„No Putin. No War“: „Kollektive Aktionen“ und die russische Opposition in Berlin

Hunderte Exilrussen haben am vergangenen Sonntag in Berlin gegen den Krieg in der Ukraine und gegen Wladimir Putin demonstriert. Der Autor Ilia Ryvkin war dabei und verrät in seiner Kolumne für FREILICH, wer wirklich auf Berlins Straßen unterwegs war.

Kommentar von
21.11.2024
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5 Minuten Lesezeit
„No Putin. No War“: „Kollektive Aktionen“ und die russische Opposition in Berlin

Am Sonntag demonstrierten in Berlin Hunderte gegen den Ukrainekrieg und Putin.

© IMAGO / Funke Foto Services

Stellen Sie sich vor, Sie laufen im Nebel durch den Wald, und mitten auf einer sumpfigen Wiese hängt ein rotes Banner, an Tannenästen befestigt, mit irgendeinem tiefsinnigen Quatsch. Ganz egal, was darauf steht – es könnte ein Kunstwerk der konzeptualistischen Künstlergruppe „Kollektive Aktionen“ aus den späten Siebzigern sein. Diese Gruppe zählte zu den einflussreichsten Formationen des Moskauer Konzeptualismus.

Prozession der „russischen“ „Opposition“

Die „Kollektiven Aktionen“ erlangten eine gewisse Berühmtheit durch ihre performativen Werke, die sie oft außerhalb der Stadtgrenzen, in Wäldern oder auf Feldern positionierten. Radikal minimalistisch, richteten sie den Fokus auf die Erfahrung der Teilnehmer. Banale Handlungen – gemeinsames Gehen, das Lesen eines Textes oder das stille Betrachten der Natur wurden von den Künstlern akribisch dokumentiert. Dokumentationen in Form von Fotos, Texten und Objekten wurden zu zentralen Bestandteilen ihrer Arbeit und flossen in das fortlaufende Archiv „Trips to the Countryside“ ein. 

Nicht, dass ich die Moskauer Konzeptualisten, diese Spätzünder des senilen Sowjetismus, wohlwollend beurteilen möchte – doch immerhin liefern sie mir Maß und Optik, um die heutige Prozession der „russischen“ „Opposition“ auf den Berliner Straßen einzuschätzen.

Weiß und blau statt rot

Ich steige aus der U-Bahn Potsdamer Platz aus, kurz vor halb drei, und da sehe ich schon die weiß-blau-weiße Raupe Richtung Anhalter Bahnhof ziehen. Was soll diese Farbkombination bedeuten? Weiß und Blau – Vor lauter Frieden und Freiheit hat man anscheinend das ur-russische Rot, die Farbe des Christusbanners, unter dem die Gardarika-Fürsten gegen die Polowetzer zogen, vergessen? Sieht die Fahne nicht nach dem israelitischen Talith aus?

Die Frage habe ich bereits in meinem Buch behandelt. Dennoch stellt sie sich mir nun erneut, als ich einen Tweet von FreeRussia.nl lese: Es geht um das potenzielle Risiko von Palästinensern mit Zionisten verwechselt zu werden. Die Fahne wurde von einer in Berlin lebenden „trans“ Person namens Kai entworfen. Kai hat das Rot bewusst weggelassen, da es vermeintlich alles Blutige und Imperialistische symbolisiert. Statt sich mit Selbstverstümmelung zu begnügen, scheint „Kai“ seine Verstümmelungsfantasien auf das ganze Land auszubreiten. Russland– eine blutleere, vom Vampir ausgesaugte Leiche. Dankeschön.

„Putin hat Nawalny getötet“

Ich will mich der Kolonne anschließen, da ertönt ihr Sprechchor: „Putin hat Nawalny getötet! Putin hat Nawalny umgebracht!“ Keine politische Forderung sondern ein Glaubensbekenntnis. Es erinnert an „Schahseh-Vahsai“-Rituale bei Aschura: rachsüchtige Gedenkrituale um den gefallenen Anführer. Nawalny, heißt es, soll einer Herzkrankheit erlegen sein – doch für diese Gruppe spielt das keine Rolle. Allein der Glaube zählt. Ein Aktivist der Anti-Korruptionsstiftung twitterte kürzlich: „Nur drei Menschen haben ihr Leben für andere geopfert: Jesus Christus, Harry Potter und Nawalny.“

Regenbogenfahnen und aufblasbare, pinke Einhörner wehen über der Menge.  Einige der Mädchen tragen Hüte mit Tierohren und jemand hinter mir fragt: „Sind das Quadrobers?“ Im Internet steht, dass Russland die Jugendbewegung der „Quadrobers“, junge Leute, die sich als Tier identifizieren, verboten hat. „Nein“, lautet die Antwort, „Quadrober laufen doch auf vier Beinen, diese hier nicht, das sind Furries.“ Alles klar!

Inszenierung vor der Kamera

Am meisten wird in der Sprache des Geldgebers skandiert: „Fuck Putin — Fuck War!“ Nicht gerade auf dem Niveau von Oskar Wilde, aber für diese Inszenierung reicht es offenbar.

Ich passiere zwei Matronen, die sich vor einer Fernsehkamera für ein Interview aufstellen – angenehme Vertreterinnen der Moskauer Intelligenzija, die sich ordentlich und öffentlich gegen den Krieg aussprechen. Doch ihr levantinisches Aussehen weckte in mir eher das Interesse, ihre Meinung zum Genozid in Gaza zu erfahren, den wir tagtäglich live miterleben können. Leider bin ich nicht derjenige, der hier die Fragen stellt.

