„Statt noch mehr Migration brauchen wir eine Remigration“
Im Interview mit FREILICH spricht Carlo Clemens (AfD) über die bildungspolitische Lage in Nordrhein-Westfalen, den Lehrer- und Handwerkermangel im Land und darüber, warum eine Massenzuwanderung von unqualifizierten Migranten nach Deutschland keine Lösung für die bestehenden Probleme darstellt.
FREILICH: Herr Clemens, können Sie uns zu Beginn in ein paar Sätzen die bildungspolitische Lage in Nordrhein-Westfalen darstellen?
Carlo Clemens: Im Westen nichts Neues. Wir folgen dem Abwärtstrend der letzten Jahre. Die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends sprechen eine klare Sprache. Jeder fünfte Viertklässler erfüllt nicht die geringsten Standards im Lesen und Rechnen, bei der Rechtschreibung sind es fast ein Drittel. Die Ergebnisse aus Nordrhein-Westfalen liegen noch einmal deutlich unter dem Bundesschnitt. Bundesweite Entwicklungen wie fehlgeleitete Inklusion, Lehrermangel und Überakademisierung treffen auf eine in NRW ganz besonders ausgeprägte Heterogenität bei der Schülerschaft, bei der am Ende sowohl die einheimischen als auch die zugewanderten Kinder und Jugendlichen Probleme bekommen. NRW straft also die alte Sichtweise Lügen, dass ein Land nur CDU-regiert sein müsse, damit die Bildungspolitik rund läuft.
Es wird gern über die Krise des Schulwesens geschrieben und dabei ein Fokus auf Lehrermangel und unzureichende Infrastruktur an den Schulen gelegt. Gibt es Ihrer Meinung nach auch ein Problem auf Seiten der Kinder beziehungsweise deren Elternhäuser?
Natürlich ist die Bildungsmisere keine Einbahnstraße und selbst vermeintlich systemseitige Phänomene wie der Lehrermangel oder die übermäßige Neigung zur Teilzeitbeschäftigung bei Lehrkräften – wir reden hier von 40 Prozent aller Lehrer! – sind häufig Resultat gesellschaftlicher Entwicklungen. Wer an Brennpunktschulen im Ruhrpott als Lehrer ein Klassenzimmer betritt, muss mitunter mit handfester Gewalt rechnen. Fast die Hälfte der Schulleitungen in NRW berichtete zuletzt in einer repräsentativen Studie von körperlichen Angriffen oder Cybermobbing. Drei Viertel erklärten, dass Lehrerkollegen beschimpft, bedroht, beleidigt oder gemobbt wurden. Über 20.000 Straftaten an NRW-Schulen gab es allein in den ersten zehn Monaten in 2022 – darunter Sex-Delikte und gefährliche Körperverletzungen. Das ergibt 124 Straftaten pro Schultag. Das Thema „Integration“ ist allgegenwärtig und wird durch die aktuelle Rekordmigration angefeuert: Mehr als 200.000 ukrainische Schüler ohne Deutschkenntnisse besuchen inzwischen deutsche Schulen. Natürlich macht es auch einen Unterschied bei der Lernqualität, ob engagierte Eltern bei den Hausaufgaben helfen oder es zuhause an einem ordentlichen Lernumfeld mangelt. Die allgemein abnehmende Sprach- und Lesekompetenz ist kein Problem, das sich auf ausländische Kinder beschränkt!
Rund 42 Prozent aller Ausbildungsbetriebe können nicht alle angebotenen Ausbildungsplätze besetzen. Ist das ein Problem des Handwerks oder des Ausbildungswesens?
Es ist ursächlich ein Problem gesellschaftlicher Erwartungen. Noch immer haftet Ausbildungsberufen im Vergleich zu akademischen Berufen ein Makel an. In Folge dessen erleben wir eine Inflation des Abiturs, das immer weniger aussagekräftig ist und Studentenzahlen von zuletzt drei Millionen produziert – 30 Prozent mehr als noch im Wintersemester 2007/2008. Dabei ist ein Elektrikermeister auf dem Arbeitsmarkt nicht nur gefragter als der hunderttausendste BWLer – auch gehaltsmäßig sticht er viele Studierte aus. Im Landtag beantragten wir eine obligatorische „Handwerksmesse“ an weiterführenden Schulen, um frühzeitig systematisch Alternativen zum Studium aufzuzeigen.
Dann haben wir noch innerhalb des Ausbildungsmarktes große Ungleichgewichte. Über ein Drittel der Azubis konzentriert sich auf die gleichen zehn Ausbildungsberufe, vorwiegend im kaufmännischen Bereich. Wir haben über 300 Ausbildungsberufe – viele von ihnen müssen bekannter werden! Es ist übrigens statistisch bewiesen, dass Ausbildungsbetriebe, die überdurchschnittliche Löhne zahlen und mehr unbefristete Stellen ausschreiben, deutlich weniger unbesetzte Stellen ausweisen. Ein großer Punkt, weshalb es so wenig junge Leute in die Berufsausbildung zieht, ist die Tatsache, dass viele am Ende tatsächlich zu wenig Geld verdienen. In Krisenzeiten ist das ein Ausschlusskriterium, das sich nicht von der Hand weisen lässt. Und es zeigt, dass sich Betriebe auch wirklich um junge Menschen bemühen sollten!
