Freilich #36: Ausgebremst!

Krieg auf Raten: Der russische Etat als fiskalische Fortsetzung der Front

Nicht im Mystischen, sondern im Fiskalischen entscheidet sich, wie lange der Krieg zwischen Russland und der Ukraine noch geführt wird. Ilia Ryvkin liest deshalb den russischen Staatshaushalt – und findet darin eine nüchterne Kriegserklärung für die kommenden Jahre.

Kommentar von
14.12.2025
/
5 Minuten Lesezeit

Wenn den Ukrainern etwas eigen ist, dann ihre Neigung zum Mystischen. Unholde und Wiedergänger, Teufelsbeschwörungen und nächtliche Weihnachtswahrsagereien kennt man aus den Geschichten des großen Romantikers Gogol, der genau aus diesem Landstrich stammt.

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In unseren Tagen ist dieser Hang aus seinem Totenschlaf erwacht und hat mit leiser Unausweichlichkeit selbst die politische Bühne ergriffen. Der frühere Mitarbeiter des Kiewer Präsidialamts, Alexej Arestowytsch, bemerkte kürzlich in einem Interview, in der jüngeren Geschichte der Ukraine habe es keinen Staatschef gegeben, der ohne Hofzauberer ausgekommen sei, und das ist kein Scherz.

Bei der Razzia gegen den bis über beide Ohren in Korruptionsaffären verstrickten Chef des Kiewer Präsidialamts, Andrij Jermak, entdeckten die Fahnder ein Arsenal, das eher zu einem Staatsmann in Haiti gepasst hätte: eine Voodoo-Puppe, zahlreiche Spiegel, Ritualgerät sowie eine Auswahl obskurer Bildnisse und Armbänder. Auch die Art des Wirtschaftens und die politische Kultur der Kiewer Clique sind genau das, was man heute von einem Land erwarten darf, das sich als Speerspitze des Europäertums inszeniert. Inmitten der ganzen Neu-Europäermassen wirkt das inzwischen fast schon normgerecht. Da überrascht es kaum noch, dass in ukrainischen Fernsehsendungen Wahrsagerinnen auftreten, die auf ihren Tarotkarten den weiteren Verlauf des Krieges ablesen, während der Oberrabbiner der Stadt Dnipro mithilfe der Kabbala das Datum des Kriegsendes auf Mitte Januar des kommenden Jahres festlegt.

Der Etat als ehrlichste Form politischer Sprache

Ich lese keinen Kaffeesatz. Für einen Blick auf das Kriegsjahr 2026 schaue ich in die Spalten und Summen des russischen Etats für das kommende Jahr, als könnten sie verraten, ob der Kreml weitermacht oder stoppt. Haushalte sind die ehrlichste Form politischer Rede. In Fernsehen und Tweets betont jede Regierung Frieden und Wohlstand, im Etat zeigt sich, was sie wirklich priorisiert.

Zuerst das, was sich nicht wegdiskutieren lässt. Rund 30 Prozent der Ausgaben, nämlich 12,93 Billionen Rubel, das sind etwa 145 Milliarden Euro, fließen in die „nationale Verteidigung“. Rechnet man „nationale Sicherheit und Rechtsschutz“ hinzu, also Polizei, Geheimdienste, die Nationalgarde und den gesamten Strafvollzug, kommen noch einmal gut 44 Milliarden Euro dazu. Insgesamt landen so knapp 190 Milliarden Euro bei Militär und Sicherheitsapparat, fast 40 Prozent des gesamten Staatshaushalts.

Die nackten Zahlen des Haushalts

Die russische Kriegskasse überragt die der Ukraine um Längen. Moskau gibt rund das Dreifache dessen aus, was Kiew 2026 in Armee und Sicherheit steckt. Die Ukrainer werfen fast 60 Prozent ihres Budgets in den militärisch-polizeilichen Komplex, 2,8 Billionen Hrywnja, etwa 65 Milliarden Euro. Aber dieser Etat hängt komplett am Tropf. Rund 45 bis 50 Milliarden Dollar „internationale Hilfe“ von EU, IWF und USA sollen das Loch stopfen. Reißt dieser Zufluss ab, und angesichts der Lage an der Front und der Daueraffären um Korruption in Kiew ist das kein abwegiges Szenario, wird sich der ukrainische Militäretat zusammenschnüren.

Der russische Haushalt 2026 ist keine sauber geführte Bilanz einer Entgleisung, sondern kühl durchgerechnet. Das Defizit hält sich mit gut anderthalb bis zwei Prozent des BIP im Rahmen, der gesamte Rest wird konsequent um die militärischen Posten herumgruppiert. Das ist kein Friedensetat mit ein paar Tarnfleckzugaben, sondern das Zahlenwerk einer laufenden Großoffensive. Selbst die Sozialpolitik ist längst ans Militär angebunden: Zulagen für Veteranen, Renten für Hinterbliebene, Programme für Verwundete, Versorgung derer, die das System an der Front verheizt. Und die Wirtschaftsförderung? Sie baut Straßen, Leitungen und Industrie in den „neuen Regionen“, im Donbass und in Neurussland aus. Kurz gesagt: Der Haushalt ist die Verlängerung der Frontlinie mit fiskalischen Mitteln.

