Demografie: Vom Altern und Schrumpfen
Wir werden älter und immer weniger. Das hat massive Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Demografie wird zur Schicksalsfrage im 21. Jahrhundert.
Elon Musk, Tesla-Gründer und X-CEO, äußerte sich auf den Axel Springer Awards im Jahr 2020 in Berlin über das weltweite Bevölkerungswachstum: „Viele, auch intelligente Personen, denken, dass es zu viele Menschen auf der Welt gibt und dass das Bevölkerungswachstum außer Kontrolle gerät. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bitte sehen Sie sich die Zahlen an. Wenn die Menschen nicht mehr Kinder bekommen, wird die Zivilisation zusammenbrechen, merken Sie sich meine Worte.“ Mit diesen Worten stieß er erstmals eine demografische Debatte für das 21. Jahrhundert an, die bis vor einigen Jahren in der globalen Perspektive noch ganz anders geführt wurde und sich nun von der Sorge der Bevölkerungsexplosion auf die Ebene des drohenden Bevölkerungskollaps verschiebt.
Dieser Bevölkerungskollaps beschränkte sich zunächst nur auf die Perspektive der westlichen Industriegesellschaften und hat sich nun auch auf weitere, aktuell noch bevölkerungsreiche Länder wie China oder Indien ausgeweitet. Mit dem Eintritt in das Industriezeitalter konnte in vielen Nationen auch ein parallel verlaufender Anstieg der Geburten festgestellt werden. Der neu gewonnene Wohlstand schuf die Substanz für die materielle Absicherung der eigenen Nachkommen. Was nun jedoch Länder wie Indien oder China – und der Westen mit voller Härte – spüren, sind die Schnittpunkte, an denen die beiden Kurven des Wohlstands- und des Bevölkerungswachstums zunächst parallel verlaufen und mit einigem zeitlichen Verzug zumindest die Bevölkerungskurve als erstes kippt und voraussichtlich die Wohlstandskurve ihr einige Jahre später folgen wird, da die Wohlstandssicherung keinen personellen Ressourcenrückhalt mehr hat. Im 20. Jahrhundert hat sich die Lebenserwartung verdoppelt und die globale Bevölkerungszahl vervierfacht. Im 21. Jahrhundert werden wir womöglich den gegenläufigen Trend beobachten.
Kippende Verhältnisse
Die Demografie wird zu einer entscheidenden Schicksalsfrage des 21. Jahrhunderts. Auf der einen Seite schrumpft der westliche Zivilisationskreis und weitere asiatische Industrienationen ziehen nach, auf der anderen Seite wächst der afrikanische Kontinent unaufhörlich und verlagert seine Bevölkerungsüberschüsse in den alternden und wohlstandsgesättigten Westen. Doch die schrumpfenden Gesellschaften haben nicht nur mit dem steigenden Migrationsdruck von außen zu kämpfen, sondern auch mit zahlreichen sozialen und ökonomischen Verwerfungen. Deutschland ist mit 45,8 Jahren eines der ältesten Länder der Welt (Österreich: 43,2 Jahre). Bis 2015 lagen die Deutschen noch auf Platz zwei der ältesten Weltbevölkerungen, hinter Japan, bis sie inzwischen von Italien mit einem Durchschnittsalter von 48 Jahren eingeholt wurden. Im Schnitt sind wir in der Bundesrepublik heute doppelt so alt wie der Rest der Weltbevölkerung. Noch zur Wendezeit 1990 lag das Durchschnittsalter bei 38 Jahren um knapp acht Jahre jünger als heute.
Von einem spürbaren Schrumpfungsprozess ist Deutschland bisher verschont geblieben. Der demografische Wandel äußert sich nämlich noch nicht als unmittelbare Bevölkerungsreduktion, sondern vor allem als kollektiver Alterungsprozess. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland um knapp 20 Jahre angestiegen. Kurz nach Kriegsende waren circa zwölf Prozent der in Deutschland lebenden Menschen über 65 Jahre alt. Heute sind es mit 22 Prozent schon fast ein Viertel und bis 2060 prognostiziert das Statistische Bundesamt, dass jeder dritte Bundesbürger über 65 Jahre alt sein wird (In Österreich wird dieser Anteil von 19,6 Prozent auf fast 29 Prozent ansteigen).