Putin wird einfach nur gehasst

Wenn wir schon beim Thema sind, möchte ich – unabhängig von meiner eigenen Meinung zum Nahostkonflikt – diese Demonstration mit denen der Palästinenser vergleichen. Der in Deutschland verbotene Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ ist in seiner Aussage zumindest affirmativ und zukunftsgerichtet. Auf dieser Demo hingegen drehte sich alles um die düstere Figur Putins, der einfach nur gehasst wird.

Ein entscheidender und wichtiger Unterschied: Niemand fährt Palästinenser zu ihren Demonstrationen mit Bussen. Früher war das in Russland ähnlich. Verstehen Sie mich nicht falsch – es gibt unzählige Gründe, gegen Putin zu sein. Von rechts, von links, aus einer ökologischen Perspektive, aus einem altritualistischen Narrativ … Auch ich habe mich einst mit anderen jungen Aktivisten aus einer Provinzstadt auf eigene Faust nach Moskau aufgemacht, entschlossen, trotz aller Widrigkeiten unsere Stimme zu erheben. Die Polizei versuchte, uns in Regionalzügen abzufangen, doch wir ließen uns nicht entmutigen.

Hier ist es anders. Ich spreche mit zwei Pfaffen aus Paris, von der Kathedrale Saint-Alexandre-Nevsky in der Rue Daru. Es ging nicht darum, dass Aktivisten auf eigene Kosten angereist wären. Nein, da gab es einen Anruf oder eine E-Mail aus „Konstantinopel“ – oder von der Westdienste-Zentrale für Ostorthodoxie, die wohl in der Schweiz liegt. Es wurde ein Budget festgelegt, das Väterchen zählt seine Schäfchen und weiß, wie viel er pro Kopf erhält.

Ich sage das nur, um den Unterschied klarzumachen: es geht mir an der Stelle nicht um Palästinasympathien, doch ihre Motive für den Protest sind grundlegend anders.

Die Finanziers des Protests

Entlang des Zuges begegnen mir alte Bekannte: jene Veteranen deutscher Demokratieförderungsstiftungen, die einst mit missionarischem Eifer das rückständige Russland zivilisieren wollten, gealtert, ausgelaugt, als wollten sie in einem Dostojewski-Roman den Idioten spielen. Wirklich spannend ist, wer die Party finanziert. Laut russischen Quellen fließt das Geld direkt vom ukrainischen Präsidialamt. Würden an der Spitze der Kolonne Plakate mit „Taurus für die Ukraine“ hochgehalten, könnte man fast glauben, dass die Sache direkt aus diesem Kreise organisiert wurde.

Mehr noch: Ich entdeckte einige Vermummte mit Abzeichen des „Russischen Freiwilligen Korps“ – russische Neonazis, ganz neutral ausgedrückt. Als ich den zuständigen Beamten frage, ob es beim Vermummungsverbot Ausnahmen gäbe, reagiert er mit einem „Ich verstehe Sie nicht“, obwohl ich klar und deutlich spreche.

Im Klartext: Unter besonders enger polizeilicher Betreuung marschieren heute russische Neonazis durch die Straßen Berlins. Ich bin nicht in dieser Szene unterwegs, aber ich frage mich, ob ihre deutschen Kameraden wissen, dass alle Kader aus Russland unter staatlicher Beobachtung stehen. Ein Beamter verdient sein Gehalt nicht, wenn er sich in solchen Fällen dumm stellt.

Antifa und Neonazis Schulter an Schulter

Aber auch die Antifa – die gesamte russische Anarchoszene hat sich nach Berlin verlagert und wird bequem von der Stadtkasse unterstützt. Zecken und Glatzen, Schulter an Schulter. Und dazu all die gescheiterten Lebenskünstler, Berufshedonisten und Designerdrogensommeliers. Man könnte meinen, während der Westen Sanktionen verhängt und Raketen gegen Putin schickt, liefert Putin im Rahmen seiner „unbegrenzten Kriegsführung“ dieses Gesocks hierher.

„Ein Meer wunderbarer Gesichter“, bezeichnet der Redner Wladimir Kara-Murza das, was sich da vor ihm auftürmt. Eher ein sehr kleiner Teich ist es, der beginnt „Nawalny! Nawalny!“ zu skandieren. Mich überkommt ein ungutes Gefühl. Kann es daran gelegen haben, dass das Spektakel ausgerechnet am Volkstrauertag stattfindet, dem Tag des „Frostmondes“, des November-Vollmondes, der in den alten Bräuchen der Hekate, der Göttin der Toten und Hexen, geweiht ist? Fast scheint es; als beschwöre das Grüppchen einen Totengeist. „Bitte finden Sie alle Ihre Gruppenleiter, um die Tickets abzurechnen“. Die ewig verkaterte Stimme von Frau Nawalny kann ich nicht mehr ertragen, und wechsle die Straßenseite. Dort vor dem Botschaftsgebäude steht ein einsamer Junge mit einer russischen Fahne, wie der römische Soldat, dessen Knochen vor den Toren Pompejis gefunden wurden, von Oswald Spengler beschrieben: Er kam ums Leben, weil man vergessen hatte, den Rückzugsbefehl zu erteilen, während der Vesuv wütete.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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