Die drei Säulen der Kriegsfinanzierung

Die Finanzierungsbasis lässt sich auf drei Worte bringen: Rohstoffe, Steuern, Staatsanleihen. Erstens: Öl und Gas spülen weiter Billionen Rubel in den Kreml, dank umgeleiteter Ströme nach China, Indien, die Türkei und allerlei graue Zwischenhändler. Dazu kommt ein politisch gewollt schwacher Rubel. Am besten sieht man das am Big-Mac-Index. In Russland kostet ein Big Mac umgerechnet rund 2,20 Dollar, in den USA etwa 5,70 Dollar. Nach der Logik der Kaufkraftparität müsste der Rubel also nicht bei etwa 85 pro Dollar stehen, sondern eher bei 35. Mit anderen Worten: Die russische Währung ist aus Burgersicht grob 60 Prozent zu billig. Russland verkauft seine Rohstoffe mit Rabatt, aber ein weicher Rubel und hohe Exportmengen spülen weiter Geld in die Kasse.

Zweitens: Im Inneren wird abgegriffen, was geht. Die Mehrwertsteuer klettert von 20 auf 22 Prozent, die progressive Einkommensteuer wird nachgezogen, große Konzerne werden über Sonderabgaben und Dividendenvorgaben zur Kasse gebeten. Wer nicht an die Front geht, zahlt eben an der Kasse. Offiziell steigen die Einkommen. Die Regierung rechnet mit sechs bis acht Prozent Plus im Jahr und schreibt daneben brav vier Prozent Inflation ins Formular. Auf dem Papier sieht das nach realen Zuwächsen aus. In Wirklichkeit, so der Ökonom Michail Deljagin, bildet diese Zahl die tatsächliche Verteuerung des Lebens nicht ab, viele Löhne bleiben sogar unter der realen Teuerung. Zumindest ist vorerst nicht mit einem offenen sozialen Flächenbrand zu rechnen. Der Staat kauft sich Ruhe mit Zuschlägen für ausgewählte Gruppen und einem aufgeblähten Sicherheitsapparat. Das Ergebnis ist kein Aufstand, sondern eine schleichende Verarmung, ohne dass es laut knallt.

Drittens: Der Staat greift in die eigene Tasche. Er leiht sich im Inland über Rubel-Anleihen, die Banken, Fonds und Pensionskassen faktisch abnehmen müssen, und nutzt, wo nötig, die verbliebenen Reserven. Rein rechnerisch ließe sich damit ein Defizit von drei bis vier Billionen Rubel noch zwei, vielleicht drei Jahre stopfen; in Moskau ist man aber klug genug, den Sparstrumpf nur dosiert anzuzapfen.

Ein System auf Zähigkeit gebaut

Dieses Gebilde kann einstürzen, aber nicht von selbst. Dazu bräuchte es eine militärische Niederlage, und die ist, wenn man sich den Verlauf der Front anschaut, schlicht nicht in Sicht. Selbst wenn die Einnahmen bei einem Ölpreissturz und harten Exportblockaden durch Sekundärsanktionen gegen Reeder und Banken bei gleichzeitiger innerer Erschöpfung einbrechen, bleibt das System auf absehbare Zeit stabil, weil es auf Zähigkeit und nicht auf Wohlstand gebaut ist.

Und die Sanktionen? Sie wirken, aber anders, als es im Westen erwartet wurde. Sie agieren nicht wie ein Sprengsatz, sondern wie Rost. Das Volk wird ärmer, das Land technisch abhängiger. Hightech-Branchen bröckeln, Ersatzteile kommen über Umwege, die Monate dauern, und sind teurer. Die Gewinnmargen beim Öl schrumpfen, dafür kassieren Zwischenhändler mit, und Moskau rutscht immer tiefer in die Rolle eines Rohstoffanhängsels Chinas. Nur eines schaffen die Sanktionen nicht: dem Staat die Fähigkeit zu nehmen, eine lange militärische Auseinandersetzung zu finanzieren. Die Wirtschaft bewegt sich knapp über der Nulllinie, aber sie bewegt sich fast nur noch um die Kriegsmaschine herum.

Der Dauerzustand Front

Der Haushalt 2026 ist fiskalisch solide, politisch brutal, eine Kriegserklärung auf Raten. Sein Ergebnis ist kein Boom, aber auch kein Ruin, sondern etwas Drittes: eine militarisierte Stagnation. Die Wirtschaft bewegt sich knapp über der Nulllinie, aber sie kreist fast nur noch um die Kriegsmaschine. Der Westen blickt gern auf Moskau wie auf eine Festung, die irgendwann stürzt. Realistischer ist es, Russland als riesigen Bunker zu sehen, ein Land, das sich langsam im eigenen Stahl und Beton einmauert.

2026 wird für Russland kein Jahr des Krieges und kein Jahr des Friedens. Es wird ein Jahr der gewohnheitsmäßigen Front. Die Front verläuft nicht nur durch die Steppe im Donbass, sondern durch jede Steuererhöhung, jede Militärrente, jedes neue Zudrehen der Schrauben. Je länger dieser Zustand anhält, desto weniger wird es irgendwann eine klare Linie geben zwischen „Krieg“ und „Frieden“, weder in Russland noch im Westen. Vielleicht geschieht ein Wunder, aber nicht in einer Welt, die sich in Tabellen und Haushaltszahlen erklärt.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der Freilich-Redaktion.
Über den Autor

Ilia Ryvkin

Ilia Ryvkin Jahrgang 1974, wurde im russischen Petrosawodsk geboren und lebt derzeit in Berlin. Als Journalist und Dramaturg erhielt er zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien. Ryvkin ist als Korrespondent für Osteuropa und Zentralasien tätig.

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