Multipolare Weltordnung: Nur eine Chiffre für Moskau und Peking?

Immer mehr rechte Akteure sprechen von einer sogenannten multipolaren Weltordnung. Während Linke und Liberale darin eher ein Codewort für eine Anlehnung an Russland und China sehen, geht die eigentliche Bedeutung viel tiefer. Multipolarität ist eher eine Idee und Prinzip als ein konkretes System.

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Multipolare Weltordnung: Nur eine Chiffre für Moskau und Peking?

Der indische Premierminister Modi und der chinesische Staatspräsident Xi Jinping

© IMAGO / agefotostock

„Multipolarität ist eben nicht [...] eine Chiffre für den Austausch des amerikanischen Hegemons gegen den russischen oder chinesischen, sondern Ausdruck eigener Souveränität.“ – So beschreibt der FREILICH-Autor und AfD-Kandidat für die Europawahl 2024, Tomasz M. Froelich, das Stichwort „multipolare Weltordnung“ in einem Interview mit FREILICH. Der Begriff taucht immer häufiger auf und wird dabei unterschiedlich interpretiert. Schaut man sich Google Trends an, ein Tool, das die Popularität von Sucheinträgen auf Google überprüft, kann man die zunehmende Brisanz indirekt nachvollziehen – seit Anfang 2023 suchen immer mehr Menschen auf der beliebten Suchplattform nach dem Begriff. Doch was ist das eigentlich? Verbirgt sich dahinter wirklich nur ein Geheimcode für eine Anspielung auf den Osten?

Der Begriff stammt aus der Politikwissenschaft und beschreibt die globale Machtverteilung und die Beziehungen zwischen den Staaten auf einer globalen Ebene. Neben der Multipolarität gibt es weitere Ordnungsvorstellungen wie die unipolare und die bipolare Ordnung. Unter einer unipolaren Weltordnung wird verstanden, dass die zwischenstaatlichen und globalen Beziehungen von einem dominanten Staat dominiert werden – heute werden dafür häufig die USA genannt, im 19. Jahrhundert lässt sich auf das Vereinigte Königreich mit seinem weltumspannenden Kolonialreich verweisen. In der Politikwissenschaft wird davon ausgegangen, dass dieser Zustand zu starken internationalen Spannungen führt, da sich Regionalmächte häufig gegen die Supermacht auflehnen und verbünden.

Verschiedene Ordnungsvorstellungen

Die bipolare Machtverteilung besagt, dass zwei Staaten die Beziehungen aller Staaten zueinander dominieren. Dies wurde beispielsweise für die Weltordnung zu Zeiten des Kalten Krieges angenommen und beschrieb das Verhältnis zwischen den USA und der Sowjetunion. In einem multipolaren Weltbild ist die Machtverteilung ausgeglichen: Die Staaten stehen in einem gleichberechtigten Verhältnis zueinander. Kein Staat übt eine Dominanz über andere aus. Die Politikwissenschaft bestimmt dieses Verhältnis durch die zwischen den Staaten bestehenden Abhängigkeiten. Konkret für das 21. Jahrhundert bedeutet Multipolarität also das Ende der weltbeherrschenden Stellung der USA als einziger Supermacht, die seit dem Niedergang der Sowjetunion und dem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) ihre Dominanz immer weiter ausbauen konnte.


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Als treibende Kraft der sich herausbildenden multipolaren Ordnung gilt Beobachtern der Aufstieg der Volksrepublik China und Indiens, die als bevölkerungsreichste Nationen in den letzten Jahrzehnten auf verschiedenen Ebenen zu den führenden Mächten wie den USA und der Europäischen Union aufschließen konnten. Dabei wird vor allem auf die wirtschaftliche und militärische Stärke als Indikator für das Entstehen einer multipolaren Weltordnung verwiesen. China und Indien haben noch lange nicht das militärische Potenzial der Führungsmacht USA erreicht, holen aber auf. Ökonomische und militärische Macht sind die Voraussetzungen für Multipolarität schlechthin, da die einzelnen Mächte ihren jeweiligen „Großraum“ (Carl Schmitt) beherrschen und im Ernstfall verteidigen müssen. Diese Großräume entsprechen häufig historischen und kontinentalen Abgrenzungen, wie zum Beispiel der Großraum Amerika mit seinen beiden Kontinenten, der heute weitgehend von den USA dominiert wird.


Die globale Vormachtstellung der USA bröckelt und Staaten wie China und Russland fordern die Weltmacht zunehmend heraus. Erleben wir die Entstehung einer „multipolaren“ Welt mit mehreren Weltmächten? In der FREILICH-Ausgabe werfen wir einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen und klären, wie sich Europa positionieren sollte.

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Kommt die multipolare Weltordnung ...

