nicht so konzentriert ist, dass man da geopolitische Risiken eingeht“, fügte er hinzu und forderte eine stärkere europäische Perspektive. Henze betonte jedoch, dass er nicht grundsätzlich gegen eine temporäre Senkung der Strompreise für bestimmte Branchen sei. Aber bei sehr energieintensiven Industrien wie der Stahl- und Aluminiumherstellung, deren Vorprodukte direkt aus dem Ausland bezogen werden könnten, „stellt sich eben die Frage, ob es wirklich sinnvoll ist, diese eine Zeit lang stark zu subventionieren“, sagte er. Deshalb forderte er die Regierung auf, „genau hinzugucken“, wer den verbilligten Industriestrompreis erhalten solle und auf welches Niveau der Strompreis gesenkt werden solle. Das Geld dürfe nur für Industrien ausgegeben werden, die auch langfristig eine Zukunft in Deutschland hätten.