Afrika wächst: Leidet der Schwarze Kontinent an „Überbevölkerung“?

Der globale Norden altert, der globale Süden wächst. Doch was ist dran an der vermeintlichen Überbevölkerung, vor allem im schnell wachsenden Afrika?

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Afrika wächst: Leidet der Schwarze Kontinent an „Überbevölkerung“?

Menschen in einem Slum der Hauptstadt Kenias. (Symbolbild)

© IMAGO / Joerg Boethling

Hunger und Elend in der Dritten Welt, Millionen Menschen auf der Flucht – und ein konsumfreudiger Westen, dessen Bevölkerungspyramide immer mehr die Form einer Urne annimmt und der deshalb den Überschuss aus den Entwicklungsländern als billiges Humankapital für Hilfsarbeiten importiert, in der naiven Hoffnung, damit sein Rentensystem zu retten. Zusammen bilden sie eine Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen, die Raubbau an unserem Planeten betreiben: So die gängige Annahme. Doch das Thema „Überbevölkerung“ ist komplexer, vor allem, wenn es um den Schwarzen Kontinent geht.

Zu viele oder zu wenige Menschen?

Mit Jack Ma (Alibaba Group) und Elon Musk (Tesla, X & Co.) haben 2019 zwei der erfolgreichsten Unternehmer der Welt mit einem Tabubruch überrascht: Nicht die Endlichkeit der Ressourcen sei die größte Gefahr für die Welt, sondern der drohende Bevölkerungskollaps durch weltweit – vor allem in den Industrieländern – sinkende Geburtenraten und die Überalterung der Gesellschaft. Drei Jahre später wiederholte Musk seine These – und prompt waren die „Faktenchecker“ der Mainstream-Medien zur Stelle, um zu erklären, dass er „total unrecht“ habe.

Denn die vorherrschende Denkschule stützt sich auf den Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ (1972) des Club of Rome. Dieser postulierte: Selbst mit fortschrittlicher Technologie könne die Weltbevölkerung im Jahr 2100 nicht aufrechterhalten werden. Vertreter dieser These halten es auch für „nachhaltiger“, wenn die Weltbevölkerung auf 3 Milliarden Menschen schrumpft. Der Bevölkerungswissenschaftler Wolfgang Lutz hat dies im ZIB2-Interview im letzten Jahr als wünschenswert bezeichnet.

„Überbevölkerung“ als Malthus‘ Erbe

Er problematisierte: Mehr Menschen würden einen größeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen, umgekehrt kämen die Nahrungsmittel in den armen und schnell wachsenden Kontinenten nicht an. Hier müsse „interveniert“ werden, zum Beispiel durch Anreize für Frauen, weniger Kinder zu bekommen. Als „positives“ Beispiel nannte er die Familienpolitik in Mauritius ab den 1960er-Jahren, als kinderreiche Familien in der staatlichen Propaganda als asozial und kinderarme Familien als glücklich dargestellt wurden.

Die Wurzeln dieses Gedankens reichen weiter zurück: Der britische Ökonom Thomas Malthus stellte 1798 die These auf, dass sich die Menschen unbegrenzt vermehren, die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt aber nicht in gleichem Maße. So weit, so gut – aber er folgerte daraus, dass die Reallöhne sinken und gleichzeitig das Bildungsniveau der Armen steigen müsse, um die Zahl der Menschen zu begrenzen. Wer weniger Mäuler zu stopfen hatte, würde weniger Kinder zeugen. Die strenge englische Klassengesellschaft nahm diese Logik gerne an.

Durch Afrika bestätigt oder widerlegt?

Falsifiziert wurde er durch die Realität, er unterschätzte die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung und die Fähigkeit, die Menschen mit Nahrung zu versorgen. Es folgte der Wohlstand; auch weil Kinderreichtum nicht mehr die einzige „Lebensversicherung“ armer Familien war, sank in der Folge erstmals die Geburtenrate – aber das Elend der armen Bevölkerungsschichten wuchs trotzdem schneller als die Zahl der Bürger. Bis heute gibt es die höchsten Geburtenraten in Entwicklungs- und Schwellenländern, obwohl diese deutlich weniger Kinder ernähren könnten als die wohlhabenden Industriestaaten.