Westliche Experten stoßen sich häufig an den Begriffen Multipolarität und multipolare Weltordnung. Im Jahr 2015 veröffentlichte die Bundesakademie für Sicherheitspolitik, eine Fortbildungseinrichtung und Denkfabrik der Bundesregierung für außen- und geopolitische Fragen, ein Arbeitspapier mit dem Titel „Die Mär von der multipolaren Weltordnung“. Darin wird Multipolarität als „Modewort“ bezeichnet und der Begriff mit Instabilität und Krisenanfälligkeit in Verbindung gebracht. Die Argumentation folgt dabei folgenden Punkten: Ohne einen globalen Hegemon sei Konfliktprävention unmöglich, so dass eine chaotische weltpolitische Situation die Folge sei. Der Autor Matthias Kennert stellt klar: „Entgegen der weit verbreiteten Ansicht vieler Beobachter und Experten muss die Welt im 21. Jahrhundert nicht unbedingt multipolar sein. Und: Auch wenn eine multipolare Welt gerechter erscheint, ist sie nicht unbedingt friedlicher und sicherer.“

Dass es sich dabei aber um eine tatsächlich zu beobachtende globale Entwicklung handelt, lässt sich an den Äußerungen offizieller Vertreter und unabhängiger Experten in den letzten Jahren ablesen. „Die Welt wird multipolar werden“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Scholz wandte sich damit gegen Behauptungen, es werde eine neue bipolare Weltordnung geben. „Die wird nicht, wie das immer diskutiert wird, nach dem großen Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion, der den Kalten Krieg geprägt hat, überdriften in eine Welt, die einen großen Konflikt hat zwischen den USA und China. Sondern es wird viele mächtige Nationen geben – auch in Asien – Korea, Japan, Vietnam, Indonesien, Malaysia, Thailand, Indien“. Doch die Meinungen gehen auseinander: Professor Thomas Jäger, Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln, widerspricht im Focus der Position der Bundesregierung. Er gehe vielmehr von einer „doppelt gebrochenen bipolaren Weltordnung“ um die Führungsmächte USA und China aus, so Jäger.

... oder ist sie schon da?

China und Russland stehen trotz unterschiedlicher Interpretationen im Fokus der Politiker und Experten. Worüber sich aber alle einig sind, ist das Ende der unipolaren Weltordnung. „Unipolar war gestern“, heißt es in der zweimonatlich erscheinenden politischen Zeitschrift iz3w. Das Narrativ ist immer dasselbe: Mächte wie China, Russland, Indien und Brasilien unterminieren zunehmend die Weltmacht USA. Der Krieg in der Ukraine seit Februar 2022 hat nun möglicherweise die multipolare Weltordnung besiegelt, da Russland mit seiner Invasion die bisherigen Regeln der Weltpolitik kommentarlos und unwiderruflich vom Tisch gefegt hat. Eine Moderation des Konflikts seit 2014 war bis dahin nicht möglich gewesen, so dass man sich im Kreml zum Krieg entschloss.

Die Bewertung dieser Entwicklung fällt, wie bereits erwähnt, sehr unterschiedlich aus. Während vor allem Transatlantiker aus systemischen Gründen, da sie letztlich Anhänger einer weiterhin von den USA dominierten Weltordnung sind, die Multipolarisierung der Welt ablehnen, begrüßen ausländische Experten, vor allem in den bereits genannten Ländern wie China oder Brasilien, aus nachvollziehbaren Gründen die zu beobachtende Entwicklung. Rechte Politiker, vor allem in der AfD, stellen sich meist hinter die multipolare Weltordnung, die sie für stabiler halten als uni- und bipolare Weltordnungen. So skizzierte der Publizist Dimitrios Kisoudis in seinem Essay Mitteleuropa und Multipolarität ein von Deutschland dominiertes Großeuropa.

➡️ Mitteleuropa und Multipolarität*

Wie eine multipolare Ordnung aussehen könnte

Kisoudis hat hier eine mögliche Formulierung für einen Teil der multipolaren Ordnung geliefert. Doch wie könnte sie darüber hinaus aussehen? Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Charles Kupchan ist sich sicher, dass es sich – anders als im 20. Jahrhundert – eher um eine Welt handeln wird, die nicht von ideologischen Konfliktlinien dominiert wird. Als Beispiel nennt er Staaten wie Indien, Brasilien oder Indonesien, die durchaus pragmatisch zwischen möglicherweise ideologischen Polen hin und her springen könnten, um ihre eigene Position zu verbessern. Feste Blockallianzen wie im Konflikt zwischen der Sowjetunion und der NATO werden somit unwahrscheinlicher. Darüber hinaus erwartet er mehr informelle Gruppen zwischen den jeweiligen Groß- und Regionalmächten im Großraum, aber auch zwischen diesen, die untereinander Beziehungen pflegen und Konflikte vermeiden.

Das Fazit ist also eindeutig: Die multipolare Weltordnung verfestigt sich. In ihren Grundzügen ist sie bereits erkennbar: China als führende Großmacht neben den USA wird voraussichtlich einer der mächtigen Pole sein, um den sich weitere Mächte gruppieren werden. Dies ist keineswegs nur eine Chiffre für die Auslieferung Deutschlands und Österreichs an fremde Mächte. Auch wenn es noch an konkreten aktuellen Theorien fehlt, die Multipolarität tiefergehend erklären, scheinen sich doch einige Begriffe als Leitplanken herauszukristallisieren: Souveränität, Diplomatie, Unabhängigkeit. Die Vorherrschaft der USA wird wohl zu Ende gehen müssen. Dies wird inzwischen auch von immer mehr westlichen Experten akzeptiert – ob dies Europa nützt oder schadet, wird die Zukunft zeigen.


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Über den Autor

Bruno Wolters

Bruno Wolters wurde 1994 in Deutschland geboren und studierte Philosophie und Geschichte in Norddeutschland. Seit 2022 ist Wolters Redakteur bei Freilich. Seine Interessengebiete sind Ideengeschichte und politische Philosophie.

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