„Investigative Biografie“ über FPÖ-Chef: „Kickl und die Zerstörung Europas“ – aber lesenswert!

Vor wenigen Wochen ist die Biografie der beiden profil-Journalisten Gernot Bauer und Robert Treichler über FPÖ-Chef Herbert Kickl erschienen. In seiner Rezension für FREILICH erklärt Benedikt Kaiser, warum sich die Lektüre vor allem für Leser in der BRD lohnt.

Benedikt Kaiser
Kommentar von
13.5.2024
/
5 Minuten Lesezeit
„Investigative Biografie“ über FPÖ-Chef: „Kickl und die Zerstörung Europas“ – aber lesenswert!

Herbert Kickl ist ein Phänomen der gesamten deutschsprachigen Politik. Er ist längst eine Hoffnungsfigur mit Kanzlerpotential für das freiheitliche Lager in Österreich und ein Vorbild für die alternative Politik in der BRD – das macht ihn natürlich zum Schrecken des linksliberalen polit-medialen Komplexes hier wie dort.

Nun haben sich mit Gernot Bauer und Robert Treichler zwei Journalisten des Nachrichtenmagazins profil – für bundesdeutsche Leser: in Sound und Stoßrichtung dem Spiegel vergleichbar – aufgemacht, dieses polarisierende Phänomen Kickl zu erklären, in ihrem Sinne: darüber aufzuklären. Sie beanspruchen zwar, kein „aktivistisches Buch“ geschrieben zu haben, sondern ein politisches, beobachtendes. Aber man kennt die Grauzone aus dem realpolitischen Alltag: Die Grenzen zwischen politischem Erkenntnisdrang und eigenen Setzungen (also: „Aktivismus“) erweisen sich oft als fluide. So auch in diesem Fall, der mit einem peinlichen Auftakt beginnt – respektive mit einem sogenannten Erratum der Autoren auf der Netzseite ihres Verlages:

„In unserem Buch 'Kickl und die Zerstörung Europas' ist uns ein bedauerlicher Fehler unterlaufen. Aufgrund einer Verwechslung haben wir fälschlich Leopoldine und Johann Lackner als Herbert Kickls Großeltern mütterlicherseits genannt. Tatsächlich sind Josefa und Josef Lackner seine Großeltern mütterlicherseits. Wir bitten alle Genannten um Entschuldigung. Die entsprechende Passage im Buch wird selbstverständlich in der zweiten Auflage korrigiert.“

Verschwommene Grenzen zwischen Erkenntnis und Journalismus

Nun könnte man spotten und die erste Auflage zuklappen, bevor es eine mögliche zweite gibt. Aber Fehler sind nicht nur oft bezeichnend, sondern eben auch menschlich, und so steigen wir ein in ein Buch, das eingangs veranschaulicht, dass Wahlerfolge die Konsequenzen aus vor- beziehungsweise metapolitischen Stimmungsverschiebungen sind (und nicht andersherum), wenn die Autoren den Grund für „rechtspopulistische“ beziehungsweise rechte Umfragehöhenflüge darin erkennen, dass es in Teilen Europas eine „Werteverschiebung“ gibt, eine „politische Kulturrevolution, die auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu spüren ist“, von denen Rechtsparteien zehren können. Kickl, so wird in vorliegendem Buch deutlich, hat mit dieser vorpolitischen Stimmungsverlagerung gerechnet, und er hat sie aktiv unterstützt.

Anders als sein Vorgänger im Amt des FPÖ-Parteiobmanns, Norbert Hofer, verfügt der gebürtige Kärntner und Wahl-Niederösterreicher über ein fruchtbares Verständnis von Partei und Vorfeld sowie von konstruktiver Verzahnungsarbeit zwischen Parteigliederungen und Projekten der medialen Gegenöffentlichkeit. Auch (aber natürlich nicht nur) daran liegt es, dass Kickl seine Blauen von Platz 3 auf Platz 1 in den Umfragen führte, plastischer: von rund 17 Prozent auf über 30 Prozent. Im Herbst 2024 wird er womöglich „Volkskanzler“ sein – was die Autoren dazu bringt, tief in die Biografie Kickls einzusteigen. Das gelingt, siehe oben, mal weniger, dann, wenn es um FPÖ-Scheidewege geht (BZÖ-Spaltung u. dgl.), mal mehr. Kickl jedenfalls hat keinen eigenen Beitrag zum Buch geliefert; er stand für Gespräche nicht zur Verfügung. Eine selbstbewusste Entscheidung, die man nachvollziehen kann: Der Eindruck eines nichtösterreichischen, nicht-FPÖ-gebundenen (aber gleichwohl parteiischen) Lesers ist nämlich der: Kickls O-Töne und Hinweise hätten nur den Schein vermitteln sollen, man hätte ja seitens der Journalisten das offene Gespräch gesucht und beide Seiten gehört.

Für eine solche Zuliefererrolle wollte sich Kickl wohl nicht nutzen lassen. Denn das Werturteil der Autoren, das nicht zuletzt auch im Buchtitel selbst kenntlich wird, stand von vornherein fest; Kickl hätte nur die Autoren legitimierende Zitate beisteuern können, wobei der vielleicht erste freiheitliche Kanzler in der Geschichte der Republik drängenderes mit seiner Zeit anzustellen haben dürfte. „Medien“, so bekritteln die Autoren Bauer und Treichler, seien für Kickl „politische Gegner in einer anderen Verkleidung“. Nun: Sollte Kickl dieses Buch lesen, dürfte er sich in dieser Haltung eher bestärkt sehen.