Die jüngeren Alterskohorten verlieren dabei zunehmend an demografischem – und am Ende auch an gesellschaftlichem – Gewicht. Noch in den 1980er-Jahren konnten die unter 20-Jährigen einen Anteil von 27 Prozent aufbringen. Damit waren sie gegenüber den Generationen Ü65 (16 Prozent) und Ü80 (drei Prozent) in der Gesamtbevölkerung deutlich stärker vertreten. Spätestens mit dem Jahr 2020 sind diese Verhältnisse ins Kippen geraten. Der Anteil der unter 20-Jährigen ist im Vergleich zu 1980 um ein Drittel geschrumpft, während sich die über 65-Jährigen im gleichen Zeitraum verdoppelt und die über 80-Jährigen, auch bedingt durch die gestiegene Lebenserwartung, sogar anteilsmäßig vervierfacht haben.
Demografische Zeitenwende
Diese Entwicklungen geben einen ersten Ausblick auf die uns bevorstehende demografische Zeitenwende. Es wird neuer politischer und sozialer Ordnungssysteme bedürfen, die sich auf den sukzessiven Bevölkerungsschwund einstellen können. Mit dem Jahr 2023 ist bereits ein erster Prozess in Gang gesetzt, der maßgebliche Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme und die ökonomische Leistungsfähigkeit haben wird. Dieses Jahr geht der erste geburtenstarke Jahrgang der sogenannten „Babyboomer“-Generation in Rente. 1958 wurden 1,15 Millionen Menschen geboren, die jetzt mit 65 Jahren das reguläre Renteneintrittsalter erreichen. Im Gegenzug dazu strömen nur 660.000 potenzielle Erwerbspersonen aus dem Jahrgang 2005 neu auf den regulären Arbeitsmarkt.
Addiert man die stärksten Babyboomer-Jahrgänge bis 1964, werden voraussichtlich knapp neun Millionen Menschen den regulären Arbeitsmarkt verlassen. Aus den neu hinzukommenden jüngeren Jahrgängen werden jedoch nur knapp 4,7 Millionen als neue Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Ab 2030 werden doppelt so viele Menschen aus dem Arbeitsmarkt herausfallen, wie von unten überhaupt nachrücken könnten. Eine Lücke von fünf Millionen Arbeitern und Fachkräften, die auch durch die Illusion einer massenhaften Zuwanderung kaum mehr zu stoppen sein wird. Bis 2030 werden etwa 300.000 Pflegekräfte, 190.000 Lehrer und bis zu 500.000 Menschen in Handwerk und produzierenden Gewerbe fehlen. Diese Phase hat jetzt begonnen und sie wird sich nach den meisten Prognosen noch bis in das Jahr 2045 ziehen, bis die Babyboomer-Generation die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht hat.
Diese Lücke im Erwerbspersonenpotenzial setzt natürlich auch das bisherige umlagefinanzierte Rentensystem unter Druck. Demnach kamen im Jahr 1962 auf einen Rentner knapp sechs erwerbsfähige Personen auf dem regulären Arbeitsmarkt. Im Jahr 2019 sind es nur noch zwei Leute, die mit ihren Umlagen vom Bruttolohn einen Rentner finanzieren. Dieser Grundgedanke ist durch die demografische Entwicklung längst kollabiert. Die Steuerzuschüsse für die gesetzliche Rentenversicherung bilden allein schon ein Viertel des gesamten Bundeshaushaltes. Berechnungen einer Kommission im Bundeswirtschaftsministerium gehen davon aus, dass bis 2040 über die Hälfte aller finanziellen Haushaltsmittel als staatlicher Zuschuss in die Abdeckung der gesetzlichen Rentenansprüche fließen werden. Und selbst dieser massive Finanzierungsaufwand des Staates wird keineswegs eine Garantie dafür abgeben können, dass das aktuelle Rentenniveau überhaupt haltbar wäre.
Laut Vorsorgeatlas der Deutschen Rentenversicherung liegt das heutige durchschnittliche Rentenniveau der 50- bis 64-Jährigen noch bei 64 Prozent des letzten Bruttoeinkommens bei 40 Beitragsjahren. Bei den heutigen 20- bis 34- Jährigen läge das Rentenniveau nur noch bei 38 Prozent. Jüngste Erhebungen des Bundesarbeitsministeriums gehen davon aus, dass knapp die Hälfte aller aktuellen Arbeitnehmer mit einer künftigen Rente von unter 1.500 Euro rechnen müssten. Im Osten der Republik sind es sogar mehr als die Hälfte. Allein um dieses Niveau zu halten, müssten sie 45 Beitragsjahre vorweisen und einen durchschnittlichen Bruttostundenlohn von 20,78 Euro erreichen. Dies ist in Branchen wie dem produzierenden Gewerbe, Tourismus oder einfachen Dienstleistungsjobs kaum zu erlangen. 1960 lag die durchschnittliche Rentenbezugsdauer noch bei zehn Jahren. Heute hat sie sich verdoppelt. Die Politik hat diese Entwicklung schließlich vollends verschlafen. Wahlkampfslogans aus den 80er-Jahren wie „Die Rente ist sicher“ würde sich heute wohl niemand politisch erlauben können.