Bei rund 100.000 Studienabbrechern jährlich, wie macht man aus erfolglosen Akademikern selbstbewusste Auszubildende?
Wir sprechen von einem Drittel Studienabbrechern im Bachelorstudium. Einen großen Teil dieser Abbrecher verschlägt es im Anschluss dann doch auf den Ausbildungsmarkt – nur dass dieser Umweg der Wirtschaft, dem Rentensystem und natürlich auch den jungen Menschen selbst schadet. Ein Wechsel vom Studium in eine Berufsausbildung ist oftmals Ergebnis eines Reflexionsprozesses. Leider versagt die Berufsorientierung in der Schule zu oft und viele junge Menschen kennen nicht ihre vielseitigen Möglichkeiten. Das Abitur mit anschließendem Studium gilt als Königsweg. Von Seiten der Politik müssen wir die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten unterstreichen. Dazu gehört es, Azubis nicht länger von den zahlreichen Privilegien der Studenten auszuklammern, zum Beispiel bei geförderten ÖPNV-Tickets, preiswerten Wohnheimen, Rabatten in Kultureinrichtungen, Stipendien und so weiter. Im Landtag haben wir einen Meisterbonus als besondere Anerkennung gefordert. In Hochschulen braucht es flächendeckend Beratungsangebote für Studienabbrecher und Studienzweifler. Agenturen für Arbeit, IHK, Handwerkskammern etc. müssen noch enger kooperieren und sich auch mit lokalen Ausbildungsbetrieben vernetzen.
Welche Angebote müssen Betriebe jungen Menschen Ihrer Ansicht nach machen, um auch Jugendliche mit Hochschulreife für einen Ausbildungsberuf zu begeistern?
Natürlich wirken ein paar Jahre Studentenleben für die meisten Abiturienten erstmal reizvoller, als sich morgens früh aus dem Bett zu quälen, um Brötchen zu backen, aufs Dach zu steigen oder Rohre zu reparieren. Handwerksbetriebe tun aber gut daran, auch mit der langfristigen Perspektive zu werben: zum einen fangen Azubis früher an, ihr Geld in einem sozialversicherungspflichtigen Job zu verdienen. Zum anderen werden Handwerker händeringend gebraucht. Im Handwerk ist ein Drittel der Beschäftigten über 50 Jahre alt. Das absehbare Ausscheiden der „Babyboomer“ aus dem Arbeitsmarkt verstärkt die Tendenz. Dadurch steigen hoffentlich die gesellschaftliche Anerkennung und der Reiz, sich die Hände schmutzig zu machen. Mancher „Alles-und-Nichts“-Akademiker fragt sich am Ende seines Tages oft: was habe ich heute eigentlich den ganzen Tag am Rechner geleistet?
Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Anforderungsprofil: Was sind die wichtigsten Merkmale im Sinne von Eigenschaften und Fähigkeiten, mit denen die Schule die Jugendlichen ausstatten muss?
Schulabgänger sollten strapazierfähiger sein als man es der Generation Z nachsagt. Ganz praktisch sollten wir Jugendliche „lebensfähiger“ machen als es bislang der Fall ist. Ich plädiere für mehr praxisorientierte Potenzialanalysen im Schulbereich. Viel zu vielen jungen Menschen fehlt die Anleitung. Auch, weil Lehrer oftmals nichts anderes kennen als den schulischen und den universitären Bereich und an vielen Schulen der allgegenwärtige Mangel nur noch verwaltet wird. Viele Schüler aus bildungsfernen Verhältnissen irren orientierungslos umher, hören auf die falschen Freunde statt den eigenen Weg zu gehen.
Sie und ihre Partei zählen zu den lautesten Kritikern der Masseneinwanderung. Wieso sollte Deutschland seinen Fachkräftemangel nicht durch Migration beheben?
Es ist das eine, punktuell und bedarfsorientiert einzelne hochqualifizierte Migranten für Stellen anzuwerben, für die sich in Deutschland kein Bewerber findet. Das können Unternehmen aus guten Gründen bereits jetzt machen – hierfür braucht es keine Initiative. Etwas ganz anderes ist es, der bereits bestehenden Massenzuwanderung unqualifizierter Migranten nun eine weitere Massenzuwanderung angeblich tatsächlicher Fachkräfte hinzuzugesellen. Unsere Belastungsgrenzen sind doch schon erreicht: beim Lehrer- und beim Erziehermangel, beim Wohnraummangel, in den Fragen der Sozialsysteme und der Integrationsprobleme. Forderungen nach noch mehr Zuwanderung gemäß einer „Auffüllungslogik“ degradiert Menschen zu beliebig verschiebbaren Schachfiguren, deren Verlust der eigenen Heimat das Wasser abgräbt und hierzulande in vielen Branchen das Lohnniveau drückt und zu Verteilungskämpfen führt.
Wie könnte NRW/ die Bundesrepublik ihre Probleme im Bildungs- und Arbeitssektor auch ohne Migration beheben?