Neo-Malthusianer sehen im hohen Bevölkerungswachstum Afrikas ein Entwicklungshemmnis – und das erscheint statistisch gewaltig. Lebten vor 50 Jahren noch 387,6 Millionen Menschen auf dem Schwarzen Kontinent, so sind es heute rund 1,4 Milliarden; für das Jahr 2100 werden bis zu 3,92 Milliarden prognostiziert. In etwas mehr als 100 Jahren hätte sich die Zahl der Menschen dann verzehnfacht, der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung auf knapp 40 Prozent vervierfacht – freilich ohne dass dieser Anteil der weltweiten Lebensmittelproduktion aus Afrika käme.

Hungersnöte durch Ausbeutung und Misswirtschaft

Daher mag es angebracht scheinen, von einer Überbevölkerung in Afrika zu sprechen. Der ehemalige CEO von „Survival International“, der britische Anthropologe Stephen Corry, hält dagegen: Afrika habe zwar ein hohes Bevölkerungswachstum, aber gemessen an der Bevölkerungsdichte würden in England achtmal so viele Menschen auf einem Quadratkilometer leben. Zudem sei der Pro-Kopf-Konsum in Afrika deutlich geringer als in den westlichen Industrieländern.

Zwar macht er es sich mit seiner Lösung - der „globale Norden“ solle weniger konsumieren und zudem aufhören, die Ressourcen Afrikas auszubeuten – trotz nachvollziehbarer Logik zu einfach. Sein Hinweis, dass die Bilder vom „hungernden Afrika“, die das westliche Verständnis prägen, aus den 1980er-Jahren stammen, als es auf dem Schwarzen Kontinent noch viel weniger Menschen gab und Hungersnöte vor allem auf korrupte Regierungen zurückzuführen waren, gibt jedenfalls zu denken.


Mittlerweile leben über acht Milliarden Menschen auf der Erde und in den nächsten 50 Jahren wird ihre Zahl voraussichtlich auf zehn Milliarden steigen. Vor allem in Afrika und Asien wächst die Bevölkerung rasch an, während Europa nach wie vor mit einer niedrigen Geburtenrate zu kämpfen hat. Statt die eigene Kinderzahl zu erhöhen, versuchen viele europäische Regierungen, dies durch Einwanderung auszugleichen. In der neuen FREILICH-Ausgabe zeigen wir, was diese Entwicklung für unsere Zukunft bedeutet.

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Millionen auswanderungswillige Afrikaner

Tatsächlich schreibt die Weltbank in regelmäßigen Berichten, dass die afrikanischen Bauern genügend Nahrungsmittel für den ganzen Kontinent produzieren könnten. Die Verteilung innerhalb des Kontinents scheitert jedoch an Handelsbarrieren und hohen Transportkosten, die auf den Einfluss krimineller Kartelle zurückzuführen sind. Zudem würden vor allem lukrative Exportgüter angebaut – mit der Folge, dass Grundnahrungsmittel in Milliardenhöhe importiert werden müssen, statt sie selbst anzubauen, wie auch die Deutsche Welle hinterfragt.

Doch auch diese Hinweise können nicht über den großen Bevölkerungsüberschuss hinwegtäuschen, der auf Auswanderung drängt. Wie FREILICH bereits 2018 berichtete, können sich laut einer Umfrage in sechs Ländern südlich der Sahara bis zu 110 Millionen Menschen vorstellen, ihre Heimat zu verlassen. Besonders hoch war die Quote in Nigeria und Ghana mit 74 beziehungsweise 75 Prozent. Im Senegal hatten sogar 44 Prozent der Befragten konkrete Pläne. Lutz wiederum meint, dass diese Menschen „keine andere Wahl“ hätten, als ihre Heimat zu verlassen und plädiert dafür, die „zirkuläre Migration“ auf dem globalen Arbeitsmarkt zu optimieren, statt sie zu begrenzen.

Fertilität und globales Humankapital

Für die Verfechter der Masseneinwanderung klingt das Überangebot migrationswilliger Menschen aus der Dritten Welt wie die Lösung aller demografischen Probleme Europas – die sozialen Verwerfungen werden dabei geflissentlich ausgeblendet. Hier liegen auch die Wunschdestinationen, teils wegen der Verheißung von Wohlstand mit Geldtransfers in die Heimat, teils weil sie durch frühere Migrationswellen familiäre Bindungen auf unserem Kontinent haben. Meist verlassen auch keine „Raketenwissenschaftler“ ihre Heimat, sondern ungelernte junge Männer, die ihrem Land dann für den Aufbau fehlen, aber Konflikte und Mentalitäten aus der Heimat mitbringen, die eine Integration erschweren.

