Zwischen Besiegten und Befreiten: Plädoyer für eine souveräne Erinnerungspolitik
Mit Blick auf den 8. Mai kritisiert Nikolaus Kramer den ritualisierten Schuldkult und fordert stattdessen ein souveränes Gedenken, das das eigene Leid nicht verschweigt und nicht reflexhaft Siegernarrative übernimmt.
Sowjetisches Ehrenmal in Berlin-Treptow.
© IMAGO / HohlfeldIn wenigen Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 80. Mal. Bis heute ist dieser Tag Ausdruck einer inneren Ambivalenz im kollektiven Gedächtnis unseres Volkes – Prüfstein nationaler Selbstvergewisserung und zugleich Symbol der anhaltenden Unsicherheit darüber, wie Deutschland bereit ist, mit sich selbst, seiner Geschichte und seiner Identität umzugehen. War es ein Tag der Befreiung – oder ein Tag der Niederlage? Ein Tag der Hoffnung – oder der Demütigung?
Die Antwort auf diese Fragen ist bis heute Teil eines intensiven Deutungskampfes, der letztlich auch die moralischen Prämissen und Grundlagen politischer sowie gesellschaftlicher Debatten bestimmt. Die engen Meinungskorridore, die vermeintliche moralische Pflicht zur Migrantenaufnahme, die Verklemmtheit gegenüber patriotischen Gefühlen – all das speist sich aus einer selbst auferlegten historisch-moralischen Verpflichtung, die sich immer wieder als Negativfolie zur eigenen Identität als Volk und Nation versteht.
Das Problem des moralischen Totalitarismus
Es dominiert ein schwarz-weißes Narrativ, das Deutschland entweder als Täterkollektiv oder als moralisch geläuterte Nachkriegsgesellschaft darstellt, die sich dem Ritual der Selbstverneinung unterwirft.
Problematisch an diesem Zugang ist nicht das Eingeständnis historischer Schuld. Problematisch ist vielmehr der moralische Totalitarismus, der aus dieser Schuld eine ewige politische Disziplinierungswaffe schmiedet – gegen jede Form nationaler Selbstachtung, gegen jede eigenständige Sicht auf die eigene Geschichte. Wo Schuld nicht aufgearbeitet, sondern ritualisiert und ideologisch verfestigt wird, bleibt Erinnerung unehrlich. Wo eigenes Leid verschwiegen wird, entsteht kein historisches Gleichgewicht, sondern neues Unrecht.
Der 8. Mai war für Millionen Deutsche kein Tag der Befreiung, sondern ein Tag der Niederlage, der Besetzung, der Vertreibung, der Massenvergewaltigungen, der Kriegsgefangenschaft und der Demütigung. Für die Deutschen in Ostpreußen, Schlesien, Pommern, für die Bombenopfer der Städte, für die Kriegsgefangenen in sowjetischen Lagern oder für die Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten markierte der 8. Mai nicht den „Tag der Hoffnung“, sondern den Beginn eines weiteren Kapitels von Leid und Entrechtung. Noch heute wird insbesondere im Osten die generationale Erinnerung durch Erzählungen von Zeitzeugen wachgehalten. Fast jede ostdeutsche Familie kennt mindestens eine Person mit Flucht- und Vertreibungserfahrungen nach 1945.
Keine Übernahme fremder Siegernarrative
Die Rote Armee war kein Befreier des deutschen Volkes. Sie war Sieger – und Besatzer. Sie war Täter an Millionen Deutschen, die nach dem 8. Mai 1945 Vertreibung, Gewalt, Deportation, Hunger und Tod erleiden mussten. Für die Frauen in Ostpreußen, Schlesien oder Pommern war der Vormarsch der sowjetischen Truppen kein Akt der Erlösung, sondern der Beginn systematischer Massenvergewaltigungen, Raubzüge, Morde und Verschleppungen. Wer in der berechtigten Ablehnung amerikanisch-transatlantischer Bevormundung reflexhaft in die Arme der russischen Siegergeschichte flüchtet, verfängt sich in der nächsten Form der Fremdbestimmung.
So verständlich die Abwehr gegen den transatlantischen Schuldkomplex von rechts auch sein mag: Die Antwort darauf kann nicht darin bestehen, das eigene historische Trauma durch die Übernahme neuer fremder Siegernarrative – diesmal der russischen – zu betäuben. Auch russische Staatsmedien kennen keine Zurückhaltung, wenn es darum geht, die Deutschen weiterhin als „Tätervolk“ zu instrumentalisieren. Auch im Ukrainekrieg ist es moralisch bequemer, die eigenen Militäroffensiven mit der „Befreiung von der ukrainischen Nazi-Diktatur“ zu rechtfertigen, statt offen und ehrlich geopolitische Interessen zu benennen. Die Nazikeule ist längst ein internationaler, moralischer Kassenschlager geworden – mit zahlreichen dankbaren Abnehmern, auch in russischen Zeitungen und Fernsehsendungen.
Warnung vor falscher Geschichtsromantik
Doch das eigentliche Problem liegt tiefer: Ein gesundes, souveränes nationales Bewusstsein, das in der Lage wäre, die eigene Geschichte aus sich selbst heraus zu deuten, fehlt auch in weiten Teilen der Rechten bis heute. Wo Selbstvergewisserung fehlt, wachsen Ersatzbefriedigungen. Der eine sucht moralische Legitimation bei den „westlichen Befreiern“, der andere bei den „östlichen Befreiern“. Dieselben Muster werden auch gerne auf internationale Konflikte wie den Krieg in der Ukraine oder im Gazastreifen übertragen. Oft mangelt es an einem grundlegenden Verständnis dafür, dass internationale Politik am Ende eine Struktur unterschiedlich geordneter Interessen darstellt. Sie folgt keiner moralisch aufgeladenen Logik, sondern bestenfalls einem Interessensausgleich.
Deshalb sollten die Ebenen von Erinnerungspolitik, Wirtschaftspolitik und Diplomatie nicht miteinander vermischt werden. Ja, Russland kann ein notwendiger Partner sein – wirtschaftlich, sicherheitspolitisch, strategisch. Doch diese pragmatische Kooperation darf nicht mit historischer Idealisierung verwechselt werden. Die geopolitische Realität verlangt Zusammenarbeit – aber keine falsche Geschichtsromantik.
Ein Tag des Nachdenkens
80 Jahre nach Kriegsende brauchen wir endlich eine Erinnerungspolitik, die sich stärker auf Selbstbehauptung, Identitätsbewusstsein und nationale Unverkrampftheit stützt. Wir stehen für ein Gedenken, das weder in Schuldstolz noch in Selbstmitleid erstarrt.
Der 8. Mai ist für uns kein Tag des Feierns, sondern ein Tag des Nachdenkens. Ein Tag, der die Ambivalenz unserer Geschichte sichtbar macht – und zugleich mahnt, endlich eigene Wege in der Erinnerungspolitik zu gehen: frei von Fremdbestimmung, frei von alten Sieger- und Besiegtenrollen, getragen von Wahrheit, Selbstachtung und Souveränität.