Auf dem Weg zur Gerontokratie?
Eine alternde Gesellschaft schafft nicht nur auf der sozioökonomischen Basis neue Tatsachen. Auch im politischen Raum ist bereits ein elektorales Ungleichgewicht hergestellt, durch das längst nicht mehr von einer gleichmäßigen demokratisch-repräsentativen Verteilung der verschiedenen Altersklassen gesprochen werden kann.
Als die SPD kurz vor der Bundestagswahl 2021 zur Aufholjagd auf die CDU ansetzte, beschrieben dies einige politische Beobachter als die große Aufbruchsstimmung einer neuen Generation, die sich nach 16 Jahren Merkel endlich Veränderung wünscht. Aktive Juso-Mitglieder stellen ein Viertel der Mandatsträger in der aktuellen SPD-Bundestagsfraktion. Doch diese Juso-Abgeordneten repräsentieren nur einen Bruchteil der SPD-Kernwählerschaft. Bei der Bundestagswahl 2021 verlor die SPD sogar nur in der Altersklasse 18 bis 24 Jahre vier Prozent. In allen anderen Kohorten konnte sie Stimmen hinzugewinnen. Am stärksten, mit plus zehn Prozent bei den über 70-Jährigen.
Manche Politanalysten vermuteten mit dem Weggang von Angela Merkel einen massiven Kollaps der Christdemokratie in Deutschland. Die Verluste kamen zwar, aber hielten sich doch noch dank der stabilen Ü60-Wählerbasis im Rahmen. Insgesamt entschieden sich ältere Wähler ab 60 Jahren mit 73 Prozent für eine der beiden größeren Volksparteien CDU oder SPD (ähnlich sieht es in Österreich aus). Der Gesamtanteil in dieser Alterskohorte machte bei der letzten Bundestagswahl 38,2 Prozent aus. Damit bringt die Altersgruppe Ü60 das gleiche Stimmengewicht auf die Waage wie die 18- bis 40-Jährigen zusammen. Wo heute beispielsweise fünf Prozent der Ü60-Generation als Wähler von den klassischen Volksparteien mobilisiert werden können, ist dies bei den jungen Wählern zwischen 18 und 29 Jahren nur mit einem Verhältnis von eins zu drei zu kompensieren, das heißt, dort müssten ganze 15 Prozent gewonnen werden. Ohne die Ü60-Wähler wären CDU und SPD unter 20 Prozent gelandet.
Die heutigen demoskopischen Verhältnisse bleiben das Spiegelbild der alten Bundesrepublik und stellen neue politische Akteure vor strategische Herausforderungen hinsichtlich ihrer Wahlkampagnen, Wähleransprache und Zielgruppenmobilisierung. Die Alternative für Deutschland (AfD) kann vor allem im Altersmittelbau (40 bis 60 Jahren) ihr größtes Potenzial ausschöpfen. Schwächer ist sie bei den besonders Jungen (18 bis 30 Jahren) und den besonders Alten (Ü65) aufgestellt. Im Osten der Bundesrepublik zeigt sich zumindest, dass das Potenzial bei den jüngeren Alterskohorten noch etwas stärker ausgeprägt ist. Schaut man aber auch zur letzten Bundestagswahl auf die absoluten Zahlen, so wird deutlich, dass die geringen prozentualen Anteile bei den Älteren am Ende doch eine wichtige Wählerbasis abbilden. Die über 60-Jährigen bleiben für die AfD in absoluten Stimmen eine doppelt so große Wählergruppe wie die 18- bis 30-Jährigen.
Nicht nur bei der Parteienpräferenz zeigen sich die demografischen Missverhältnisse in der Gesellschaft. Auch in Meinungsumfragen sehen wir eine stärkere Gewichtung für bestimmte Positionen, die insbesondere die Stimmungsbilder älterer Befragter wiedergeben. Das exemplarische Beispiel dafür war die Coronakrise. Über die meiste Zeit sprach sich stets eine Mehrheit für die Maßnahmenpolitik der Bundesregierung aus. Schaute man jedoch genauer auf die Altersverteilung der unterschiedlichen Antwortmöglichkeiten, so wurde schnell klar, dass ältere Befragte wesentlich stärker hinter den Coronamaßnahmen standen. Durch die statistische Überrepräsentation dieser Gruppe konnte schließlich auch das verzerrte Bild einer „breiten Zustimmung“ zu den Coronamaßnahmen vermittelt werden.