Vor fünf Jahren schlug auch Raul Mateus Paula, EU-Botschafter in Niger – damals mit 7,18 Kindern pro Frau das souveräne Land mit der höchsten Fertilitätsrate – Alarm. Er sprach von einer „tickenden Zeitbombe“, wohl auch vor dem Hintergrund, dass damals neun der zehn Länder mit der höchsten Fertilität in Afrika lagen. Aus Sicht der Neo-Malthusianer durchaus logisch: Es wird eine Überbevölkerung als Entwicklungshemmnis ausgemacht - statt umgekehrt davon auszugehen, dass „Hilfe vor Ort“ die Familien im Durchschnitt organisch verkleinert und damit das Bevölkerungswachstum linearer wird beziehungsweise sich einem stabilen Niveau annähert.

Kenia und die Wachstumsfrage

Selbst in einigen afrikanischen Ländern sind die Geburtenraten rückläufig. In Kenia beispielsweise ist sie seit 1990 von 5,65 auf 3,34 Kinder pro Frau gesunken. In Südafrika, das als Schwellenland gilt, liegt sie mit 2,37 Kindern nur knapp über dem Weltdurchschnitt (2,32 Kinder). In Mauritius liegt sie bereits auf westlichem Niveau und damit deutlich unter dem Ersatzniveau. Ob diese Raten infolge wachsenden Wohlstands sanken oder letzteren nach Malthus‘ These erst bedingten, ist in der Analyse letztlich eine Frage nach Henne und Ei – nicht jedoch in der Frage nach der Bewältigung.

Kombiniert mit einer kapitalistischen Wachstumslogik, dass mehr Produktivität automatisch mehr Wohlstand bringe, wird das Problem nämlich unauflösbar. So stand zwar der Rückgang in Kenia sicher in Zusammenhang mit dem Umstand, dass es in den 10er-Jahren zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften Afrikas gehörte (2010-18: 5,9 Prozent pro Jahr). Gegen Elend half dies allein aber nicht: Drei der zehn größten afrikanischen Slums befinden sich in Kenia. In Sub-Sahara-Afrika lebt mehr als die Hälfte der städtischen Bevölkerung in Elendsvierteln. Auch in Schwellenländern außerhalb Afrikas, etwa in Indien oder Brasilien, sind Slums allgegenwärtig.

Es scheinen sich also bei der Entwicklung im globalen Süden die Beobachtung aus dem Europa des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu wiederholen: Der allgemeine Wohlstand wächst auf Kosten der Geburtenrate, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich ebenfalls, der Markt allein kann die Diskrepanz nicht regeln. Es stellt sich also die Frage: Ist eine Postwachstumsökonomie jenseits von Malthus UND jenseits der kapitalistischen Marktlogik denkbar? Der Idealfall wäre schließlich ein Afrika, das sich selbst erhält, ohne einen auswanderungswilligen Menschenüberschuss zu produzieren und ohne die westliche neoliberale Konsumfalle zu wiederholen.

Die Lehren aus dem „Fall Nauru“

Zuletzt treten mit wachsendem Wohlstand zwei paradox anmutende Phänomene auf: Durch die steigende Lebenserwartung kann eine Bevölkerung wachsen, obwohl die Geburtenrate sinkt – neben der Zuwanderung ein zweiter Grund, warum die westlichen Länder trotz jahrzehntelang niedriger Geburtenraten weiter wachsen: Auch die Sterberate ist eingebrochen. Hinzu kommt, dass mit dem rasanten Fortschritt auch Zivilisationskrankheiten auftauchen, die sich hartnäckig halten.

Der kleine ozeanische Inselstaat Nauru kam durch den Phosphatabbau zu schnellem Reichtum; nach dessen Krise schwand der Wohlstand, die weltweite Spitzenposition bei Tabak- und Alkoholkonsum sowie Diabetes blieb. Der stärkste Einbruch der Geburtenrate – von knapp 5,3 auf unter vier Kinder pro Frau - fand dort aber ausgerechnet zwischen 1965 und 1977 statt, also auf dem Höhepunkt des Phosphatabbaus. Heute liegt sie im „Ex-Schwellenland“ übrigens bei 3,42 Kindern pro Frau.

Über den Autor
Julian Schernthaner

Julian Schernthaner

Der studierte Sprachwissenschafter wurde 1988 in Innsbruck geboren und lebte sieben Jahre in Großbritannien. Vor kurzem verlegte er seinen Lebensmittelpunkt ins malerische Innviertel, dessen Hügel, Wiesen und Wälder er gerne bewandert.

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