Grundsätzlich gibt es im Arbeitssektor Potenziale bei der Digitalisierung und Technisierung. Länder wie Japan sind hier große Vorreiter.
Mittel- und langfristig brauchen wir ein Umdenken in der Familienpolitik und einen Wandel hin zu einer strategischen Demografiepolitik. Dabei sollten wir uns Länder wie Ungarn oder Frankreich zum Vorbild nehmen, wo ganz gezielt dritte und weitere Kinder begünstigt werden. Und zwar nicht mit Transferleistungen, die letztlich Armutsmilieus vergrößern, sondern mit substanziellen Lohnsteuersenkungen. Auch rund 100.000 Abtreibungen pro Jahr summieren sich zu Millionen Menschen, die uns als Arbeitskräfte fehlen – von der ethischen Problematik gar nicht angefangen.
Es gibt rund 3,4 Millionen Deutsche im Ausland, die dank der desaströsen Politik in Deutschland jedes Jahr mehr werden. Hiervon sind 2,7 Millionen im erwerbsfähigen Alter. Der Anteil Hochqualifizierter liegt bei 40 Prozent. 1,8 Millionen leben im europäischen Ausland. Statt noch mehr kulturfremder Migration brauchen wir im doppelten Sinne Remigration: dazu gehört auch die Rückkehr deutscher Fachkräfte durch Anreize wie einer Rückkehrprämie und Entlastungen bei Steuern und Abgaben für kleine und mittlere Einkommen.
Am Ende müssen wir uns auch fragen, ob es uns unendliches Wirtschaftswachstum wert ist, die kulturelle Identität Deutschlands im Zuge der Globalisierung zunehmend zu verlieren. Eine konsequente Arbeits- und Migrationspolitik, die primär auf inländische Potenziale setzt, nimmt einen gewissen Wachstumsverzicht in Kauf. Das muss uns bewusst sein und hier wird man in der AfD noch viele Debatten führen müssen.
Welche Rolle spielt der Ausbau digitaler Technologien an Schulen für Ihre Problemlösung?
Grundsätzlich müssen Schüler auf die Herausforderungen einer digitalisierten Gesellschaft vorbereitet werden, wozu auch Investitionen in die technische Ausstattung von Schulen nötig sind. Ich halte das Thema aber nicht für den Dreh- und Angelpunkt einer vernünftigen Bildungspolitik und sehe auch Gefahren, Kinder zu früh digitalen Endgeräten auszusetzen. Hier wird oft versucht, mit hippen Buzzwords von Problemen abzulenken, die besser mit Händen zu greifen sind. Berufsausbildungen, vor allem im technischen Bereich, müssen sich angesichts der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeits- und Berufswelt natürlich weiterentwickeln und auf die „Industrialisierung 4.0“ einstellen. Aufgabenfelder und Anforderungsprofile verändern sich stetig.
Nur wenige Lehrer sind nach Pensionsbeginn willens noch einmal zum Schuldienst zurückzukehren, welche Angebote könnte man diesen machen?
Pensionen sind im Vergleich zu vielen Altersrenten immer noch auskömmlich. Monetäre Anreize sind für ehemalige Lehrkräfte nur bedingt ein Grund, wieder Vertretungsstunden anzunehmen. Ein sicheres Arbeitsumfeld in urbanen Brennpunkten und bessere Arbeitsbedingungen durch weniger Alltagsbürokratie und eine Umkehr bei der ideologischen Inklusion würde die Sehnsucht sicher größer werden lassen.
Welche Probleme im Ausbildungs- und Schulsektor lassen sich durch Investitionen tätigen und sehen Sie Mängel tiefgehender Natur?
Wenn NRW im Bildungsvergleich aufsteigen will, muss es Geld in die Hand nehmen. Egal ob die Imagekampagne fürs Handwerk, Vergünstigungen für Auszubildende oder eine Rückkehrprämie für Auslandsdeutsche: gute Politik hat ihren Preis. Gute Bildung steht und fällt ganz grundsätzlich durch gute und vor allem durch ausreichend Lehrer. Aber um den dramatischen Lehrermangel, gerade auch in Berufsschulen, zu beheben, müssen die allgemeinen Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte besser werden. Bereits jetzt klagen laut Deutschem Schulbarometer 85 Prozent der Lehrer über eine starke oder sehr starke Arbeitsbelastung. Das ist ganz klar Resultat von ideologischen politischen Fehlentscheidungen der Vergangenheit – im bildungspolitischen wie auch im gesamtgesellschaftlichen Bereich.
Herr Clemens, vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person:
Carlo Clemens (33) ist bildungspolitischer Sprecher der AfD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen und Beisitzer im Bundesvorstand der AfD. Er studierte Geschichte und Deutsch auf Lehramt für Gymnasien und Gesamtschulen.
Eine empfehlenswerte IfS-Studie zum Thema finden Sie unter folgendem Link: https://antaios.de/buecher-anderer-verlage/institut-fuer-staatspolitik/wissenschaftliche-reihe/76722/fachkraeftesicherung-ohne-masseneinwanderung