Welche Lösungen?
Das Lösungsangebot für eine demografische Reduktionskrise ist oberflächlich betrachtet recht simpel. Es braucht mehr (junge) Menschen! Doch der demografische Wandel und seine Folgen sind keine einfache politische Mechanik, in der man ein paar wenige Stellschrauben dreht, die eine unmittelbare Veränderung hervorrufen. Schon die internationalen Beispiele zeigen die Limitierungen in der politischen und sozialen Steuerungsfähigkeit von demografischen Entwicklungen. China hat sich längst von seiner Ein-Kind-Politik verabschiedet und verstärkt die eigene Propaganda wieder in Richtung von Großfamilienmodellen. Südkorea hatte erst vor Kurzem einen massiven Familienförderfonds in Höhe von umgerechnet 200 Milliarden Dollar gestartet. Mit geschätzten 0,78 Kindern pro Frau hat das Land (neben Honkong) die niedrigste Geburtenrate weltweit. Die Maßnahmen zeigen sich bisher als wenig effizient. Und auch in Deutschland hat man stets versucht, einen Hebel zu finden, mit dem die Geburtenrate gesteigert werden konnte. Es gibt inzwischen über 150 familienpolitische Fördermaßnahmen, die im Bundeshaushalt auch je nach Maßnahmenpaket einen höheren zweistelligen Milliardenbetrag kosten. Doch Geld allein wird nicht unbedingt helfen und ist auch ganz offensichtlich nicht die entscheidende Ursache für das Geburtendefizit.
Jede vierte Frau mit hohem Bildungsgrad im Alter zwischen 45 und 49 Jahren bleibt heute kinderlos. In den urbanen Regionen sind im Durchschnitt von allen Frauen über 45 Jahren 26 Prozent kinderlos. Die Anzahl der aktuell kinderlosen Frauen hat sich mit der vorhergehenden Vergleichsgeneration heute über alle Bildungs- und Einkommensschichten hinweg verdoppelt. Das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt ihrer ersten Kinder liegt mit 31 Jahren (in Österreich 31,5) heute fünf Jahre höher als noch Mitte der 1970er-Jahre.
Es ist ganz offensichtlich nicht die mangelnde finanzielle Absicherung allein, die Frauen vom Kinderwunsch abhält. Verschiedene Umfragen bestätigen, dass zuvorderst individualistische Unabhängigkeitsmotive der Familiengründung vorgezogen werden. Es fehlt an allgemeinen Sicherheiten und einem familienfreundlichen Gesellschaftsklima. In der Bundeshauptstadt Berlin kam es in den letzten 20 Jahren beispielsweise zu einem Rückgang von einem Viertel aller öffentlichen Spielflächen für Kinder. Viele Kinderbetreuungseinrichtungen sind zu reinen Verwahrungsstätten geworden, in denen manche Kinder nur noch eine bedingt sinnvolle Alltagsgestaltung erleben.
Doch selbst wenn die Regierung jetzt beginnt, gesellschaftliche Soft-Power-Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenraten zu ergreifen, wird sich dies zumindest auf der ökonomischen Basis erst in knapp 20 Jahren bemerkbar machen. Die Variablen für die Gleichungen und Folgen der demografischen Zukunft bis 2045 sind nämlich bereits geboren. Wir werden uns als Volk mit der Tatsache einer sukzessiven Schrumpfung auseinandersetzen müssen. Dadurch werden wir jedoch nicht aussterben, wenn die Grundlagen zumindest auf der kulturellen und ethnischen Ebene bewahrt bleiben.
Wir werden uns den demografischen Realitäten in all ihren Ausprägungen und Konsequenzen stellen und auch anerkennen müssen, dass wir auf bestimmte Entwicklungen und Tendenzen nur noch reagieren können, dass aber für ein proaktives Gegensteuern die Instrumente begrenzt oder zumindest in ihrer zeitlichen Wirksamkeit eher auf langfristige Perspektiven angelegt sind. Die rechten Versprechungen von Wohlstand, familienfreundlichem Klima und einer lebendigen Volkskultur können nur unter der Prämisse eines zwangsläufigen demografischen Schrumpfungsprozesses gedacht werden.
Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der FREILICH-Ausgabe 25 „Europa geht in Rente“.
Zur Person:
Daniel Fiß wurde 1992 geboren und studierte sechs Semester Good Governance und Politikwissenschaft an der Universität Rostock. Seit 2020 betreibt er den „Feldzug Blog“, auf dem er regelmäßig Analysen zu Demoskopie, politischer Soziologie und Kommunikation veröffentlicht.
Blog: feldzug.net