Drei Gründe für die Lektüre

Nach so viel Grundsatzkritik am Charakter vorliegender Studie: Lohnt es sich dennoch, sie zu lesen? Zweifelsohne ja! Es lohnt sich trotz seines genuin österreichischen Themas – ironischerweise? – vor allem für Leser in der BRD. Diese können die vorliegenden Analysen diverser FPÖ-Weichenstellungen und -Zäsuren als Folie nutzen – und zwar für entsprechende Rückschlüsse für die eigene patriotische Sammlungspartei, die Alternative für Deutschland (AfD).

Drei Gründe sind beispielhaft zu nennen.

Da wäre – erstens – die Rolle der FPÖ als „soziale Heimatpartei“. Diese Selbstpositionierung, die erheblich zum Erfolg der Partei beiträgt, die einst eine nationalliberale Honoratiorenversammlung verkörperte (war das die AfD nicht auch in der Gründungsphase?), stammt explizit von Kickl, der die Blauen von einem Projekt des elitären Wirtschaftsliberalismus zu einer Volkspartei mit zwei thematischen Hauptstandbeinen machte: soziale und innere Sicherheit. Kickl, den – wie sein frühes Vorbild Jörg Haider – wenig mehr irritiert als die Feigheit des bürgerlichen Lagers, wird von den Autoren denn auch so zitiert, wonach er mit bestimmten Linken mehr gemeinsam habe „als mit irgendwelchen Turbokapitalisten“, außerdem könne ein „revolutionärer Anspruch“, das heißt ein eminent gesellschaftsverändernder, explizit auch „von rechts“ kommen.

Die Autoren räumen hier ein: Kickl vertritt den Standpunkt für „den kleinen Mann“, also den Arbeiter, Angestellten oder kleinen Selbstständigen, vollkommen glaubwürdig. Sie schränken freilich ein, dass er diese sozialpolitische Schwerpunktlegung auf österreichische Staatsbürger begrenze, was einerseits der klassischen landsmannschaftlichen Parteilichkeit entspricht und andererseits der „nationalen Präferenz“ im Programm Marine Le Pens und ihres Rassemblement National. Dafür wählt man ja just FPÖ (oder AfD), das ist keine Enthüllung. Und die Autoren müssen sich selbst – mit dem Historiker Pierre Rosanvallon – eingestehen, dass für potenzielle Wähler einer Rechtspartei in Westeuropa die soziale (materielle) und die identitäre (kulturelle) Frage ein untrennbares Duo sind: beide Ebenen wirken zusammen; Kickl erfasste das früh und entwickelte einen praxisbezogenen, theoriedünneren, stark intuitiven sozialen Patriotismus.

Die soziale Frage brennt

Zweitens ist als lehrreich zu klassifizieren, wie deutlich wird, dass der Typus Kickl jener ist, den eine volksverbundene Rechtspartei tatsächlich an der Spitze benötigt – ob in Österreich oder Deutschland. Er meide glamouröse Veranstaltungen, will von den „Eliten“ und Großkopferten nicht geliebt werden, bemühe sich, anders als anno dazumal Norbert Hofer, nicht um das Wohlgefallen der Schwarzen. Die Autoren machen gemeinverständlich deutlich: Dort, wo der Typus Hofer die ÖVP (BRD: CDU/CSU) umschmeichelt, nachahmt und sich um ihre Gunst bemüht, mündet dies in unverhohlene „Anbiederung“.

Kickls Weg erweist sich als gegenteilig: Er erkannte, spätestens seit der gescheiterten Koalition mit Kanzler Sebastian Kurz 2019, in den Schwarzen den politischen Hauptgegner. Das zahlt sich aus, beim eigenen Stammwähler, aber eben auch bei den zu mobilisierenden Nichtwählern. So führte Kickl die FPÖ auf Platz 1.

Drittens wird anhand des vorliegenden Buches die Ratlosigkeit der politischen Gegner offenkundig. Da wird in einem Zwischenfazit gemutmaßt, Kickl und Co. würden danach streben, „Errungenschaften“ der Etablierten ebenso abzutragen, wie sie den „Kontinent in die Gegenrichtung (zu) führen“ trachten. Ja, wohin denn sonst? Wer sich die herrschenden Verhältnisse – sozial, kulturell, wirtschaftlich, außenpolitisch usf. – ansieht, und dies von einem standpunktgebundenen, also weltanschaulichen Denken, beispielshalber auf freiheitliche Weise, tut, wird zu kaum einem anderen Ergebnis kommen können.

Herbert Kickl ist damit auf Kurs, die FPÖ unter seiner Ägide ist es auch – und es bleibt aus bundesdeutscher Sicht zu hoffen, dass insbesondere weite Teile des verantwortlichen Spitzenpersonals endlich einmal „mehr Kickl“ wagen. Wenn die Lektüre der vorliegenden Studie dazu beitragen kann, ist es umso besser; dann haben die Autoren Gernot Bauer und Robert Treichler ihr Scherflein zur Rettung – nicht: Zerstörung – Europas beigetragen.

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Zur Person:

Benedikt Kaiser, geboren 1987, ist Politikwissenschaftler, Lektor und Publizist. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Theoriearbeit und der praktischen Wissensvermittlung. Zuletzt erschien sein viel beachteter Sammelband Die Konvergenz der Krisen.


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